Читать книгу Den Oridongo hinauf - Ingvar Ambjørnsen - Страница 7
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ОглавлениеAm nächsten Tag haben wir fünf Grad über null, trockenen Asphalt, hohen Himmel und fast keinen Wind. Ich ziehe in der Garage die Plane vom Moped und schiebe es hinaus auf den Hofplatz. Die fünf Farbeimer zu je zehn Litern hebe ich auf den Gepäckträger. Denke, dass es wohl so kommen sollte. Wie so vieles andere. Ein Dreirad mit Ladefläche in meinem Besitz.
Ich fahre am Meer entlang. An einzelnen Stellen führt der Weg fast zu den Ebbesteinen hinunter, an anderen schlängelt er sich durch Felder und windschiefe Wäldchen, ich komme an Höfen und einsamen Häusern vorbei, und ich weiß, dass ich gesehen werde und dass an den Küchentischen über mich gesprochen wird, dass jemand hinter Wohnzimmervorhängen und in Türspalten auf der Lauer liegt; das macht mir nicht das Allergeringste aus, und ab und zu ist es sogar so, dass ich einen Arm hebe, ich winke Menschen zu, die ich zu kennen glaube, und die ihrerseits glauben, mich zu kennen. Und über uns allen das große blaue Himmelsgewölbe, ich war so total unvorbereitet darauf, dass der Himmel so hoch sein kann wie hier oben, ich werde mich wohl nicht daran gewöhnen, und was könnte besser sein als ein Entzücken, das dauert und dauert? Draußen auf dem Sund gleitet ein Krabbentrawler in einer Wolke aus anfeuernden Möwen vorbei.
Unten bei Nivangen biege ich von der Hauptstraße ab und folge dem Kiesweg, der den Hang hochführt, zum Holländerhaus am Waldrand unter dem schwarzen Berg. Es ist die alte Schule der Insel, aber Algebra und Choräle liegen jetzt schon lange zurück.
Ellen Svendsen tritt in die Tür, sowie ich den Motor ausschalte. Sie trägt einen blauen Overall und hat ihre rote Mähne zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Komm rein! Wir essen gerade!«
Auf dem Gang riecht es nach Farbe und Öl. Mitten im Zimmer steht eine Trittleiter, und unter der Decke hängt ein einsames Stromkabel mit einer gespaltenen Zunge aus Kupfer.
In dem Zimmer, in dem früher der Unterricht abgehalten wurde, sitzen Ellen und Arne und frühstücken an einem Tisch, der aus einer über zwei Böcke gelegten Tür besteht. Der Tisch ist auf der einen Seite übersät von Lebensmitteln und Tassen und Tellern, auf der anderen von Werkzeug und Farbbeuteln. Auf dem Boden steht ein Propankocher mit einer Bratpfanne; Schweinefett und Eier zischen.
»Schön, dass du kommen konntest!« Arne redet mit vollem Mund, er grüßt mit einem Messer mit kurzer Klinge, das in seiner großen Hand teilweise versteckt ist. Er benutzt dieses Messer zu allem Möglichen. Jetzt schneidet er damit Hammelwurst. Und begrüßt mich. »Ich hoffe, du musst nicht gleich wieder los?«
Ich ziere mich ein wenig. Sage etwas über eine Aufsichtsratssitzung.
Sie lachen.
Ich finde, das hier läuft ziemlich gut.
»Aber jetzt setz dich doch, Mann! Eier? Oder Speck?«
Ich setze mich auf einen alten Hocker. »Warum oder? Und vielleicht eine winzigkleine Tasse Kaffee.«
Davon habe ich ein halbes Leben lang geträumt. Dem lockeren Tonfall. Den Scherzen unter Ebenbürtigen. Jetzt lebe ich den Traum aus. Ich nehme das große Graubrot und schneide mit dem samischen Messer eine schiefe Scheibe ab, während Ellen Eier und Speck auf einen gelben Plastikteller schaufelt.
»Wir wollen heute das große Doppelfenster einsetzen. Den alten Dreck könnten wir einfach runterwerfen. Aber wir müssen zu dritt sein, um den neuen Rahmen hochzuhieven und zu sichern.«
Ich nicke und spachtele Eier und kross gebratenen Speck. Aber sicher doch. Wenn sie einen Mann brauchen, dann haben sie einen Mann. Ich habe keine Erfahrung mit solchen Dingen, und das wissen sie. Keine Verstellung. Keine Lügen. Ich bin der gelehrige Bursche aus der Stadt. Der, der nie so tut als ob. Der, der die offenen Bürolandschaften und die wechselnden Winde an der Börse am Ende satt hatte. Der, der alles gegen das hier eingetauscht hat.
»Wie geht es Berit?« Ellens grüne Augen mustern mich.
»Der geht’s gut«, sagte ich. »Sie nuschelt ein wenig. Das ist alles. Ich bin sicher der Einzige, der hier oben klar und deutlich redet.«
Und punkte ein weiteres Mal.
»Sie ist stark, die Berit«, sagt Arne. »Sie ist noch mit über fünfzig über den Sund und zurück geschwommen. Ich glaube nicht, dass irgendwer hier oben das heutzutage noch versuchen würde.«
Ich sage mir, dass das nicht böse gemeint war. Das war nicht böse gemeint. Das hier macht den jovialen Ton zwischen Ebenbürtigen aus. Ich sehe, dass Arne sie kurz von der Seite her anblickt und dass sie das bemerkt.
Aber es darf hier jetzt nicht still werden, denke ich, deshalb sage ich, dass sie da ganz recht hat. Und konzentriere mich darauf, nicht zu lachen, denn ich weiß, dass dieses Lachen mir ein wenig zu tief in der Kehle stecken würde.
Dann wird es trotzdem still.
Bis Arne sich räuspert und eine neue Ladung Eier und Speck für alle drei bringt. »Ich hab mir eins überlegt«, sagt er und zieht das Messer durch das gelbe Dotter, sodass es über den Teller fließt. Schiebt mit einem Stück Brot die Schweinerei zusammen und stopft sich alles in den Schlund. »Oder genauer gesagt, Ellen und ich haben darüber gesprochen.«
Er kaut.
»Ehe die Holländer kommen«, sagt Ellen erleichtert.
»Das sind Niederländer«, sage ich. »Keine Holländer.«
War das richtig? Vielleicht.
Arne nickt. »Natürlich.«
»Das ist nicht natürlich«, sage ich. »Die ganze Insel redet von Holländern und das stimmt nicht.«
Habe ich recht? Jetzt bin ich plötzlich unsicher.
»Wie dem auch sei«, sagt Ellen und bläst den Dampf von dem Kaffee, den sie gerade in ihren Becher gegossen hat. »Du bist der letzte Einwanderer hier auf der Insel. Der letzte, der von außen gekommen ist.«
Jetzt bin ich auf der Hut.
»Und da dachten wir, du könntest vielleicht…«
Es stellt sich heraus, dass sie gedacht haben, dass sie untereinander und mit anderen darüber gesprochen haben, dass sie eine Art Interview arrangieren könnten, ein Gespräch zwischen Ellen und mir im Gemeindehaus, mit den anderen Inselbewohnern als Publikum, mit dem Ziel, die Erwartungen und Befürchtungen der Neuankömmlinge zu untersuchen, und genauer gesagt – meine Erfahrung damit, von außen zu kommen, um mich an diesem windgebeutelten Ort niederzulassen, zu einem Teil dieser Gemeinschaft zu werden, die für einen Außenstehenden doch fremd wirken muss, schwer zugänglich vielleicht.
Und das alles, um den Niederländern den Anfang so leicht wie möglich zu machen.
Nicht ausgesprochen, aber zwischen den Zeilen einwandfrei vorhanden: leichter, als er für mich war.
Was ich dabei empfinde? Schwer zu sagen, abgesehen davon, dass mir sofort ein wenig übel wird, ich muss kurz nach draußen, ich springe auf und gehe (jetzt hör doch auf, Mann! Setz dich, wir können doch über alles reden usw.), aber ich gehe also hinaus, und zum Glück sind sie gescheit genug, nicht hinterherzukommen, das wäre ja noch schöner. Tja. Ich gehe zum Moped und in die Hocke. Beschließe, dass mit der Kette etwas nicht stimmt. Berühre sie vorsichtig mit den Fingerspitzen. Ziehe einen Bausch Putzwolle aus dem Werkzeugkasten und wische ein wenig Öl weg. Ziehe das Bremskabel straffer, aber im selben Moment fällt mir ein, was passiert ist, als ich es zuletzt straffen wollte, mein Nacken tut noch immer weh, und deshalb lockere ich es wieder. Überlege, dass es im Grunde keine schlechte Idee ist, die Arne und Ellen da ersonnen haben, auch wenn die Probleme der Niederländer, der van der Klerks, ja zwangsläufig ganz anders aussehen werden als meine, und überhaupt, Probleme … kann ich denn von Problemen reden? War es nicht im Grunde die reine Freude? Herzuziehen? Ich hatte schon lange die Einladung, herzukommen, vielleicht nicht gerade, mich hier für immer niederzulassen, aber zu Besuch zu kommen, »eine Weile zu bleiben«, sie wollte mich in Trondheim abholen, ich könnte mit dem Flugzeug oder der Bahn nach Trondheim kommen, und da würde sie mich erwarten, ich brauchte nur einige Tage vorher Bescheid zu sagen, aber ich sagte nicht Bescheid, ich schrieb keinen Brief und ich rief nicht an, ich nahm einfach den Nachtzug nach Trondheim und dann den Bus, ich hatte einen leichten Koffer mit zwei Hemden und etwas Unterwäsche gepackt, ich hatte mir einen Hut gekauft, den ich in Oslo nicht aufzusetzen wagte, den ich aber mit großer Selbstverständlichkeit trug, als ich in Trondheim aus dem Zug stieg, ja, mit großer Selbstverständlichkeit, es fiel mir leicht, den Hut zu tragen, jetzt, da ich in eine ganz neue Phase meines Lebens eintreten würde, ich ging durch Trondheim mit dem Hut auf dem Kopf und dem Koffer in der Hand, und ich fühlte mich wie ein ganz anderer als der, der ich bisher im Laufe meiner fast fünfzig Jahre auf Erden gewesen war, ich war ein anderer, und mein alter Name lag hinter mir wie ein geprügelter Hund mit gebrochenem Rücken. Da ging ich also und dachte, dass es Mut verlangt, in dieser unserer Zeit einen Hut zu tragen, in einer Zeit, in der der Hut dem Exzentriker vorbehalten ist, dem Künstler, nicht wie früher auf der Welt, als jeder Mann sich bei der Konfirmation den Hut auf den Kopf setzte und die Pfeife in den Mund steckte, Arbeiter und Fischer, Lehrling und Hofknecht – jetzt verlangte es Mut und geraden Rücken, einen Hut zu tragen, und diesen Mut und diesen geraden Rücken besaß ich, obwohl ich weder Künstler noch Exzentriker war, eher ein ziemlich normaler Mann aus dem Volke. Und ich trug den Hut im Bus und später auf der Fähre, und da es ein fast windstiller Tag Ende April war, trug ich den Hut auch, als ich an Land ging, ich traf auf Vaksøy mit einem Hut und einem leichten Koffer ein, ja, sogar mit der Jacke über der Schulter, den Zeigefinger durch den Aufhänger, und voller Übermut beschloss ich, den Bus Bus sein zu lassen und lieber am Meer entlang zu dem Haus zu spazieren, das ich so oft auf den Fotos betrachtet hatte, die sie mir geschickt hatte, das weiße Haus, das da draußen in Viken lag, auf der Mitte zwischen Laugen und Vingan, Berits Heim, wo sie, wenn nicht ihr ganzes Leben, so doch den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte, ein Haus, von dem ich im tiefsten Herzen wohl hoffte, dass es auch mein Zuhause werden könnte, ach ja, das waren meine Hoffnung und mein Gebet! Und alles war doch so schön! Die Inseln. Das Meer. Der gelbbraune Strand und die fast schwarzen Felsen. Der windgebeutelte Wald…
Jetzt richte ich mich auf und gebe dem Moped einen Klaps, während ich höre, wie mir ein kleines dumpfes Lachen entweicht, ich stehe plötzlich auf dem Hofplatz vor dem Holländerhaus und lache, denn es ist genau so, als sähe ich meine eigene kleine Gestalt von damals aus der Vogelperspektive, sähe mich selbst mit dem Blick einer Möwe, wie ich am Strand entlangstolpere, in Stadtkleidung und Halbschuhen durch den feuchten Sand, und dann kommt natürlich der Wind, er hatte nur eine Stunde Pause gemacht, jetzt kommt er angefegt, wie es so seine Art ist, und weg mit dem Hut und her mit der Jacke – aber so oft ich mir auch die Karte der Insel angesehen habe, so habe ich die Entfernungen hier draußen doch niemals ganz begreifen können, es scheint so einfach zu sein, vom Fähranleger in Laugen zum Haus in Viken hinauszuspazieren, und es mag ja für einen Einheimischen mit der richtigen Fußbekleidung auch einfach sein, aber ich selbst muss feststellen, dass die Haut an meiner linken Ferse einreißt und dass mein rechter großer Zeh besonders groß und ganz und gar fremd wirkt, und dann kommt es, wie es kommen muss, und der Wind jagt einen Hagelschauer zum Land hin, und es gibt keinen Unterschlupf, nicht einmal ein Bootshaus oder eine Bude, nur diesen Ziegenpfad, der nicht einmal auf den Wald zuführt.
Und darüber haben wir gemeinsam so oft gelacht.
Wie jetzt, da ich hier stehe und ganz allein vor dem Holländerhaus über dieses nämliche Ereignis schmunzele.
Mein eigenes Eintreffen.
Das ich mir in etlichen wachen Nächten so vorgestellt hatte: Bei schlechtem Wetter – der Bus wartet am Fähranleger, steht mit laufendem Motor da, ich steige ein, zusammen mit all denen, die einander kennen, all denen, die bei meinem Anblick sich und den anderen Fragen in Bezug auf meine Erscheinung stellen werden, Fragen, die im Grunde wohl schon während der Überfahrt von Binnøya gestellt und bearbeitet worden sind, hier sitzt ein Fremder mit Hut und Koffer, SMSe und Telefongespräche von der Fähre nach Vaksøy durch den Kosmos, aber ich weiß doch, im tiefsten Herzen bin ich mir darüber im Klaren, dass alle mehr als nur eine vage Ahnung haben, wer ich bin, dass hier Berits Freund aus der Stadt seinen Einzug hält, so sieht er also aus, der Mann, über den sie zweifellos gesprochen hat, kahlköpfig und mit Hut, und mit unzweckmäßiger Stadtkleidung und nur einem leichten Koffer. So zu sitzen, mit einem freundlichen Lächeln für jede und jeden, während die Landschaft vor den Busfenstern vorüberrennt, die Felder, der Wald, usw., so dazusitzen und darauf zu warten, dass der Fahrer bremst, sich umdreht und verkündet, dass wir jetzt in Viken sind, jetzt haben wir Viken erreicht, und alle starren, als ich aus dem Bus steige, mit einer einfachen Frage im Schädel: Hat jemand Berit angerufen und sie über mein Eintreffen informiert? Feststeht, dass es hier in Viken für einen Mann wie mich nichts anderes zu tun gibt, als über den kurzen Kiesweg zu Berits Haus zu gehen, also wissen sie es jetzt allesamt, jetzt wissen sie, dass Berit Besuch aus der Stadt bekommt, und in meinen Halbträumen und Fantasien ist Berit inzwischen die Einzige, die nicht darüber informiert ist, sie steht in der Küche und bäckt Brot oder nimmt Fisch aus, und sie hört P3, den leichten Musiksender, oder vielleicht das Lokalradio, und dann sieht sie mich kommen, da kommt der Mann, auf den sie schon so lange wartet, den sie so oft eingeladen hat, er, den sie in Trondheim abholen wollte, aber dort steht er nun im Kies vor dem Küchenfenster, steht da und lächelt, denn er wollte sie überraschen, er ist von der spontanen Sorte, die plötzlich auf die Idee kommen kann, den Anker zu lichten und neue Küsten aufzusuchen, um nicht zu sagen, Frauen, und Letzteres ist falsch, das weiß sie, denn so ist er nicht, dafür hat sie sein Wort, und sie hat ihn als Mann kennengelernt, auf dessen Wort Verlass ist.
Oder bei gutem Wetter – wie es sich in Wirklichkeit also nicht ergeben wird; auf den Bus mit allen Klatschbasen und -vettern zu verzichten, den Bus zu ignorieren, ihn wegfahren zu sehen, Gesichter mit fragenden Mündern hinter den versalzenen Fenstern, die undeutlichen Umrisse der Insulaner hinter den Busfenstern, und die vielen Gesichter hinter den Fenstern der Privatwagen, den Wagen, die mit der Fähre von Binnøya gekommen sind, und denen, die am Anleger gestanden haben, um Reisende abzuholen, Geliebte und Ehepartner, Kinder und Eltern, auf sie allesamt zu pfeifen und stattdessen den Koffer zu nehmen und mich auf den Weg zum Strand hinunter zu begeben, der kein Weg ist, sondern irgendeine Idee von Schaf oder Ziege und Regen und Wind; eine Art Streifen durch das Heidekraut, aber was macht das schon, denn da liegt der gesegnete Strand in der Frühlingssonne, und dann geht es an die kleine Strecke zwischen Fähranleger und Haus in Viken, die sich also als alles andere denn als kleine Strecke entpuppen wird, sondern eher als etwas für Menschen mit Sinn für Extremsportarten, Polfahrer, denke ich, als das Unwetter losbricht, als der Wind mit Hagelkörnern groß wie Amseleier um sich wirft. Nach zwei Minuten schon bin ich triefnass und wie gerädert, es sind tatsächlich große Eisklumpen, die mir den Hut vom Kopf schlagen und auf meine nackte Kopfhaut donnern, ich ziehe mir die Jacke über den Kopf und gehe in die Hocke, ich denke, das ist sicher nur ein kleiner Schauer, sie hat geschrieben, dass es hier oben viele Wetter gleichzeitig gibt, sie kann auf der Türschwelle stehen und zusehen, wie ein Wetter ein anderes ablöst, und deshalb hocke ich also hier und warte darauf, dass Wetter Nummer eins von Wetter Nummer zwei abgelöst wird, während ein drittes und ein viertes Wetter über den Strand und die davorliegenden Untiefen streifen, dass zum Beispiel der strahlende Sonnenschein nach einer kleinen Runde über das Inselinnere zurückkehrt. Aber als die Ablösung kommt, als der Hagelschauer verschwindet, meldet sich eiskalter und massiver Regen dienstbereit, der flach vom Fjord hereinjagt, wie irgendein von Menschen geschaffener Klimaknoten, eine biologische Waffe, die ihr eigenes Leben lebt, und hier sitze ich in einer Art aufrechter Embryostellung, und ich lasse und lasse alles über mich ergehen, und es gibt ja auch nichts anderes zu tun, als alles über mich ergehen zu lassen und auszuhalten, denn hier gibt es wie gesagt keinen Unterschlupf, nicht einmal einen winzigkleinen vom Wind zerzausten Busch.
Und ich würde über den Strand gehen und über die glatt geschliffenen Felsen, würde den Kiefernwald verlassen und sie auf dem Hofplatz Holz hacken sehen, würde ihren Namen rufen, und sie würde sich aufrichten und sich umsehen, würde sehen, wie ich da stehe und den Hut durch die Luft schwenke, wie in einem Film aus alten Zeiten, einem Schwarz-Weiß-Film, hier kommt er, und da steht sie so warm und gut, und der Koffer landet im Heidekraut und die Axt im Kies, und es wird gelaufen, dass die Röcke flattern und der Hut herunterfällt, Umarmungen und Küsse, und alles soll nur schön sein, so bohrend schön und zärtlich und ein wenig wild.
Aber die Wirklichkeit will es also anders als Träume und Vorstellungen, so ist es ja oft im Leben, so ist es fast immer im Leben, in Wirklichkeit hocke ich hier mit der Jacke über dem Kopf, der teuren Jacke, die vermutlich einlaufen und unbrauchbar sein wird nach der brutalen Begegnung mit diesem Wetter, vor dem ich im Grunde oft genug gewarnt worden bin, worüber ich in Berits vielen Briefen jedenfalls gründlich informiert worden bin, und so kauere ich mitten in meiner Hilflosigkeit da, und dann fällt mir mein Mobiltelefon ein, das sich in der Innentasche der Jacke befindet, und alle Artikel, die ich über diese avancierten technologischen Entwicklungen gelesen habe – die ausgerechnet kein Wasser vertragen, ja, die sogar unter sengender Sonne einen Kurzschluss bekommen können, wegen schweißnasser Handflächen, und was ist dann mit diesem Regen, der mir den Jackenstoff gegen das Rückgrat peitscht? Das geht zum Teufel, denke ich, jetzt geht es zum Teufel mit meinem Mobiltelefon, und als dieser Gedanke gedacht ist, ist es mein nächster Gedanke, dass ich Berit anrufen muss, ehe es zu spät ist, ehe das Mobiltelefon ertrinkt, es ist eine Niederlage, die ich jetzt vor mir sehe, ich sehe das Gegenteil meiner Träume in mir und um mich herum aufsteigen, wie so oft, muss ich wohl zugeben, aber gerade das hier, dass ich also Erfahrung mit persönlichen Niederlagen habe, bringt mich dazu, das Mobiltelefon hervorzuziehen, mich der Schadensbegrenzung zu widmen – das ist eine Aktivität, die ich im Laufe der letzten Jahre trainiert habe, auf dem Oridongo und in der Zeit danach, deshalb ziehe ich jetzt das Mobiltelefon hervor und suche Berits Nummer, das gesegnete grüne Display leuchtet mir aus der Dunkelheit der Jacke entgegen, Berits Name und Nummer, sie meldet sich sofort.
Was für eine wunderbare Überraschung, dass ich gerade jetzt anrufe! Gerade habe sie noch an mich gedacht. Jetzt müsse ich aber wirklich bald zu Besuch kommen! Es sei so schön hier oben, jetzt im Frühling. Die Zugvögel kehrten schon zurück.
Berit! Ich habe Schutz unter meiner Jacke gesucht. Es ist eine dünne Jacke.
Ich brauche eine Weile, um ihr klarzumachen, dass ich mich nicht auf Bygdøy oder an einem anderen Ort am Oslofjord herumtreibe. Dass ich hier bin. Auf Vaksøy. Dass ich sie überraschen wollte.
Sie sagt, ich hätte sie noch nie so überrascht wie gerade jetzt. Sie sagt, ich sei ein Mann der Überraschungen. Sie sagt, sie wisse fast nicht, was sie sagen solle. Am Strand? Wo denn?
Ich bin so erleichtert. Jetzt heben sich Stimmung und Lebensfreude. Nass? Na gut. Na und? Jetzt steigen neue Fantasien und Visionen vor mir hoch. Gerettet. Ins Bett geführt. Honig & Rigabalsam.
Wo am Strand?
Keine Ahnung.
Bleib, wo du bist!
Und ich bleibe, wo ich bin. Ich stehe auf und stehe da am Strand, mit der Jacke über dem Kopf, wie einem winzigen Zelt, ich stehe da und schaue durch den Regen über Inseln und Meer hinweg, ich sehe auf meine ruinierten Schuhe hinunter, und auf den Koffer, dessen Kunstleder große Flecken aufweist, und es sickert und fließt mir über Hacken und Rücken, ein Fluss unter dem Hemd, so stehe ich und heiße Erkältung und Fieber willkommen und habe mir das Mobiltelefon in die Unterhose gesteckt, das ist für den Moment der einzige trockene Ort.
Und die Zeit vergeht, wie sie das eben macht, und es regnet und regnet, aber jetzt warte ich ja immerhin auf etwas Gutes, auf Berit, ich versinke in einer Art Meditation, ich schalte so viele mentale Leitungen aus wie möglich, ich schließe die Augen und versinke in mir selbst, ich hyperventiliere, ich falle und falle, während ich physisch fest dastehe, fest wie ein Pfahl dort am Strand in dem nassen Sand, während ich auf Wind und Wasser horche – und am Ende auch auf das Geräusch eines Motors, der sich irgendwo hinter mir befindet, es ist ein Fahrzeug, das offenbar näher und näher kriecht, und als ich mich aus Trance und Selbsthypnose reiße, kann ich mich umdrehen und einen Traktor sehen, der langsam vorwärts wackelt, der auf einem Weg, den ich offenbar übersehen habe (in meinem Eifer, zum Strand zu gelangen), hin und her geworfen wird, ein Traktor, der angewackelt kommt, und ich sehe einen gelben Helly-Hansen-Arm, der mir hinter dem Führerhaus zuwinkt, vermutlich von einem Anhänger, und ich winke zurück, gelassenes breites Winken, hier bin ich, hier stehe ich, jetzt bin ich endlich aus der Stadt und hier zu dieser Insel im Meer gekommen, über die ich so viel gehört und gelesen habe, die sich aber dennoch von einer dermaßen überraschenden Seite zeigt, ja, ist es nicht sogar ein bisschen witzig, dass dieser triefnasse Stadtmann da steht und winkt, sodass das Wasser von seinen Fingerspitzen spritzt?
Doch.
Sie springt von der Ladefläche und fällt mir um den Hals, noch ehe der Fahrer den Traktor anhalten kann, und da stehe ich nun und registriere, dass ich ganz ohne Scheu in meinen Fantasien immer wieder ihren Rücken streichele, den schmalen Rücken, und ich rieche ihre Haare, die riechen nach Äpfeln und Salzwasser, so weich und warm, ehe sie zurücktritt und mir auf jede Schulter eine Hand legt und mich mit diesem ein wenig seltsamen schelmischen Blick ansieht, mit diesen Augen, die ich also immer mit etwas Schwedischem verbinde, dem Blick, der mich ein wenig wacklig in den Knien macht, das heißt, etwas hinten in meinen Kniekehlen scheint zu schmelzen, etwas im Knorpel oder vielleicht in den Sehnen, und natürlich ist das nur Unsinn, das alles spielt sich doch in meinem Kopf ab, das habe ich nach all diesen Jahren immerhin gelernt, ich habe gelernt, dass vieles und manches ganz anders ist, als es im ersten Moment aussieht. Nehmt doch diesen Mann, der hier in all seiner reservierten Macht dasteht und nicht einmal seinen Namen hergibt, auch nicht, als ich ihm meinen gebe, der nur zögernd die Hand ausstreckt, als ich ihm meine eigene anbiete. In einem früheren Leben hätte ich ihn zur Rede gestellt, ich hätte ihm etwas über das Geheimnis der Zivilisation erzählt, über die Kommunikation zwischen den Einzelindividuen als eigentliche Grundlage für den Aufbau einer modernen, funktionierenden Gesellschaft, aber das kann jetzt auch egal sein, denn durch Berits viele Briefe und nicht zuletzt durch lange nächtliche Telefongespräche habe ich so einiges über das Wesen der Inselbevölkerung gelernt, vor allem über deren männlichen Teil, einmal schreibt Berit, dass die Männer hier oben in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit Kühen haben, sie stehen da und kauen und glotzen einen blöd an, eine Charakteristik, die ich damals für einen winzigen Flirt damit gehalten habe, was vermutlich Berits Vorstellungen über meine Vorurteile sind, die Fehlkenntnisse des Stadtmannes über Bauern und Fischer im Nordwesten des Landes. Die also auf den ersten Blick so einiges mit der Wirklichkeit zu tun zu haben scheinen. Aber da es plötzlich aufhört zu hageln, kommt es zu einer Art Gespräch, an dem wir uns von Mann zu Mann beteiligen, und als ich mich ein weiteres Mal vorstelle, stellt es sich heraus, dass der Mann Reinert heißt, auf eine direkte Frage sagt er das ganz offen, und Berit lacht mit weißen Zähnen und schüttelt freundlich den Kopf, was wiederum uns, Reinert und mich, veranlasst, einander verständnisinnig anzulächeln, obwohl wir doch im Grunde noch zu rein gar keinem Verständnis gelangt sind. Aber ich denke, dass wir von nun an aller Wahrscheinlichkeit nach miteinander auf Grußfuß stehen werden, wenn die physische Entfernung zwischen uns nicht zu groß ist. Wir werden nicht an entgegengesetzten Feldrainen mit den Armen fuchteln, aber es wird wohl zu einem Nicken kommen, wenn wir einander auf der Straße begegnen.
Und Berit fragt nach der Reise, und ich erzähle von der Reise, und sie fragt, ob ich Hunger habe, und ich sage, dass ich pappsatt bin, auch wenn mein Gedärm schreit, ich habe keine Ahnung, warum ich behaupte, satt zu sein, warum um alles in der Welt lügt man über solche Dinge, und ich versuche, Reinert dazu zu bringen, ein wenig über Fischerei und Landwirtschaft zu erzählen, und er sagt »ohoch«.
Aber dann fängt es wieder an zu regnen, und das Regenwetter scheint ihn auf irgendeine Weise zu beleben, »werden wohl sehen«, sagt er. Dann läuft er zum Traktor hinüber, holt einen grünen Regenmantel und reicht ihn mir, und als ich den anziehe, passiert etwas, worüber ich in den folgenden Tagen und Wochen staunen werde, ja, worüber ich ehrlich gesagt bis zum heutigen Tage keine Klarheit gewonnen habe. Es verhält sich nämlich so, dass Berit einen kleinen Ausruf ausstößt. Es ist kein ganzer Satz und auch kein kurzes verständliches Wort, es ist einfach nur eine Art verdutztes Quaken, und ich begreife ja, dass es um etwas geht, dass ihr ganz plötzlich eingefallen ist oder das sie ebenso plötzlich entdeckt hat.
Und dann steht sie da und zeigt auf einen Hut, den wir aller Wahrscheinlichkeit nach während der Willkommenszeremonie in Sand und Schlamm getreten haben, er liegt dort eingebeult, besudelt, er ist ruiniert. Reinert sieht ihn nun ebenfalls, und gemeinsam verlegen er und Berit sich darauf, ein wenig zu jammern – so was schon mal gesehen, der schöne Hut, ist das deiner?
Berit hebt ihn hoch und wischt ihn ab.
Meiner?
Ja, ob das mein Hut sei?
Ich mit Hut? Nein, jetzt müssen sie aber wirklich …
Sie lässt nicht locker. Der ist doch ganz neu!
Neu? Dann sieh doch mal her! Verschmutzt und ruiniert. Vom Meer angeschwemmt.
Da stehe ich nun und verleugne meinen Hut. Ich merke, dass mir heiß wird, und aller Wahrscheinlichkeit nach laufe ich rot an. Ich kann mich selbst nicht verstehen. Dieser Hut scheint auf irgendeine Weise zwischen uns zu stehen. Zwischen mir und diesen beiden Inselbewohnern. Vor kurzer Zeit ging ich noch am Meer entlang, die Jacke über den Rücken geworfen, den rechten Zeigefinger durch den Aufhänger gesteckt. Den Hut schräg gerückt. Aber jetzt ist es einfach unmöglich, mich zu diesem Hut zu bekennen. Es ist nicht meiner. Ich gehe nicht im Hute. Nun nimmt Reinert Berit den Hut weg. Klopft die Beulen glatt und wischt den Sand von der Krempe. Setzt den Hut auf seinen eigenen Kopf und macht einige alberne Handbewegungen. Und ich werde wütend. Ich reiße ihm den Hut vom Kopf und schleudere ihn weit über den Strand. Und im selben Moment scheint sich eine Jalousie vor meine Augen zu senken. Ich höre Berits Stimme wie aus weiter Ferne. Und auf der Jalousie wird jetzt ein Film gezeigt. Ich sehe mich am Fähranleger eintreffen, ich sehe mich an Bord gehen und in der Cafeteria Platz nehmen. Mit Hut. Ich sehe die Blicke der Einheimischen, ich sehe, wie sie sich an ihren Mobiltelefonen zu schaffen machen. Bald weiß die ganze Insel, dass Berits Freund aus der Stadt auf der Fähre und dann im Hafen eingetroffen ist – mit Hut.
Das denke ich, während ich die nötigen Korrekturen am Moped vornehme, am Motorrad, wie ich es gern nenne, ich überprüfe die Zündkerze, drehe den Deckel vom Benzintank, wische fast unsichtbare Ölflecken ab, ich denke an die Sache mit dem Hut und daran, was ich ganz klar als kleine Notlüge im Zusammenhang mit meinem Besitz eben dieses Hutes aufgefasst hatte, die Tatsache, dass ich plötzlich nicht zugeben wollte, dass er mir gehört, und an die bösen Worte, die infolge dessen gefallen sind, es ist nichts, woran es sich zu denken lohnt, diese Sache ist jetzt aus der Welt, aber hier stehe ich nun und denke daran, bis ich Arnes Schritte im Kies höre.
»Du kannst es dir doch überlegen. Niemand zwingt dich zu irgendwas. Komm jetzt!«
Ich weiß nicht so ganz, was ich darauf antworten soll, also sage ich nichts, ich folge ihm die Treppe hoch und ins Holländerhaus, in das alte Schulgebäude, das jetzt, wenn wir Inselbewohner erst einmal fertig damit sind, der Familie van der Klerk als Zuhause dienen soll, den Holländern oder Niederländern, je nachdem, die erwartet werden, die wir per Internet bereits willkommen geheißen haben. So gehe ich weiter. Dicht hinter Arne Svendsens breitem Rücken. Wir müssen bei dieser Arbeit zu dritt sein. Sonst geht es nicht. Sonst können wir das Fenster nicht einsetzen. Und Ellen lugt ein wenig verlegen zu mir herüber, als sie dahinten den Tisch abräumt, die unausgesprochene Entschuldigung liegt ihr auf der Zunge, während meine eigene Stimme, jetzt tief und klangvoll, ihnen beiden versichert, dass ich mir die Sache überlegen werde.
»Dann geht’s los!«
Und es geht los.
Hier festhalten! Stop! Moment noch! Eins. Zwei. Drei. Der alte morsche Fensterrahmen löst sich nach und nach. Die Fensterscheiben hat Arne schon am Vortag herausgeschlagen, damit sie jetzt nicht platzen und uns bei der Arbeit verletzen können, aber Ellen und ich geben ihm zu verstehen, dass wir verstehen, dass wir wissen, dass er, der erwachsene Mann, am Vortag hier oben im ersten Stock war und den Knaben gespielt hat. Er hat die Fenster herausgeschlagen, sagt er, und bei ihm hört sich das an wie eine schwere Arbeit, die er mit gewissem Widerwillen ausführen musste, mit einer in Sackleinen gewickelten Axt, aber ich bin wohl kaum der Einzige, der sich vorstellt, wie er da steht und mit halb ersticktem Gebrüll mit einem Ziegelstein aus dem Haufen auf dem Hofplatz die Fenster einwirft. Jedenfalls bin ich nicht der Einzige, der grinst, als er seine verlogene Darstellung der Ereignisse bringt. Auch Ellen grinst, und es ist durchaus auch möglich, dass sie mir ein wenig zuzwinkert, als sie sagt, es sei ja doch traurig, dass er gerade diese Arbeit allein verrichten musste. Sie haben jedenfalls wieder zueinandergefunden. Ellen und Arne Svendsen. Es war ein Sommer voller Beschimpfungen und Eifersucht, darüber sind sich alle im Klaren. Aber jetzt hat sie beschlossen, ihn doch nicht zu verlassen, und das trotz vieler Dinge. Ist ein bisschen jähzornig, dieser Arne. Ein bisschen kleinlich und ungerecht. Aber wie Berit sagt: Wir haben alle unsere Eigenheiten. Was ich zu bestätigen gelernt habe. Außerdem kann niemand etwas anderes behaupten, als dass Arne Svendsen ein tüchtiger Arbeitsmann ist, und ein guter Vater für seine Kinder. Knauserig ist er auch nicht, wenn er erst einmal Geld hat. Es ist allgemein bekannt, dass er Reinert von Neset bei der neuen Scheune geholfen hat, als die Bank sich weigerte. Jetzt ist er die eigentliche Triebkraft, das Alphamännchen in der Arbeitsgruppe, die aus dem alten Schulgebäude das machen soll, was wir allesamt das Holländerhaus nennen. Wenn ich mich nicht sehr irre, und das tue ich nicht, denn so hat Arne es beschlossen, reißen und zerren wir jetzt am Fensterrahmen dessen, was zum Schlafzimmer der »Klerke« werden soll. Horst und Evelyn van der Klerk, die zusammen mit ihren Kindern dort unten sitzen, mehrere Meter unter dem Meeresspiegel, und die von einem neuen Dasein hier oben an der wilden Küste träumen. Das hier soll unser Willkommensgeschenk für sie sein. Neues Dach und neue Fenster. Und der erste Anstrich. Mit dem Rest können sie dann selbst herumpusseln.
Mit einem schnarrenden Geräusch versinkt der Fensterrahmen draußen im Nichts, und als wir noch einmal drücken, knallt er zwischen die Brennnesseln beim alten Brunnen und schlägt eine Senke in den Boden.
Rauchpause. Ich schiebe einen General ein. Arne dreht sich eine Rødmix. Ellen läuft Thermoskanne und Tassen holen.
Arne zeigt und erklärt, während er in regelmäßigen Abständen den Rauch tief in die Lunge zieht. So. Auf diese Weise. Flaschenzug. Seile.
Wir wollen das neue Fenster hochhieven und den Rahmen mit Holzkeilen an der Wand befestigen. Und alles soll ganz gerade und richtig sein. Das ist unsere Aufgabe für heute.
»Dann gehen wir zum Vögeln nach Hause.«
Solches Gerede mag ich nicht. Ich finde es unreif und albern. Der erwachsene Mann. Vater von zwei kleinen Kindern. Rennt durch die Gegend, schlägt Fenster ein und redet Dreck. Aber ich habe zu schweigen gelernt. Habe viele Jahre Erfahrung damit zu schweigen, wenn der Narr spricht. Um es mal so zu sagen. Ich lächele tabakschwarz und tue irgendwie.
Ellen bringt den Kaffee.
Und schnorrt von mir einen Priem.
Gar nicht so schlecht, denke ich. Das ist wirklich gar nicht so schlecht.
»Das ist eine seltsame Vorstellung«, sagt sie. »Hier sind wir zur Schule gegangen. Nicht wahr, Arne?«
»Ja, das ist schon seltsam«, sagt Arne. »Was denn eigentlich?«
»Die Lehrerin hat hier oben im ersten Stock gewohnt«, sagt Ellen zur Erklärung zu mir. »Die alte Frau Adamsen.«
Dann sprechen sie ein wenig darüber. Er ist nicht mehr mürrisch und folgt ihr durch die Allee der Erinnerungen. Die alte Frau Adamsen kam aus Molde und war natürlich überhaupt nicht alt, nur waren sie selbst eben so klein. Und so weiter, auf die Tour. Was ist aus dem und der geworden? Und jetzt. Genauer gesagt, bald. Die Niederländer. Hier. Oder die Holländer.
»Denen wird es hier gut gehen«, sagt Ellen und bläst auf ihren heißen Kaffee. »Platz. Frische Luft. Stellt euch doch den Unterschied zwischen einem Vorort von Rotterdam und dem hier vor!«
»Und kein einziger Muslim«, sagt Arne. »So weit das Auge reicht.«
Wir wiehern.
»Bringen wir das Fenster an Ort und Stelle!« Arne stellt seine Kaffeetasse auf den Boden und schnippt die Kippe durch das Loch in der Wand.
»Vorsichtig«, sagt Ellen. »Es ist so trocken. Nein, schaut mal!«
Wo vorher das Fenster war, klafft jetzt eine offene Wunde. Ein Spalt zwischen Täfelung und der getäfelten Wand. Ellen zieht eine vergilbte alte Zeitung hervor. Es ist eine Lokalzeitung von 1937. Die Lokalzeitung, die es nicht mehr gibt. Und hier stehen wir und lesen über eine Zeit, die es auch nicht mehr gibt.
»Wir rahmen die Titelseite ein«, schlägt Ellen vor, nein, sie befiehlt es.
Ein großartiges Geschenk für die Klerke.