Читать книгу Vermessene Zeit - Ingrid Strobl - Страница 12
5
ОглавлениеDas neue Jahr hat begonnen, die Situation normalisiert sich allmählich in der Abnormität der Isolationshaft. Hartmut Wächtler, mein Münchener Anwalt, hat mich wie versprochen wieder besucht. Er erzählte mir, dass meine Eltern endlich eine Besuchserlaubnis bekommen haben, und er sich nun darum bemüht, dass dieser Besuch nicht, wie bei politischen Gefangenen vorgeschrieben, hinter der Trennscheibe in Stadelheim stattfinden muss. Sondern im normalen Besuchsraum in Neudeck laufen kann.
Edith Lunnebach schreibt mir, dass es bereits eine beeindruckende Solidarität gibt, dass ganz viele Leute wissen wollen, wie es mir geht und was ich brauche, dass die Kölner Stadtrevue meinen »Fall« begleiten wird, dass Pilar aus Madrid sich bei ihr gemeldet hat und mir sagen lässt, sie soll mir von Fifi und Chico ganz herzliche Grüße bestellen. Diesen Satz habe ich dreimal gelesen. Mindestens. »Meine« Spanierinnen …
Ich wollte in Spanien Anarchistinnen interviewen für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand. Ich habe Enzensbergers Der kurze Sommer der Anarchie gelesen, und diese Lektüre hatte mir die Rolle, die die Kommunistische Partei im Spanischen Bürgerkrieg gespielt hatte, nicht gerade sympathisch gemacht. Freundlich ausgedrückt. Pilar Panes Casas, eine Freundin und freie Autorin, die ich als Redakteurin bei Emma betreut hatte, wollte mir dabei helfen. Was heißt helfen. Ich spreche kein Spanisch, ich kenne niemanden in diesem Land, ohne Pilar hätte ich die Kapitel zum Spanischen Bürgerkrieg überhaupt nicht planen können. Sie fand bloß keine Anarchistinnen. Dafür waren zwei Kommunistinnen nach langem Hin und Her – »Was ist das für eine? Warum interessiert die sich ausgerechnet für uns Frauen? Was will die wissen?« – bereit, mit mir zu reden: Fidela Fernandez de Velasca Perez, genannt Fifi und Julia Manzanal, genannt Chico.
Sie haben uns, Pilar und mich, wie Gäste empfangen. Mit Kaffee, Obst, Kuchen – und was zum Verdauen, wie sie es nannten. Sie waren sechzehn gewesen, als sie in den Kampf gegen die Faschisten zogen. Als sie sagten: Wir wollen die Republik verteidigen! Aber nicht, indem wir für die Partisanen kochen und ihre Kleider flicken. Sondern indem wir selbst mit der Waffe in der Hand kämpfen, als Partisanas! Sie hatten allen Geschlechterklischees widersprochen, waren schrecklich mutig gewesen und hatten bitter dafür gebüßt. Mit vielen Jahren im Gefängnis. Einem prekären Leben unter dem Franco-Regime nach der Entlassung. Und Anfeindungen von Nachbarn, die sie als Huren beschimpften.
Bei der ersten Tasse Kaffee und dem ersten Stück Kuchen nahmen sie mich in Augenschein. Stellten Fragen. Nachfragen. Warum ich mich für sie interessiere? Warum ich ein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand schreiben wolle? Wie ich auf sie gekommen sei? Ich antwortete so gewissenhaft ich konnte. Hielt ihren prüfenden Blicken stand. Erklärte ihnen, dass meine Eltern die Nazis gefürchtet und gehasst und mich entsprechend erzogen hatten, dass ich mich schon seit vielen Jahren mit dem Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus beschäftige – und dabei immer auf die gleiche Rollenverteilung stoße, egal, ob im faschistischen Italien und Spanien oder im nationalsozialistischen Deutschland und in den von den Deutschen besetzten Ländern: Immer sind es die Männer, die kämpfen. Während die Frauen die kämpfenden Männer versorgen und bestenfalls noch die illegalen Zeitschriften vertreiben. Dass ich schließlich ein Foto sah, auf dem an drei Galgen zwei Männer und eine Frau hängen. Alle drei in der Uniform der sowjetischen Partisanen. Dass ich mir von dem Moment an sicher war: Es gab auch Frauen, die gegen den Faschismus und die deutsche Besatzung mit der Waffe in der Hand gekämpft haben. Und ich will diese Frauen aus dem Dunkel ans Licht holen. Ihnen die Ehre erweisen.
Schließlich entspannten sie sich. Nicht völlig, aber doch genug, um ins Erzählen zu kommen. Bald freuten sie sich auch ganz offen, dass ich mich für sie, für das, was sie damals getan und gedacht hatten, interessierte. Ich wiederum verwarf mein Klischeebild von einer spanischen Kommunistin der Dreißigerjahre. Und jetzt lassen sie mich grüßen, versichern mich ihrer Solidarität!
Überhaupt passiert gerade viel Gutes. Man hat ein Buch, das mir jemand geschickt hat, durchgelassen: Primo Levis Ist das ein Mensch?. Ich habe den Band beiseitegelegt, diese Kostbarkeit, denn ich bin noch mit den Buddenbrooks beschäftigt. Die habe ich, natürlich, während des Studiums gelesen – als germanistische Pflichtlektüre. Henri IV, überhaupt Heinrich Mann war mir lieber gewesen, damals. Und jetzt lese ich plötzlich diesen Klassiker unter den Klassikern gerne, bin berührt, versinke in der Geschichte. Realitätsflucht?
Und wenn. Was nützt es, diese Kellerisolationsrealität ständig präsent zu haben? Ich habe draußen, in der Freiheit, umgeben von Menschen, auch viel gelesen, bin in andere Welten, andere Jahrhunderte, andere Situationen entschwunden, obwohl ich keinen Grund hatte zu flüchten. Lesen ist ein permanentes Erweitern des Horizonts, des Blicks, der Wahrnehmungsfähigkeit, ein Nähren des Vorstellungsvermögens, der Phantasie, es ist Erweiterung, nicht Flucht. Es kann als Trost dienen, ja, als Zuflucht, auch als Ablenkung, doch bei jedem Zuklappen des Buches ist man wieder in der realen Welt. Ob man will oder nicht. Und doch hat man von Schönheit getrunken, sich mit Bildern gesättigt, den eigenen Schmerz für eine Weile vergessen in der Versenkung in das Leid, das Glück, die Gedanken und Abenteuer der Protagonisten.
Wenn jetzt mehr Bücher ankommen, darf ich auch mehr Dante pro Tag lesen. Als die Knastdirektorin mir die Göttliche Komödie brachte, habe ich den Band ein wenig durchgeblättert, dann auf einer Seite aufgeschlagen und, so wie man ein Orakel sucht, blind mit dem Finger auf eine Stelle getippt. Die Augen geöffnet und gelesen: »Als ich auf halbem Weg stand meines Lebens, fand ich mich einst in einem dunklen Wald.«
Ja, habe ich gedacht. Ich auch. Bin aufgestanden, von der Tür zum Fenster gegangen und zurück, habe versucht, tief durchzuatmen. Habe mich erst einmal nicht getraut, weiterzulesen.
Dann habe ich brav mit dem Anfang des »Inferno« begonnen. Aber ich komme nicht richtig voran. Die Begeisterung ist mir abhandengekommen, die Neugier. Ich lese immer erst auf der linken Seite zwei, drei Zeilen des italienischen Originals. Schaue, wie viel ich davon verstehe. Und lese dann auf der rechten Seite die deutsche Übersetzung. Tue ich mich deshalb so schwer mit der Lektüre? Nein, ich glaube nicht, dass das der Grund ist. Die antiken Protagonisten, denen Dante in der Hölle begegnet, sind mir fremd, ihre Geschichten berühren mich nicht. Vielleicht ist das »Inferno« auch kein passender Stoff für den Knast? Zu vermeintlich nahe und dabei zu weit weg? Für mich scheint es so zu sein. Jetzt gerade zumindest. Vielleicht ändert sich das noch.
Ich habe Edith Lunnebach gebeten, den Leuten, die mir Bücher schicken wollen, zu sagen: Ich wünsche mir Kafka. So viel Kafka wie möglich. Ich mag Kafka. Und was kann man, wenn man sich in einer kafkaesken Situation befindet, besseres tun, als das Original zu lesen?
Wenn ich die Augen schließe, höre ich wieder das Konzert. Das mich immer noch fassungslos macht. Als ich am ersten Weihnachtstag beim Hofgang war, erklang plötzlich Musik. Blasinstrumente. Ein Horn, eine Trompete, ein Saxofon. Ein Fagott? Erst dachte ich, das kommt aus einem Radio, sah hoch zu den Zellen, aber dafür klang es zu fern. »Das ist für dich! Das spielen welche für dich!«, rief eine Frau aus dem Fenster, »Ja!«, riefen andere. »Ruhe!«, brüllten meine Aufseherinnen. Ich versuchte, etwas jenseits der Mauern zu erkennen, aber da waren nur die vier Wände des Gefängnisgebäudes. Und darüber der Himmel.
»Es ist ein Ros entsprungen« spielten sie, die unbekannten Musiker. Musikerinnen? »Stille Nacht, heilige Nacht«. »Sie müssen jetzt hinein«, sagte eine der beiden Aufseherinnen, sie drängten mich Richtung Tor, die Musik wurde übertönt vom Schlüsselklirren, dem Zuschnappen der Tür. Ich weiß noch immer nicht, wer dieses Konzert veranstaltet hat, und ob es wirklich mir galt. Aber es war herzzerreißend schön.
»Besuch, Frau Strobl.« Nein, nicht schon wieder nach Stadelheim! Wer soll mich denn jetzt besuchen? Hartmut war grade da, ich habe keinen Antrag gestellt, für die Eltern ist es noch zu früh. Die Bullen! Das kann nur das BKA sein. »Ich will diesen Besuch nicht«, sage ich. »Warum nicht?«, fragt die Beamtin erstaunt. »Das ist eine Dame von Ihrer Botschaft!«
Wir fahren nicht nach Stadelheim. Die Dame von der österreichischen Botschaft darf mich in Neudeck besuchen. Ohne Trennscheibe. Sie ist sehr höflich. Lässt sich nicht anmerken, was sie davon hält, dass sie eine mutmaßliche Terroristin im Knast fragen muss, ob sie etwas benötigt. Mir wiederum fällt, so überrumpelt, nichts ein. Ich beschreibe ihr kurz die Kellerzelle, sage, dass ich da nicht bleiben möchte. Und dann fällt mir doch noch etwas ganz und gar Existenzielles ein.
»Ich brauche eine Schreibmaschine«, sage ich. »Ich will hier das Buch schreiben, für das ich vor meiner Festnahme recherchiert habe. Für das ich bereits einen Vertrag mit dem Fischer Taschenbuch Verlag habe. Für das es bereits einen Erscheinungstermin gibt.«
Letzteres ist gelogen. Alles andere ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
»Ich gebe das gerne weiter«, erwidert sie, steht auf und verabschiedet sich mit erlesener Höflichkeit.
Je länger ich an diesem Text schreibe, desto deutlicher wird mir bewusst, an wie wenig ich mich noch erinnere. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit. In der viel passiert ist. Ich denke nicht, dass ich etwas verdränge, die wirklich wichtigen Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse, Gefühle, auch die schmerzhaften, sind mir, glaube ich, alle noch bewusst. Was mir nicht mehr einfällt, ist eher, wie lange etwas gedauert hat, wie etwas, das man mir erlaubt oder verboten hat, begründet wurde und wann das war, welches Buch ich wann gelesen habe, wann ich die erste Radiosendung schreiben konnte …
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich im Keller war, und wann man mich nach oben brachte, »auf Station«, in eine normale Zelle, in der ich aber weiterhin isoliert war. Ich weiß allerdings noch sehr genau, dass von da an immer wieder Frauen vor meiner Zelle standen, allen voran die beiden Monis, und mit mir durch die verschlossene Tür hindurch geredet haben. Sie wurden vertrieben, mit Einschluss oder gar mit Bunker bedroht, und kamen am nächsten Tag wieder, nachmittags, sobald sie Aufschluss hatten. Ich habe keine Ahnung, worüber wir geredet haben, viel war es ohnehin nicht, aber ich weiß noch, wie gut es mir getan hat. Und welche Sorgen ich mir gemacht habe, dass man sie vielleicht wirklich in den Bunker sperrte. Was aber nie geschah. Zumindest nicht meinetwegen.
Wenn die Frauen Hofgang hatten, habe ich aus dem Fenster geschaut, und wir haben uns zugewinkt. Es war schön, das jetzt tun zu können. Es war schön, jetzt jederzeit den Baum im Hof sehen zu können. Es war schön, das Gesicht an die Gitter gepresst in Richtung Sonne halten, den Wind auf den Wangen spüren, den Arm hinaus in den Regen strecken zu können. In den ersten Tagen nach der Kellerisolation habe ich immer wieder das Fenster geöffnet, um die Luft einzuatmen. Um hinauszuschauen ins »Freie«, auch wenn es nur bis zum gegenüberliegenden Gefängnistrakt reichte.