Читать книгу Den Oridongo hinauf - Ingvar Ambjørnsen - Страница 9
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ОглавлениеIch bin in deine Fußstapfen getreten, dort, wo du den Pfad verlassen hast, Magne, so war das. Daran denke ich jedesmal, wenn ich auf den Gang hinausgehe und deine Windjacke anziehe, die noch immer, Jahre, nachdem du von uns gegangen bist, nach Drehtabak und Wald riecht, und ich denke auch sonst oft daran, daran, dass ich da weitergemacht habe, wo du passen musstest. Und niemand weiß und niemand soll es jemals erfahren, dass ich immer wieder diese Gespräche mit dir führe, genauer gesagt, dass ich hier mit dir spreche, während ich zugleich auf die Stille des Todes lausche. Aber das ist eine geladene Stille, wie dann, wenn man in der vollkommenen Dunkelheit dasteht und die Nähe eines anderen spürt, ich glaube, dich nahe bei der Grenze der Lebenden zu ahnen, und manchmal, zum Beispiel, wenn ich deine Jacke anziehe, habe ich das Gefühl, dich zugleich über die Grenze und hinein ins Leben zu ziehen. Dann scheint ein Teil von mir zu dir zu werden, und zusammen gehen wir die Treppe hoch, wie jetzt, wir schieben einen Priem ein und überqueren den Hofplatz, und meine Hand ist fremd und vertraut zugleich, wenn die Finger den alten gelben Schalter draußen im Holzschuppen umlegen und das scharfe Licht über den Holzhaufen fällt, den Reinert von Neset gebracht hat, den er vom Lastwagen geschoben hat, das Holz, das du und ich, zwei Hände, gleich stapeln werden. Und bei dieser Arbeit bin ich ganz und gar bei dir, so, wie du auch hier bei mir bist, wir sind in Dem Einen, dem verschlossenen Raum, der nur für uns wirklich ist, und den ich deshalb auch ihr gegenüber verschweige, ja, gerade ihr gegenüber, denn das könnte Unruhe erregen. Und die Holzscheite sollen dicht und gleichmäßig liegen, wie wir das ohne Worte oder Gebärden beschlossen haben, es ist einfach so, dass wir mit vorsichtigen Hammerschlägen bei jeder zweiten Reihe, die wir legen, die Platzierung jedes einzelnen Holzscheites korrigieren, nicht nach der ersten Reihe oder zum Beispiel, wenn die dritte Reihe gelegt ist, sondern nach der zweiten. Ich weiß, dass du nicht gewollt hast, dass sie hier oben allein wäre. Sie hat mir alles erzählt, was du darüber gesagt hast. Zuerst in den Briefen, die ich bekommen habe, als ich den Oridongo hinauffuhr, später am Küchentisch in der Dämmerstunde, sie hat gesagt und geschrieben, dass du es so gewollt hättest, und ich habe gedacht und gespürt, dass es der Wille eines starken und großzügigen Mannes ist, in den ich auf seltsame Weise hineingezogen worden bin, es lag voll und ganz außerhalb meiner Fassenskraft, dass so etwas passieren könnte. Aber du hast diese Möglichkeit erfasst, als du spürtest, wie deine Kräfte aus dir heraus und in etwas anderes hineinsickerten, du hast meine Anwesenheit irgendwo dort draußen gespürt, ohne Namen und ohne Gesicht, und das passte mir doch nur zu gut, wo ich dabei war, mich von beidem zu befreien, an einem anderen Ort ein anderer zu werden. Und wie ich dir schon so oft erzählt, nein, dir anvertraut habe, so habe ich mich auch ihr anvertraut: Ich hatte mich schon längst damit abgefunden, den Rest des Weges allein gehen zu müssen, in mir gab es keinen Traum mehr von einer Frau aus Fleisch und Blut.
Ich arbeite bis kurz nach neun. Es ist ganz dunkel draußen, als ich die Tür des Holzschuppens hinter mir schließe. Nur das Hoflicht über den ausgetretenen Treppenstufen, das große Stück Mauer, Zement und Muschelkalk. Und es ist so still, nein, es ist nicht still, denn hier sind Wind und Meer, die Wellen, die schlagen; kann man sagen, dass die Stille so klingt? Irgendwo habe ich gelesen, dass die Toten im Wind leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmen kann, aber wenn ich mir die Kapuze über den Kopf ziehe, ist es dennoch ein verlockender Gedanke, eben, dass die Toten, meine Ahnen und du, mir hier über den glatten Schädel streichen, über die nackte Haut, und hussa, wie der Nordwind weiter die Küste hochjagt, die Toten jagen die Toten, ein gewaltiges Spiel!
Wieder sehe ich den Saal im Gemeindehaus drüben in Laugen vor mir. Wie er sich langsam füllt. Die Autos, die auf den Parkplatz fahren. Die Abgase über den roten Bremslichtern. Alle, die zu Fuß kommen, allein oder in kleinen Gruppen. Sie sind Schatten in der Dunkelheit, aber wenn sie ins Licht und den Dampf des frisch aufgebrühten Kaffees treten, bekommen sie Gesichter und Namen, ich kann sie erkennen, und offenbar erkennen sie auch mich, als ich hier mit einer Tasse Kaffee bei Ellen Svendsen stehe, möglicherweise mit einem Glas Wein oben auf der Bühne in leisem Gespräch darüber, was gleich passieren wird, möglicherweise diskutieren wir die eigentliche Richtung des Interviews, wie soll Ellen die Gewichte verteilen, es kann sein, dass wir uns darüber einigen, das Positive zu betonen, Möglichkeiten und Visionen für die Zukunft, und ihre Hände gestikulieren in der Luft, wie das ihre Angewohnheit ist, ich lächele zustimmend und nicke ab und zu.
Himmel, ist das nicht Ulf Vågsvik da oben? Wer? Der, der mit Ellen Svendsen zusammen auf der Bühne steht? Der mit dem Weinglas? Ja, der soll offenbar eine Art Vortrag halten. Vortrag? Ulf Vågsvik? Lachen.
Ja, lacht ihr nur. Wartet nur, bis Ellen und ich uns warm geredet haben, wartet nur, bis ich zu Bendik Haga komme und vorschlage, seine Person unter Denkmalschutz zu stellen, wartet nur, bis ich dazu aufrufe, dass wir uns als Schutzmauer um ihn aufstellen, den wir in früheren Zeiten zurückgeblieben genannt haben, den wir heutzutage aber lieber als alternative Kraftquelle bezeichnen, als einen, dessen Fähigkeiten an unerwarteten Stellen und zu unerwarteten Zeitpunkten keimen. Lasst uns alles bewahren, das anders ist, den, der mit seinem Bus gefahren kommt, mit etwas weniger Gepäck als wir anderen, die ohnehin Privatwagen oder Moped fahren, denn ohne diese, die Kleinsten unter uns, legt sich eine kühle Hand über die Gesellschaft, dann stirbt die Vielfalt, ja, genauso werde ich ihnen etwas vorheucheln.
Kann ich mit Anders Vagles kläffendem Lachen rechnen?
Ich glaube schon.
Wir nehmen jetzt das Fahrrad, Magne. Nicht das Moped, sondern den alten Drahtesel, den ich nach allen Regeln der Kunst geschmiert und geölt habe, das Rad, mit dem du mit Berit auf Tour gefahren bist, als ihr noch jung wart. Es gibt ein Bild, das weißt du sicher, wo du so kess auf dem Sattel sitzt und Berit nicht weniger kess auf der Stange (wie man sagt), sie sitzt schräg über der Stange, und beide lächeln in die Kamera, das Foto ist unten am Fähranleger in Laugen aufgenommen worden, im Hintergrund kommt oder geht die Fähre, und du trägst einen Anorak und sie eine Strickjacke, und ihr lacht und seid jung, ich habe versucht auszurechnen, wo ich selbst damals war, wer ich war, aber das hat nichts genutzt, ich muss mir damals fremd gewesen sein, ein Ich, das ich nicht mehr erreichen kann. Ja, wir nehmen jetzt das Fahrrad, wir holen es hinter der Scheune, wo es am Schleifstein lehnt, und ich schiebe es vorsichtig auf die Straße, das ist nicht nötig, ich fahre, wo ich will, und wann ich will, sie mischt sich da nicht ein, es ist nicht so, dass ich mich vor ihr versteckte, ihr etwas vorenthielte, aber ich bin eben immer behutsam, das ist meine Natur. Sie könnte sich Sorgen machen, wenn sie wüsste, dass ich jetzt in der herbstlichen Dunkelheit losfahre, ohne Licht. Denn das ist meine neue Angewohnheit, genauer gesagt, eine davon. Ich fahre in der Dunkelheit von Abend und Nacht, ohne ein anderes Licht als das, was von Mond und Sternen geliefert wird, als Schatten unter anderen Schatten, tagsüber, auf dem dreirädrigen Moped, und nach Anbruch der Dunkelheit – als nächtlicher Ritter. Das ist nicht gefährlich. Ich kenne den Weg. Ich kann ihn auswendig, und es ist hier oben auf der Insel ja auch so, dass die Autoscheinwerfer auf mehrere Hundert Meter Entfernung gesehen werden können, es ist ein Kinderspiel, rechtzeitig abzusteigen, von der Fahrbahn zu gehen und stehen zu bleiben, während Fremde und Bekannte an mir vorüberjagen, ohne zu wissen, dass ich dort stehe. Aber das kommt nach halb zehn Uhr abends nicht oft vor. Ich habe mir diese Uhrzeit gemerkt, dann wird der Verkehr offenbar eingestellt, dann muss niemand an der Fähre oder von irgendwelchen Aktivitäten abgeholt werden, dann gehen die ersten Frühaufsteher zu Bett, während der Rest sich vor den Fernsehschirmen versammelt, oder sie sind im Internet unterwegs, auf der Suche nach immer mehr Information, Aktualität, oder einer Gemeinschaft, sei sie nun sexuell oder geistig, sie pflegen ihre mehr oder minder obskuren Interessen, und für mich ist das alles nichts, ich bin von einer anderen Art, ich denke so gut, wenn ich durch die Dunkelheit strampele, auf diesem Fahrrad, das du hinterlassen hast, als du die Grenze zum Tod überschritten hast, Magne, dieses Fahrrad, mit dem du und Berit Ausflüge gemacht habt, als ihr noch jung wart, und mit dem du in all den Jahren von und zu der Arbeit in der Werft unten auf Neset gefahren bist, wo Reinert jetzt nach dem Konkurs in tiefer Einsamkeit und Verwirrung regiert. Aber ich will nicht nach Neset. Heute Abend nicht. Heute Abend will ich im Gegenzeigersinn um die Insel fahren, durch Laugen und nach Norden, und ich werde bei Skurberg nicht anhalten, sondern vorübersausen, so, wie ich vor zwei Abenden vorübergesaust bin, ich steige nicht mehr bei Skurberg ab, das ist vorbei, wie so viel anderer Unsinn, unter den ich endlich ebenfalls einen Schlussstrich gezogen habe. Auf den Hängen vor Moholt muss ich mich auf die Pedale stellen und strampeln, und ich beschließe, dass es mein neues Ziel sein soll, die Hänge vor Moholt im Sitzen hochzufahren, ohne wirklichen Grund, ich habe nicht den Ehrgeiz, auf meine alten Tage noch zum Sportler zu werden, es ist nur eine Veränderung aus Liebe zur Veränderung, zu wissen, dass ich mich verändern kann, von einem zum anderen werden, durch Einstellung, Willen und Training stärker zu werden. Aber oben auf Moholt, da steige ich ab, da steigen wir beide ab, Magne, denn das hier ist etwas anderes als Skurberg, das hier ist der schönste Aussichtspunkt dieser Strecke, und von Berit weiß ich, dass ihr oft hier gesessen habt, auf der Bank an der kleinen Raststelle, um über den Sund vor Laugen hinauszublicken, den Sund zwischen Vaksøy und Binnøya, wo die Fähren an normalen Werktagen jede Stunde zweimal hin- und herpendeln, von 5.35 bis 21.05 Uhr, über den Sund, der jetzt wie ein dunkler Gürtel zwischen den etwas helleren Bergen auf beiden Ufern liegt, und ich steige vom Rad und lege es in den Kies, vorsichtig, ehe ich mich auf die Bank vor dem grob zurechtgehauenen Holztisch setze, den Raststättentisch, wo Kinder und Liebende mit Messern und Kronkorken ihre Initialen und Zinken eingeritzt haben. Und ist es nicht so, als säße ich zwischen euch? Zwischen dir und Berit? Doch. So ist das. Aber nicht als Fremder, nicht wie der, der gekommen ist, um Streit und Zwietracht zu säen, sondern als der Mann aus der Zukunft, der, über den ihr noch nichts wissen und den ihr erst recht nicht ahnen oder sehen könnt, aber wenn ich nun hier sitze, kann ich hören, wie ihr miteinander flüstert, über eine Zeit, die jetzt verschwunden ist, zurückgelegt, in die Ewigkeit verstoßen. Und es macht mir nichts aus, dich sagen zu hören, dass du sie liebst. Und es macht mir nichts aus, sie sagen zu hören, dass sie dich liebt. Und wenn es mir doch etwas ausmacht, dann tut es mir gut, dass sie, die mir später begegnen wird, eine Frau war, die geliebt wurde, die in sich, in ihrem Leben ruhte. Sie hätte mich sonst nicht aufnehmen können. Es wäre unmöglich gewesen. Damit kenne ich mich aus.
Am Hang oberhalb der Kirche setzt die sparsame Straßenbeleuchtung von Laugen ein, sie sieht aus wie eine zerrissene Perlenkette, wie sie sich da im Zickzack am kurvenreichen Weg ins Zentrum hinzieht. Ja, nun habe ich auch das erlebt. Dass die zerstreute Bebauung unten am Anleger als Zentrum bezeichnet wird. Supermarkt. Gemeindehaus. Lensmannsbüro. Vielleicht zwanzig Läden. Die Wohnsiedlungen, die sich auf beiden Seiten bis zur Schule und zum stillgelegten Hallenbad hinfressen. Es ist kein Zentrum und es ist keine Stadt, denke ich, aber trotzdem sind das meine Stadt und mein Zentrum, so ist es geworden, so und nicht anders. Hierher bin ich an einem Frühlingstag vor zwei Jahren gekommen. Mit Hut. Es ist fast nicht zu glauben. Ich glaube es nicht, Magne! Da kam der Stadtmann mit seinem Hut auf dem Kopf und machte sich an die Wanderung den Strand entlang, mit Halbschuhen, Koffer und Tasche, in dem Glauben … Ich merke, dass ich noch immer rot werden kann, wenn ich daran denke, also sitze ich jetzt hier und glühe in der Dunkelheit, während ich unter mir die elektrischen Lampen funkeln sehe. Was für eine Vorstellung! Mit Hut und Halbschuhen. Koffer. Ein kleiner Abstecher in Richtung Viken. Über zwanzig Kilometer durch lockeren Sand, dazu Hagelschauer vom Meer her. Ohne Geld und unangemeldet. Aber, denke ich – das muss wohl auch erwähnt, mit in Betracht gezogen werden: mit reinem Herzen. Geläutert durch die Fahrt den Oridongo hinauf.
Ich steige wieder auf das Rad und wir strampeln weiter nach Norden, jetzt durch den vom Wind geschundenen Wald, es geht ein wenig abwärts, ich lege ein gutes Tempo vor, ich liege über dem Lenker und genieße die kühle Herbstluft, die mir entgegenströmt, und ich denke an meinen nackten Schädel als an einen Stein in einem reißenden Fluss, die Wassermassen, die mich langsam abschleifen, kleine Partikel, die von mir abgerissen werden und mit der Strömung verschwinden, denn so ist es im Grunde doch: Ich fahre durch die Nacht, aber auch durch die Zeit, die mir zugewiesenen Stunden und Sekunden auf Erden, während mein Körper langsam aber sicher zersetzt wird, Molekül um Molekül, irgendwo habe ich gelesen, dass das, was wir normalerweise einfach Hausstaub nennen, in Wirklichkeit aus toten Zellen von Menschenkörpern besteht, Haufen von toten Zellen, von denen Milben und andere mikroskopisch kleine Tiere sich ernähren, die sie verzehren und hinten aus sich herauspressen, wie wir das mit Schweinebraten und Kartoffeln machen, so denke ich auf dem Hang hinab zu Kirche und Friedhof, wo du begraben bist, ehe der Weg sich langsam im Talinneren wieder hebt, ich lasse Laugen hinter mir, die Lichter verschwinden.
Und bei Skurberg steigen wir nicht ab, das tun wir nicht, im Idealfall würden wir vorüberjagen, rasch und geschmeidig, aber was passiert, ist, dass das Tempo gedrosselt wird, mehr allerdings nicht, während ich die leuchtenden Fenster des Hauses dort unten suche, aber alle Lampen sind gelöscht, nur die Hoflampe über der Treppe brennt, dann will er wohl früh los, der alte Dachs, das ist eine Erleichterung, dann komme ich nicht in Versuchung, rein gar nicht, hier gibt es nichts, was man entdecken oder beobachten könnte.
Gegenverkehr. Ein Auto. Ich höre es, ehe ich es sehe, denn hier oben, westlich von Skurberg, ist die Straße kurvenreich, sie führt zwischen tiefen Senken in der Landschaft dahin, rasch fahre ich zur Seite, ich lege das Rad flach auf den Boden und steige halbwegs in den Straßengraben. Gehe in die Hocke, als ich die beweglichen Lichter sehe, es ist nicht nur ein Auto, es sind zwei, die Fahrer fahren wie die Schweine, so, wie die hier oben Geborenen das eben machen, die die Wege auf der Insel so gut kennen wie ihre eigene Westentasche, sie fegen an mir vorbei und verschwinden mit Rallyegebrüll in der Nacht.
Was mich dazu inspiriert, ebenfalls schneller zu werden, die Kurven hinunter zum Lovatn zu genießen, die Zentrifugalkraft auszukosten, die mich zu Felswänden und Gräben zieht und lockt, dieses gefährliche Saugen, das im Grunde gar nicht so gefährlich ist, da ich eine innere Karte des Straßennetzes der Insel besitze, nach den Hunderten von Stunden auf Drei- und Zweirad bei Licht und Dunkelheit, wenn auch nicht so gut wie die, die auf diesen Straßen unterwegs gewesen sind, seit sie alt genug dazu waren, also mit sieben Jahren oder schon früher.
Trotzdem wäre es fast schiefgegangen. Es geht nicht schief, aber später werde ich denken, dass es um ein Haar schiefgegangen wäre, an diesem Abend an den Hängen zum Lovatn, denn als ich wie ein Geschoss um eine Kurve nach rechts jage, werde ich von einem blauweißen Licht geblendet, das hier absolut nichts zu suchen hat, und als ich auf der Rückbremse stehe, merke ich, dass meine Räder in etwas Feuchtem rutschen, das hier ebenfalls nichts zu suchen hat, es hat schließlich nicht geregnet. Mein Rad gerät ins Schlingern, es tanzt hin und her, ehe ich es endlich wieder unter Kontrolle habe und die Füße auf den Asphalt setze, dass das Blut nur so spritzt.
Aber das hier ist zum Glück keine Familie mit vier Kindern auf dem Rückweg von einem Besuch bei der Oma. Es ist ein Kronhirsch mit geplatztem Bauch und gebrochenem Geweih. Es dampft vom Gedärm, das wie eine Wurstdolde im Blutgeschmiere liegt. Das scharfe Licht stammt von einer Laterne am Straßenrand und von zwei Wagen, die achtlos mitten auf der Fahrbahn halten. Die Windschutzscheibe des einen ist zersplittert, die des anderen ist unversehrt, wenn ich das richtig sehen kann, es ist der Dienstwagen des Lensmanns, Tharald Reine. Der zum Glück nicht anwesend ist, denke ich, denn jetzt sehe ich seine Assistentin Jenny Lydersen am Rand des Lichtfeldes stehen und mit einem in eine Wolldecke gewickelten alten Mann sprechen. Also hat sie heute Nacht Dienst. Sie scheint total in ihre Aufgabe vertieft zu sein. Tröstdienst. Schocklinderung. Mit ein wenig Glück…
Dann ist die Stimme von Tharald Reine da. Dicht bei meinem linken Ohr. Ruhig. Flüsternd, wie ein indianischer Gott, der in Menschengestalt herabgestiegen ist.
»Trainierst du für die Tour de France, Vågsvik? Allein? In der Dunkelheit? Ohne auch nur die kleinste Lampe?«
Ich gebe keine Antwort. Ich betrachte Jenny Lydersens uniformiertes Hinterteil. Die runden Kurven unter dem synthetischen Stoff. Ich schäme mich. Ich denke an Berit, die zu Hause sitzt und sich mit ihren Angelegenheiten beschäftigt. Die inzwischen sicher schon auf mich wartet. Sie, der ich alles schulde.
Aber dann merke ich, dass ich zu zittern beginne. Das liegt am Blutgeruch.
»Komm her!«
Tharald packt meinen Arm und führt mein Fahrrad und mich aus dem Lichtfeld. Weg von der Schweinerei auf dem Asphalt.
»Was ist denn passiert?«, höre ich mich fragen. Es klingt einfach idiotisch.
Er sieht mich mit zwei großen braunen Augen an. Ich nehme den Geruch von Tabak und Rasierwasser wahr. »Was sollen wir eigentlich mit dir machen, Vågsvik? Hast du einen Vorschlag? Sollen wir dir das Fahrrad wegnehmen?«
Wieder schweige ich. Ich erinnere mich an unsere ersten Begegnungen. Wie sehr ich mich gefürchtet hatte. Er hat diese seltsame flüsternde Art zu sprechen, dieser Tharald. Wie einer dieser psychotischen Sheriffs, über die man in Stephen Kings Büchern lesen kann. So einer, von dem du langsam begreifst, dass er restlos verrückt ist, trotz des blendenden Lächelns, mit dem er irgendwo weit draußen in der Wüste von Nevada dein Auto anhält und deinen Führerschein sehen will. Und bald steckst du fest in einem hitzeflirrenden Albtraum.
Aber so ist Tharald nicht. Tharald ist ein milder Mann. Zurechnungsfähig und verständnisvoll. Jetzt lässt er mich zum Beispiel verstehen, dass er enttäuscht von mir ist. Denn ist es nicht so, dass wir schon zweimal über das Fahren im Dunkeln ohne Licht gesprochen haben? Doch. So ist das.
Wie zu einem kleinen Jungen.
»Was wird aus dem Tier?«, frage ich ausweichend.
Er bückt sich und drückt den Daumen auf den Dynamo. Hebt den Reifen. »Tritt zu.«
Das tue ich. Das Licht der Lampe flackert ein wenig. Unsicher. Hinter uns fährt der Krankenwagen vor. Autotüren werden geöffnet. Geschlossen.
»Kannst du zu Berit nach Hause strampeln oder muss Jenny dich fahren? Zeig mal deine Hände!«
Die zittern ein wenig, aber so schlimm ist das nicht, unter diesen Umständen. Ich bin ein Junge aus der Stadt. Ich bin nicht ans Schlachten gewöhnt.
»Ich habe keine Zeit für dich«, sagt er. »Das ist schrecklich traurig. Was sagst du? Soll Jenny dich nach Hause fahren?«
Was soll ich denn sagen? Etwas in mir, sehr viel sogar, möchte ja gern willenlos von Jenny Lydersen nach Hause gefahren werden. Möchte dort neben ihr auf der Vorderbank sitzen und die Straße auf sich zukommen sehen, während der Polizeifunk knistert. Will ihre schmale Hand auf der Gangschaltung sehen. Ihr Profil im halbdunklen Wagen. Aber die Vorstellung, in einem Streifenwagen nach Hause zu kommen, und sei es die lokale Variante … und mit ihr. Mit Jenny. Berit würde mich wie ein offenes Buch mit Großschrift für Sehbehinderte lesen können.
Deshalb lehne ich das Angebot ab. Frage stattdessen, ob ich irgendwie behilflich sein kann.
Das kann ich nicht.
Ich soll ganz einfach mit brennendem Fahrradlicht zu Berit nach Hause fahren. Sonst…
Nach zwei Kilometern tritt eine späte Reaktion ein. Das Bild des toten Tieres macht mir zu schaffen. Die verdrehten Augen. Das heraushängende Gedärm. Der Blutgeruch.
Halte am Straßenrand an und kotze ein wenig.