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ОглавлениеEin Schlüssel rasselt, die Tür geht auf, eine Beamtin, die ich noch nicht kenne, kommt herein. »Grüß Gott, Frau Strobl.« Sie legt eine kleine Tüte auf den Tisch und einen Tannenzweig. »Das ist vom Herrn Pfarrer. Wegen Weihnachten. Und er lässt fragen, ob Sie mit ihm reden möchten.«
»Nein, danke.«
»Ich sag’s ihm. So, ich hab Ihnen Formulare mitgebracht, wenn Sie etwas beantragen wollen. Und den Katalog von unserer Bücherei. Suchen Sie sich was aus, drei Bücher maximal, dann schau ich, dass Sie die vielleicht noch bis Heiligabend kriegen.«
»Ich brauche Schreibpapier und Briefumschläge und Briefmarken.«
Sie nickt. »Das könnens beantragen. Briefmarken dürfens keine kriegen.«
»Warum nicht?«
»Ja, das geht halt nicht bei Ihnen.«
Ich fülle die Antragsformulare für Papier, Briefumschläge und einen Kugelschreiber aus. Blättere hektisch in dem Katalog: Bastelbücher, Nähanleitungen, Kochbücher, das, was man Frauenromane nennt, uralte Krimis, Bände, in denen es um Technik, Autos und Sport geht. Verzweiflung steigt in mir hoch, die haben nichts für mich, ich habe nichts zu lesen, das überlebe ich nicht …
»Lassens Ihnen Zeit, ich komm später noch einmal vorbei.«
Nein, will ich schreien, bleiben Sie hier, bitte! Ich finde schon etwas, sonst klappt es nicht bis Heiligabend. Aber ich reiße mich zusammen. Sage: »Danke.« Bloß keine Gefühle zeigen, keine Angst, keine Schwäche!
Als sie zurückkommt, habe ich drei Bände gefunden. Sie schreibt sich die Autoren und Titel auf. Geht und kommt eine halbe Stunde später wieder. »Ziehns Ihnen an, Frau Strobl, wir fahrn nach Stadelheim.« »Warum?«, frage ich sie, bemühe mich, meine Verzweiflung nicht zu zeigen, ich will nicht in das Männergefängnis, ich will hier bleiben!
»Anwaltsbesuch«, sagt sie. »Mir ham hier bei uns keine Trennscheibenzelle.«
Vor der Türe steht ihre Kollegin. Wenn ich meine Zelle verlasse, müssen mich immer zwei Beamtinnen begleiten. Ich bin ja eine mutmaßliche Terroristin. Also hochgefährlich. Eine von ihnen muss auch mit nach Stadelheim fahren. Die Polizisten geben ihr eine schusssichere Weste. Sie zieht sie widerwillig an, murmelt grantig: »Die ist aber schwer!« Wir fahren wieder im Konvoi. Vorne ein Polizeiauto, in der Mitte das, in dem die Beamtin, ich und zwei Polizisten sitzen, dahinter noch eines. In Stadelheim führen sie mich durch Kellerverliese, immer tiefer hinunter in immer unheimlichere Gänge, was haben die vor, denke ich, spüre schon wieder die Panik aufkommen. Nach Ewigkeiten, so fühlt es sich wenigstens an, sperren sie eine Zelle auf. »Eintreten! Der Herr Wächtler kommt gleich.«
Trennscheibenbesuch. Auch so etwas, das mir von draußen fast schon vertraut ist, aus den linksradikalen Publikationen und den Erzählungen von Leuten, die RAF-Gefangene besuchten. Jetzt, Frau Strobl, sage ich mir, um eine Ironie bemüht, die ich nicht fühle, wird aus dem Begriff eine ganz praktische Erfahrung.
Die dicke Glasscheibe zieht sich durch den gesamten Raum. Zu beiden Seiten befindet sich eine, klar, in den Boden eingeschraubte Sitzbank. Mit einem Stuhl könnte ich ja versuchen, die Scheibe zu zertrümmern.
Ich setze mich. Auf der anderen Seite geht die Tür auf, ein Mann tritt ein, etwas älter als ich, groß, Lockenkopf, Neugier in den Augen, aber keine unangenehme Neugier: »Hartmut Wächtler«, stellt er sich vor. »Die Edith Lunnebach hat mich gebeten, sie hier in München zu vertreten. Weil sie ja nicht dauernd aus Köln herunterfahren kann. Ich soll Sie von ihr grüßen.« Ich danke ihm, wir lächeln uns an, und dann sagt er: »Schick, die Collection Neudeck!«
»Ja, ne?«, erwidere ich. »Da kommt Jil Sander nicht mit.«
Von da an ist alles klar zwischen uns. Wir haben beide Sinn für Ironie. Einschließlich Selbstironie. Wir mögen uns. Ich bitte ihn, alles zu unternehmen, damit ich aus dem Horrorkeller herauskomme, meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass es mir gutgeht und dass ich sie liebe, dafür zu sorgen, dass mir die Bücher, die Leute mir vielleicht, hoffentlich schicken, ausgehändigt werden, und dass ich mir von dem Geld, das ich bei mir hatte, zum Beispiel Tabak und Briefmarken kaufen kann. Er nickt bei jedem meiner Wünsche und guckt skeptisch. »Mach ich«, sagt er. »Aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnungen. Jetzt zu Weihnachten mahlen die Mühlen des BGH noch langsamer als eh schon.«
Beim Hinausgehen sagt er noch: »Ich komme nächste Woche wieder.«
Auf dem Rückweg spüre ich, dass ein wenig von der Spannung weg ist, die ich die ganze Zeit aufrechterhalten habe. Wenn wir zurück sind, beschließe ich, mache ich Gymnastik.
Ich stelle mich mit dem Rücken zum Spion, strecke die Arme aus, lasse sie kreisen, schüttle mich, lasse die Schultern kreisen, beuge mich nach vorne und ziehe mich langsam wieder hoch. Es schmerzt, tut aber gut. Dann inspiziere ich die milde Gabe des Pfarrers. In der Tüte sind Kekse und eine Scheibe Christstollen. Ich esse einen Keks und versuche, einen Plan zu entwerfen für den Fall, dass es mit den Büchern bis Heiligabend nicht klappt. Ich könnte mir Gedichte ins Gedächtnis rufen, die ich einmal auswendig konnte. Schauen, wie viel ich davon noch immer auswendig weiß. Mir diese Zeilen, Strophen laut vorsagen. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst. Aurea prima sata’st aetas quae vindice nullo, sponte sua sine lege fidem rectumque colebat …
Es geht doch nichts über eine humanistische Bildung, denke ich grinsend, aber auch ein bisschen dankbar. Genau: Gedichte! Und Songs. Ich kann meine ganzen Lieblingssongs hier absingen, die Stones rauf und runter, die Kinks, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Gianna Nannini, Billie Holiday, die »Winterreise«, »Es werd scho glei dumpa« – nein! Nein, das nicht. Auf keinen Fall. Keine Tiroler Weihnachtslieder.
Ich darf nicht weinen!
»Es ist ein Ros entsprungen …« Nein. Das auch nicht. Nichts, was zu wehtut.
Ich darf auch nicht an zu Hause denken, an »Daheim«, das Innsbrucker Zuhause, Weihnachts-Zuhause. Ich würde jetzt mit meinen Eltern in der Küche sitzen und reden. Ihnen von der Arbeit erzählen, von den Recherchen für mein Buch über Frauen im bewaffneten Widerstand gegen den spanischen Faschismus und die deutsche Besatzung. Von den Interviews, die ich in Madrid, Amsterdam, Lyon und mit einer slowenischen Partisanin in Kärnten geführt habe, von den Menschen, die mir diese Interviews gegeben haben, von ihrer Offenheit, ihrer Bereitschaft, mich bei der Recherche zu unterstützen … Und sie wären stolz auf mich und würden alles ganz genau hören wollen.
Sie waren besorgt, als ich ihnen sagte, ich habe bei Emma gekündigt und baue mir jetzt ein Leben als freie Autorin auf. Als ich ihnen aber von dem Buchprojekt erzählte, haben sie zustimmend genickt und nur gemeint: »Das wird aber schwierig werden. Meinst du wirklich, die Leute wollen mit einer Österreicherin dadrüber reden?« Ich war mir da anfangs auch nicht sicher – angesichts der Menschenmassen, die Hitler beim Einmarsch in Österreich zugejubelt hatten, und, gerade jetzt, angesichts des mutmaßlichen NS-Kriegsverbrechers und nun österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Aber wir haben uns geirrt, die Eltern und ich. Wenn sie mich hier besuchen kommen, muss ich ihnen von den Interviews berichten, die ich letzte Woche noch in Lyon geführt habe, mit Dina und Henri Krischer und Herbert Herz.
Dina hat mich erst einmal verhört. Wollte herausfinden, warum ich mich ausgerechnet für ihre jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe interessiere: eine Österreicherin, die in Deutschland lebt, keine Jüdin ist und auch keine Geschichtsprofessorin an irgendeiner Uni. Warum ich überhaupt über dieses Thema schreiben will.
Nach einer guten Stunde hatte ich die Prüfung bestanden. Dina fragte mich, wo mein Gepäck sei. »Im Hotel.« »Wie, im Hotel? Du schläfst hier! Wir fahren jetzt deine Sachen holen.« Henri zwinkerte mir zu. Er war der Kommandant von Carmagnole gewesen, der Gruppierung des jüdisch-kommunistischen Widerstands MOI-FTP in Lyon, allein gelassen von der nationalen Résistance, gejagt von den deutschen Besatzern, alles junge Leute, die Eltern schon deportiert, wenn sie kein wirklich gutes Versteck hatten finden können. Eine der wenigen Widerstandsgruppen, in denen Frauen auch kämpfen durften.
Das war aber nur eines von vielem, erklärte mir Dina. Die tägliche Arbeit der Frauen bestand darin, die Verbindung zwischen den Kombattanten, der Führung und den anderen Gruppen zu organisieren, zu halten und nach Verhaftungen wieder aufzubauen. Konspirative Wohnungen, Lebensmittel, Kleidung für die Kombattanten zu besorgen. Waffen und Sprengstoff zu transportieren. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute riskierten sie ihr Leben. »Was hätten wir denn sonst tun sollen?«, fragte mich Dina. »Unsere Frauen waren die wahren Helden«, sagte Henri.
Mit Herbert, der Liberté geleitet hatte, die Gruppe der MOI-FTP in Grenoble, fuhr ich im Zug zurück. Er war nach Lyon gekommen, um beim Interview dabei zu sein. Mir von seiner Gruppe zu erzählen, den Frauen in seiner Gruppe. Eine von ihnen sollte ich ausfindig machen. Sie lebt angeblich noch, irgendwo in Deutschland. Möglicherweise in München.
Während der Fahrt erzählte mir Herbert weitere Geschichten. Erklärte mir, wie sie ihre Bomben gebaut hatten. Merkte, dass ich seine Erklärungen nicht begriff. Riss ein Blatt aus seinem Notizbuch und zeichnete es mir auf: Zünder, Drähte, Sprengstoff, was auch immer sonst noch dafür nötig war. Und wie sie das alles zusammengebaut hatten. Schenkte mir den Zettel. Als Erinnerung an ihn, an Carmagnole und Liberté, ihren Kampf gegen die Besatzer. Die Endlöser. Die ihre Eltern in die Lager verschleppt hatten. Die alle französischen Juden ermorden wollten, alle polnischen Juden, alle Juden in allen Ländern, die sie besetzt hielten. Die Kinder, die Alten, alle.
In Karlsruhe stieg ich um in den Zug nach Köln. Kämpfte lange mit mir. Herberts Zeichnung war ein historisches Dokument. Ein kostbares Geschenk. Ein Vertrauensbeweis. Schließlich zerriss ich sie, blutenden Herzens. Ich hatte vor einiger Zeit den Hinweis bekommen, ich würde observiert. Und eine Anleitung zum Bombenbauen wollte ich nun lieber doch nicht mit mir herumtragen. Drei Tage später wurde ich festgenommen. Die Zugtickets hatte ich noch im Rucksack.
Draußen, irgendwo über meiner Zelle, die offenbar zum Hof hin liegt, erklingen Frauenstimmen. Singen »Stille Nacht, heilige Nacht«. Ich sage stumm mein Mantra: Nicht weinen! Versuche wieder, an Dina, Henri und Herbert zu denken. An das Buch, das ich schreiben will. Daran, wie ich es schaffen könnte, es hier, im Knast, zu schreiben. Aber denken geht gerade nicht. Ich stehe auf, stampfe durch die Zelle und singe so laut ich kann: »La matina mi son alzato … o bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao …« Ich singe alle Strophen von Anfang bis Ende. Und dann noch einmal. Und dann noch »Bandiera rossa«. Und dann noch »Siamo i ribelli della montagna …« Bis schon wieder der Schlüssel rasselt.
»Frau Strobl, wollns in die Freistunde?«
Ja. Nichts lieber als das. Raus, an die frische Luft, Bewegung. Die Krähen sehen, die ich immer nur krächzen höre.
Sie führen mich den Flur entlang, sperren eine Tür auf, hinter uns wieder zu, neuer Flur, dasselbe Procedere, Treppen hinauf ins Parterre. Öffnen die Hoftür, Schlösser, Riegel, lassen mich nach draußen treten: »Eine Stunde, Frau Strobl. Wenn Ihnen zu kalt wird, meldens Ihnen.« Die beiden bleiben unter dem Vordach stehen, schauen auf die Uhr, zünden sich Zigaretten an.
Es ist kalt, und es schneit leicht. Ich gehe ein paar Schritte, vorsichtig, die Schuhe sind mir zu groß, kleinere gab es in der Kleiderkammer nicht. Der Pulli kratzt. Aber der Lodenmantel wärmt.
Der Himmel hängt tief, changiert von mittel- zu dunkelgrau. Der Betonweg führt rund um den Rasen, es gibt hier Rasen, und noch besser: Es gibt einen Baum! Er ist klein, ein wenig verkrüppelt, aber er hat einen Stamm und Äste und auf den Ästen liegt ein wenig Schnee. Ich schaue die Wände der Gefängnisgebäude hoch, die vierkant den Hof umschließen, durchbrochen von den Reihen der vergitterten Fenster. Stelle mich in die Mitte des Hofes und schaue erneut hoch, so weit, wie ich meinen Nacken nach hinten biegen kann, bis ich nur noch den Himmel sehe. Und die Flocken, die auf mein Gesicht herabsinken.
Krah.
Wo sitzt sie? Ich würde sie am liebsten anlocken, wie lockt man eine Krähe an?
Krah. Krah.
Da! Ich sehe sie! Sie sitzt im Baum, ganz nahe am Stamm, so dass sie auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist. Liebe Krähe, sage ich stumm, flieg nicht weg, bleib hier!
Ich drehe weiter meine Runden, eine nach der anderen, komme mir vor wie in einem Film, einem klassischen Knastfilm, bloß meine grüne Lodenausstattung passt nicht. Falsches Kostüm. Die Krähe ist verstummt, dafür machen sich jetzt die Tauben bemerkbar. Eine hat damit angefangen, und nun gurren sie unermüdlich im Chor. Eintönig, ergeben, enervierend.
Es schneit jetzt stärker. Die beiden Schließerinnen stehen unter dem kleinen Vordach der Tür und frieren. Aber ich kann sie nicht erlösen. Ich muss diese eine Stunde an der Luft bis auf die letzte Sekunde ausnutzen. Atmen. Gehen. Mit weit ausladenden Schritten, die nicht sofort wieder von einer Wand gestoppt werden.