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1. Kapitel Wer nichts riskiert, verliert

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Wie ein gerupftes Huhn

Meine Urgroßmutter erschrak, als sie mich sah: „Wie ein gerupftes Huhn! Du meine Güte.“ Es lag Schnee, als ich am 1. November 1966 um 6:35 Uhr zur Welt kam. Ich wog knapp 2500 Gramm.

Mickrig und schreiend begann damit mein „Jetzt erst recht!“. Wenn nichts gelingt und jeder zweifelt, erwacht in mir der Löwe, schüttelt sich und trabt los. So war ich schon als kleiner Junge, als mir die lederne Brottasche um Hals und Brust hing und ich zum Kindergarten stiefelte und mich dort behaupten musste. Als junger Einzelläufer und später im Paarlauf lief ich verbissen und ehrgeizig bis zum letzten Ton der Kür, auch wenn ich mal etwas verpatzte oder meine Partnerin einen Sprung nicht stand.

Ahne ich heute, wie die Musik der nächsten Choreografie klingen könnte, stöbere ich stunden-, tage-, ja wochenlang in jeder freien Minute in CDs und Plattenläden, bis mir eine ganz bestimmte Musik in die Seele fällt. Der Klang muss mich berühren; erst dann verbinden sich Läufe und Sprünge, Pirouetten und andere Elemente zu einem ersten Bild. Aus ihm entsteht in mir eine Geschichte, die ich auf dem Eis erzählen möchte.

Wenn ein Element auf dem Eis so einfach erscheint und doch nicht gelingen will, grüble ich so lange, bis ich weiß warum. Gerate ich in Konflikte, versuche ich mich zu positionieren und den Streit zu klären. Ich gebe nicht gern auf. Im Laufe meines bisherigen Lebens, als Eiskunstläufer und Trainer, zog mich diese Haltung mehr als einmal aus dem Schlamassel.

Das Eis gehört zu mir, wie meine Haut und meine Haare. Nicht in die Schlittschuhe schlüpfen, die Bänder festziehen und aufs Eis gehen? Nicht laufen, trainieren und ausprobieren? Unvorstellbar. Dieses Parkett aus gefrorenem Wasser ist mir sicherer als jeder andere Boden. Nie bin ich unsicher auf dem Eis, anderswo schon. Merkwürdig? Aber nein! Ganz einfach zu verstehen, denn nichts und niemand hat mich jemals mehr in seinen Bann gezogen als diese 1800 Quadratmeter spiegelglatter Fläche. Egal, ob Wochen- oder Feiertag, ich bin dem Eis verbunden. Das Eis ist und bleibt die Droge, nach der ich süchtig bin. Manchmal fühlt es sich etwas härter und glatter an, ein andermal erscheint es rauer oder stumpfer, aber das spielt keine Rolle. Niemals wirkt sich die Qualität des Eises auf das aus, was wir auf dem Eis veranstalten. Sobald ich darauf laufe, nehme ich Tuchfühlung auf und bin ganz bei mir.

Es gibt auch Tage, da graut es mir davor, in die Halle zu gehen. Im Kopf läuft der Film vom letzten Training und ich denke „Oh Gott, wenn alles wieder so nervig und anstrengend wie gestern wird!“. Und dann gelingt jede Trainingseinheit in völliger Harmonie.

Es gibt Trainingsstunden, in denen ich nicht hochmotiviert bei der Sache bin. Ein kleiner Fehler und ich reagiere lauter oder unwirscher als nötig; meine Gedanken laufen mir davon, entwischen aus der Halle.

Möglicherweise signalisieren sie mir damit „Mach mal Pause, halt ein wenig mehr Abstand!“.

Doch jeder Tag ist anders und am nächsten Morgen zieht es mich förmlich in die Halle. Wieder stellt sich die Gewissheit ein: Ich will immer nur diesen Job machen, keinen anderen. Immer Trainer sein.

Ohne die Eisfläche fühle ich mich unvollständig, wie ein halber Mensch. Das kann auch gefährlich sein, denn hin und wieder braucht jeder Luft zwischen sich und seiner Berufung, sonst frisst sie ihn auf. Das fällt mir schwer, sehr schwer, und manchmal erschreckt es mich. Aber weil sich im Eiskunstlauf nur so Erfolg einstellt, muss ich mich immer vom Scheitel bis zur Sohle hingeben, ich kann nicht anders.

Ist das verrückt oder ganz normal? Ich glaube, beides. Und so gerät eben alles wieder ins Gleichgewicht. Langweilig wird‘s nie.

Ich muss nicht alles haben


Ich erinnere mich, wie mein Bruder und ich als Stepkes, mit unseren Eltern in manchen Sommerwochen in unser Gartenhäuschen umzogen. Auf einem geliehenen Handwagen befanden sich Sofa und Kühlschrank und dann ging es ab ins Grüne. Mein Bruder und ich tobten durch den Wald und winkten am nahegelegenen Bahndamm den vorbeifahrenden Zügen nebst Lokführern zu. Bewegung schrieben wir vier Steuers alle groß.

Bald sollte ich unbewusst auch lernen zu verzichten. Ferienlager? Nach der Schule mit den anderen Kindern im Hof spielen, bis es dunkelt und die Mütter ihre Sprösslinge zum Essen rufen? So sahen meine Nachmittage nicht aus. Meine Kindheit fand auf dem Eis statt. Statt in Ferienlager fuhr ich in Trainingslager; ganz selbstverständlich ordnete sich von frühester Kindheit an dem Sport alles unter. Entstand daraus ein Schmalspurdenken zwischen Bande und Bande? Oder ein Leben im Tunnel, im Eiskunstlauftunnel? Gut möglich, dass der eine oder andere Traum eingefroren unterm Dach in der kalten Eishalle hängt. Er wartet auf mich, während ich meine Choreografien schreibe und die Sportler trainiere. Doch fragt man mich, was ich vermisst habe, dann fällt mir nicht viel ein. Bestimmt hätte ich anderen Sehnsüchten nachgegeben, wenn sie so groß gewesen wären. Das Eiskunstlaufen hatte mich schon lange in Besitz genommen. Ehrgeizig, fast zwanghaft, versagte ich mir alles, was dem nicht diente. Es war selbstverständlich für mich, nach der Schule zur Eishalle zu radeln und zwei, später drei oder vier Stunden zu trainieren. Die Eismaschine kroch übers Eis, Musik vermischte sich mit den Übungsanweisungen und zwischendurch gab es heißen Tee aus Thermoskannen.

Ab meinem 9. Lebensjahr besuchte ich die Sportschule und das Training wurde intensiver und umfassender. Bis heute unterwerfe ich mich deshalb stoischer Disziplin und klaren Regeln: 6:30 Aufstehen! Laufen gehen! Athletiktraining! Abends eine Stunde Training auf dem Eis für mich allein ... um nur einiges zu nennen.

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi markieren eine Wende. Acht Jahre lang, zwischen 2006 und 2014, visierten wir ein großes Ziel an – Olympisches Gold! Ich bin gespannt, wie es im Februar 2014 ausgeht. Danach beginnt für mich ein neuer Lebensabschnitt. Mal schauen, was passiert und welchen Menschen ich über den Weg laufen werde. Viele Jahre steuerte ich, ohne nach links und rechts zu schauen, auf meine Ziele zu. Immer zu schnell, dabei mir irgendetwas zu versagen. Das bleibt eine meiner Herausforderungen, mir etwas zu gönnen, was außerhalb meines „Trainingsplanes“ steht. „Loslassen“ sagt man wohl dazu – gut, ich bin lernfähig. Wenn nichts schiefgeht, bleibt mir ja noch ein halbes Leben Zeit dafür.

So wie mir ergeht es den meisten Leistungssportlern. Irgendwann muss sich jeder für „ganz“ oder „gar nicht“ entscheiden. Ein gesunder Mix von Konzentration auf der einen und gelassenem Genießen auf der anderen Seite, das wäre der Idealzustand. Leider gibt es hier kein Gleichgewicht, immer läuft es darauf hinaus, es zu tun oder zu lassen.

Haben Sie schon einmal auf der Eisfläche gestanden? Oder zumindest eine Eishalle von innen gesehen? Herrlich kühl zu jeder Jahreszeit! Weißes Licht macht die Halle hell. Von irgendwoher schwirrt Musik. Jedenfalls war es um mich geschehen, als mich als fünfjähriger Junge beim ersten Training die frische Hallenluft umwehte. Dazu das Größenverhältnis: die Halle – ein Riese – und ich – ein Zwerg – und wir sagten „Hallo“ zueinander. In der Umkleidekabine roch es nach Trainingszeug und alten Kniften. Der gräbt sich ein, dieser Duft. Mir Winzling half meine Mutter in die Schlittschuhe hinein und wenige Minuten später kratzten meine Kufen ihre Spuren ins Eis. Trainer warfen ihre Worte in die Eisluft. Das war meine erste große Liebe, die intensivste, die lebenslang halten sollte. Ich konnte bis heute nie wieder loslassen.

Im Frühling 2012 habe ich hier in Chemnitz mit einigen Franzosen gearbeitet. Knapp zwei Monate lang waren wir zusammen auf dem Eis. Sie hatten sich vorgenommen, hart zu trainieren und wollten jede Stunde nutzen, um meinen Anleitungen und Ideen zu folgen. Ihre Mentalität faszinierte mich; diese Art, die Dinge gleichzeitig ganz genau und trotzdem gelassen, ja immer auch heiter zu nehmen. In dieser Hinsicht wäre ich gern etwas „französischer“. Aber, wie gesagt, ich arbeite daran. Die Leichtigkeit der Franzosen hat sich allerdings auch auf ihr Zahlungsverhalten ausgewirkt; das vereinbarte Honorar ging bestimmt bei Baguettes, Rotwein und fröhlichem Beisammensein ganz einfach unter. Ich kann geduldig sein und weiß immer, dass das Leben die Dinge geraderücken wird.


Eiszeiten

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