Читать книгу Den Oridongo hinauf - Ingvar Ambjørnsen - Страница 8

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Ich bewundere ihre Hände. Ich sitze am Küchentisch und sehe Berits Hände bei ruhiger Arbeit, und es ist ein schöner Anblick, ich kann nicht genug davon bekommen. Ich sehe, wie sie eine graue Locke wegstreicht, die vor ihr rechtes Auge gefallen ist, ein schlanker Zeigefinger, der die graue Locke hinter ihr Ohr schiebt, ehe sie mit beiden Händen den Topf von der Platte hebt und das Wasser von den Kartoffeln gießt. Sie stellt den Topf auf das abgenutzte Brettchen auf dem Tisch. Dann zieht sie den Fisch aus dem dampfenden Wasser, und die Möhren, die ganze Zeit sind diese soliden Arbeitshände in Bewegung, rot von Wasser und Spülmittel, aber zugleich elegant, schlank und stark. Das sage ich ihr. Ich sage, dass ihre Hände schön sind.

»Die rechte ist ein bisschen unzuverlässig, nach dem, was geschehen ist.«

»Her damit.«

Sie reicht mir die Hand. Steht vor mir und lächelt auf mich herab.

Ich nehme ihre Hand zwischen meine Hände. Blase durch eine kleine Höhlenöffnung zwischen den Daumen. »Du darfst sie nicht im Stich lassen«, sage ich. »Verstehst du das?«

Sie lacht. »Iss jetzt. Wie war es heute da oben?«

»Es hätte wohl besser und schlechter sein können.«

Sie schaut mich fragend an.

»Wir konnten das große Fenster oben auswechseln. Arne wollte es um jeden Preis die enge Treppe hochtragen, aber das konnte ich ihm zum Glück ausreden. Das hätte seinen Rücken erledigt.«

»Stimmt was nicht mit Arnes Rücken?«

Wir greifen zu. Ich lasse das mit Arnes Rücken erst einmal auf sich beruhen. Als sei mir etwas herausgerutscht, das ich für mich hätte behalten müssen.

Geräucherter Schellfisch. Das dampfende gelbweiße Fleisch. Perlmutt. Der Rauchgeruch. Gekochte mehlige Kartoffeln, auch sie duften. Zerlassene Butter. Knallrote Möhrenwürfel. Und dann Salz. Das gesegnete Salz. Ein heiliges Stück Alltagsnorwegen, denke ich, und dann denke ich weiter an all den Unfug, mit dem Zeitungen und Illustrierte gefüllt sind, die vielen krankhaften gastronomischen Bocksprünge, die versnobten Auslandswörter und die fremden Gewürze, ich denke an französische Bauernhofhähnchen mit Boladaise, gefüllt mit Zitronengras und sonnengetrockneten Trüffeln in Ingwergelee. Solche Dinge. An die Leber von zu Tode gequälten Gänsen. Und den ganzen anderen Blödsinn. Im Vergleich zu dem hier.

»Mit Arnes Rücken ist doch hoffentlich alles in Ordnung?«

»Sicher. Ich habe nur daran gedacht, was hätte passieren können.«

»Ja, diese Treppe ist steil.«

»Ich konnte ihm zum Glück klarmachen, dass wir es an der Wand hochhieven könnten.«

Ich erkläre ihr den Trick mit Flaschenzug und Seilen.

»Danach habe ich es mit Holzkeilen gesichert. Jetzt würde es sogar ein Erdbeben überstehen.«

Sie nickt und versteht.

Ich sehe wieder ihre Hände an, während ich mir den Mund mit diesem leicht geräucherten Fischfleisch fülle, mit den guten Kartoffeln und Möhren, ich sehe, wie ihre Hände Messer und Gabel bewegen, wie sie das Wasserglas heben und die zerlassene Butter weiterreichen. Was haben diese Hände schon alles mitgemacht? Und meine eigenen … was machen die Hände eines Menschen in einem langen Leben so alles mit? Woran haben wir uns schon festgehalten? Haben es umfasst oder von uns gestoßen? Ich weiß noch, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind, und wie unsere Hände sich zu einem höflichen Guten Tag zusammengefunden haben. Und jetzt hier, an einem normalen Tag, mit gesunder schlichter Kost auf dem Tisch. Morgen vielleicht Rinderleber. Oder Rentierragout. Und unsere Hände, die einander die ganze Zeit begegnen und sich miteinander verschränken wie gute Freunde. Wenn sie schläft, kommt es vor, dass ich ihre Wange streichele, und dann lächelt sie in der Dunkelheit, aber sie wacht nicht auf, bisher ist das jedenfalls noch nicht vorgekommen. Sie liegt da und schläft und lächelt.

Sie lächelt auch jetzt, als sie den Tisch abräumt und den Topf mit den beiden übrig gebliebenen Kartoffeln auf den Herd stellt, die Fischreste, Haut und Gräten in den Katzennapf wischt – kaum hat sie das getan, da kommt der Kater angestürzt, wie aus der Kanone geschossen, laut murrend, hungrig wie immer. Ja, sie lächelt mich an und sie lächelt den Kater an, aber ich glaube im Grunde, dass sie vor allem sich selber anlächelt, denn es ist ein etwas vages Lächeln, eine Art Kräuseln an der Oberfläche. Es ist wohl etwas, das irgendwo in ihrer geheimen Tiefe vor sich geht, davon bin ich überzeugt. Und diese Tiefe soll sie für sich behalten dürfen, da wir abgemacht haben, nicht in den gegenseitigen Tiefen herumzufischen, wir haben nach vielem Hin und Her festgestellt, dass es besser so ist. Dass nicht alles an die Oberfläche geholt werden muss, um seziert und diskutiert zu werden, denn so war es anfangs, in der schwierigen Anfangszeit, als ich beschlossen hatte, dass das hier mein neues Zuhause sein sollte, während sie sich nicht ganz so sicher war. Jetzt verlangen wir voneinander keine Erklärungen mehr für alles zwischen Himmel und Erde. Aber dennoch: Habe ich etwas gesagt? Getan? Ist dieses Lächeln nicht ein klein wenig herablassend?

Nein. Nicht. Kein Wort.

Jetzt bringt sie den Nachtisch, den norwegischen Alltagsnachtisch, sollte ich wohl sagen, es ist ein alter Bekannter aus meiner Kindheit, ein Werktagsfavorit, und zwar Knäckebrot mit Milch, und für mich mit sehr viel Zucker, Mengen von Zucker, während sie so vorsichtig und maßvoll ist … Und während sie gleich mit Essen anfängt, wenn das Knäckebrot noch knusprig und hart ist, mache ich es wie damals, mache ich es wie in Kinderzeiten zu Hause am Küchentisch, ich warte, bis die zerbrochenen Brotscheiben die Konsistenz von feuchter Pappe angenommen haben, ja, wie vom Meer ans Ufer geschwemmte Pappkartons, und Zucker wie Sand, denke ich, Zucker wie Sand, und die süße Milch in der Mundhöhle, es ist so schlicht und genial, und für einen Moment sehe ich vor mir, wie die Klerke, Horst und Evelyn van der Klerk, in unserem Haus hier in Viken eintreffen, zusammen mit den beiden Kindern, nachdem Berit und ich sie zum Essen eingeladen haben. Ja. Zwei Tage zuvor habe ich das Moped genommen, das Dreirad, und bin zum Holländerhaus gefahren, wo sie jetzt mit der Feinarbeit im Haus begonnen haben, ich will nicht viel, eigentlich nichts, es geht nur um eine Einladung zum Essen, jetzt am Mittwoch, oder vielleicht am Freitag. Sie dürfen nichts anderes erwarten als norwegische Alltagskost, zum Beispiel geräucherten Schellfisch mit Möhren und zerlassener Butter, und zum Abschluss Knäckebrot mit Milch. Was, wie ich mir jetzt insgeheim einbilde, auf sie doch einigermaßen exotisch wirken muss, oder jedenfalls fremd und spannend.

Es ist nur ein Gedanke, mit dem ich hier herumspiele. Es wird nichts dabei herauskommen. Wir sind nicht so. Wir laden niemanden ein, und wir sind damit zufrieden. Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten, und ein Tag ist wie der andere. So wollen wir das.

Und jetzt, als ich fast fertig bin, kommt Bendik Haga mit seinem Bus vorbei. Schon unten in der Senke und noch lange, nachdem er hinter der Scheune verschwunden ist, drückt er auf die Hupe. Pumpt er an der Hupe herum.

»Kümmer dich nicht um ihn«, sagt sie. »Bitte!«

Der Abwasch gehört mir. Meine bevorzugte Hausarbeit. Ich mag diese stille halbe Stunde nach dem Essen. Berit, die im Wohnzimmer beschäftigt ist. Das Geräusch des Radios oder einer Jazzplatte. Die Hände im heißen Seifenwasser. Das scharfe Licht der Leuchtröhre unter dem Hängeschrank. Ich bin gründlich. Wenn ich fertig bin, ist alles leuchtend sauber und eingeräumt. Anrichte und Tisch sind abgewischt. Und der Umgang mit dem heißen Wasser im Becken scheint mich umzuwerfen, denn nach der Arbeit bin ich immer zum Umfallen müde. Die soeben verzehrte Mahlzeit spielt natürlich auch eine Rolle, aber etwas liegt auch an diesem trüben warmen Wasser. Eine Art Ur-Erinnerung, denke ich ab und zu. Etwas, das seit den Zeiten vor der Zeit in den Genen lagert, seit den seichten Pfützen, in denen das Leben auf Erden angeblich seinen Anfang genommen hat. Das ist zumindest eine Theorie, auf die ich mehrmals gestoßen bin, und die mir plausibel erscheint. Seichte Pfützen, die von der Sonne angewärmt werden. Eine Zelle, die sich teilt, oder die mit einer anderen verschmilzt. Wir sind in Gang.

Ich bin Lilly nie begegnet. Trotzdem lege ich mich fast jeden Tag um diese Zeit in ihr Bett. Ja, nicht selten komme ich auch nachts her. Wie der Kater habe ich mehrere Stützpunkte. Alles geht nach Lust und Laune. Aber um diese Zeit, nach dem Essen, müde und satt von Essen und Abwasch, ist das hier mein Lieblingsort. Lillys enges Mädchenzimmer. Das schmale Bett unter dem schrägen Dach. Es kommt vor, dass ich die Astlöcher in der Täfelung betrachte, oder die Löcher der Heftzwecken, die die Bilder von Popstars festgehalten haben. Und dann denke ich, dass sie so gelegen hat, wie ich jetzt hier liege, aber mit anderen Gedanken und Träumen. Die Kleine. Später die junge Frau. Hier hat sie gelegen und das gehört, was ich jetzt jeden Tag höre, die Schreie der Möwen, den heulenden Wind. Das Maschinendröhnen der Hurtigrute, die Wellen, die gegen das Ufer schlagen. Aber während ich hier liege, mit einem überwältigenden Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein, endlich mein Leben an Land gebracht zu haben, hat sie hier gelegen mit ihren Sehnsüchten danach, die Insel zu verlassen, ja, sogar den Landesteil, sie hat sich die breiten Straßen in Oslo vorgestellt, das Schloss und das Parlament, sie hat sich in die Restaurants und Theater der Stadt hineinfantasiert, zusammen mit neuen und interessanten Freunden, Stadtfreunden, um nicht zu sagen, Stadtmännern, vielleicht übrigens nur einem Einzigen von der Sorte, denn sie streicht doch nicht wie eine läufige Hündin durch die Hauptstadt, dagegen ist sie hier oben sicher geimpft worden. Nur sie selbst und der Stadtmann. Ein einzelnes Glas Wein. Eine Arbeitsstelle. Eine Wohnung. Später, ein Kind. Ein normales Familienleben, aber in der Stadt, in Oslo, mit seinen Warenhäusern mit dem überwältigenden Angebot, ja, Steen & Strøm und Rolltreppen, und mit Männern, die sich benehmen können, die sich nicht in aller Öffentlichkeit in der Nase bohren, oder an noch anderen und schlimmeren Stellen, Männern mit Stil und Manieren. Und ist es nicht natürlich, denke ich. Dass du solche Tagträume über die leuchtende Stadt träumst, wenn du hier oben in Wind und Dunkelheit geboren und aufgewachsen bist, mit einem weiten Weg zum Laden, wo die anderen stehen und über dich herziehen, oder vielleicht sogar deine eigenen Eltern, da stehen sie und zerreißen sich das Maul, und wenn du hereinkommst, verstummen alle, vielleicht kichert nur die Frau an der Kasse ganz vorsichtig. Ist es da nicht natürlich, sich in die Stadt zu träumen, nach Oslo, mit seinem unbegrenzten Warenangebot und seiner wunderbaren Anonymität. Doch. Das verstehe ich. Ich verstehe ihre Sehnsucht nach hochhackigen Schuhen und Sommerkleidern schon im Mai, Sonnenschein mitten im Winter und der urbanen Gemeinschaft. Aber wenn ich versuche, mich mir selbst als kleinen Knaben in diesem Bett vorzustellen, ja, von mir aus auch als jungen Mann, geboren und aufgewachsen hier oben auf einer Insel im Meer – ja, dann würde ich nicht so denken wie sie. Nein, ich bin ganz sicher, dass das nicht der Fall sein würde. Wenn ich hier in diesem Zimmer gelegen hätte, zum Beispiel mit einem Comic oder einem Abenteuerbuch, während der Sturm am Haus riss und zerrte, und während meine Eltern unten saßen und Radio hörten, dann hätte ich im Gegenteil gedacht: Hier will ich bleiben. Ich will immer hier sein. Wenn meine Eltern sterben, werde ich sie in den kargen Boden hinter der Kirche legen, und wenn der Pastor seinen und ich meinen Spruch aufgesagt haben, werde ich zu diesem Haus hier zurückkehren. Allein oder zusammen mit einer Frau. Darauf kommt es nicht so sehr an. Ich werde draußen in der Scheune Holz hacken und es sorgfältig bis zur Decke hoch stapeln, ich werde meine eigenen Mahlzeiten und meinen eigenen Kaffee kochen, und dann werde ich mich in den Schaukelstuhl am Ofen setzen und den Wetterbericht hören. Oder dem fernen Lärm lauschen, aus dem großen Studio in Oslo. Ich werde wissen, da unten sind sie, da sitzen sie und klatschen in die Hände, ich aber lege meine in den Schoß, auf einer Insel im Meer.

Ja. Das weiß ich. Denn das dachte ich, das war mir sofort klar, als ich hierher nach Viken kam, in diesem Haus, das Berit und Magne Berits Onkel Bernt abgekauft hatten, dass vieles und allerlei so ganz anders hätte kommen können, wenn ich nur in dieser kargen Landschaft hier im Norden geboren worden wäre. Ich hätte keine großen Träume gehabt. Ich hätte garantiert nur den Traum gehabt, hier in Ruhe und Frieden meinen eigenen Kram machen zu dürfen.

Aber daran hat es in der Stadt gefehlt. An Ruhe und Frieden. Mein eigener Kram wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit.

Die Hurtigrute. Da draußen in der Dunkelheit auf dem Weg nach Norden. Das Geräusch der großen Motoren. Die Wellen, die gegen die Ebbesteine schlagen, wenn das Schiff den engen Sund passiert. Ich bin so schläfrig. Halb denke ich, halb träume ich, ich liege wieder auf der Pritsche in der abgeschlossenen Kabine, es ist so heiß und eng und ungesund, und als der Schlaf mich endlich auf die andere Seite holt, sehe ich durch die Schiffswände den grünen Dschungel, und den schwarzen Strom, der uns auf seinem breiten Rücken trägt, immer tiefer in ein Land hinein, das ich nicht kenne, das zu verstehen mir die Voraussetzungen fehlen, ich kann mich nur festklammern und hoffen, nicht aufs Beste oder aufs Zweitbeste, sondern auf etwas tief unten auf dem Wunschzettel, eine Bagatelle, die das Leben leichter machen könnte, einen kühlenden Windhauch, oder vielleicht die Erinnerung an ein Lächeln. Es riecht nach Eisen und Öl, und meine Kabine liegt in einem goldenen Lichtschein, die Schotten scheinen im Halbdunkel zu glühen, ja, in den Eisenplatten haust eine innere Glut, und draußen zieht das Verlorenland vorüber, ich höre fremde Vögel in den Bäumen schreien, sie hallen durch den Motorenlärm, durch den Dunst aus Öl und Schweiß, und durch alles andere, wie den Gestank verängstigter Männer.

Und ich träume von einem kleinen Jungen, oder einem kleinen Mädchen, das wechselt. Von einem Kind, das unter dem Bullauge am Tisch sitzt, mit baumelnden nackten Beinen und großen leeren Augen. Ein Kind, verloren in seinen eigenen Gedanken. Und es kommt vor, dass ich mit ihm rede, so, wie ich mich ab und zu an die Kleine wende, die dieses Zimmer bewohnt hat, die in diesem Bett geschlafen hat, sie, die die Tochter von Berit und Magne ist, oder zu dem kleinen namenlosen Jungen, im Grunde geht es wohl nur um ein Kind, weder Junge noch Mädchen, sondern einen Menschen, der neu ist auf einer alten Welt.

Ich erwache, und mir stößt der Geschmack des Essens auf, der geräucherte Schellfisch, meine Schultern frieren ein wenig, ich ziehe die Schlummerdecke über mich und drehe mich zur Wand. So hat sie hier gelegen und sich in ihre eigene Zukunft hineinfantasiert. Ja, ganz bestimmt. Hier. In der Dunkelheit. Nach Hausaufgaben und Abendessen. Nachdem sie Platten gehört und in Zeitschriften über Pferde und Popstars gelesen hat. So, wie ich selbst in der warmen Dunkelheit in meinem eigenen Kinderzimmer gelegen und mich in der Zeit weitergeträumt habe, mit Jahrgängen von Käptn Miki und Davy Crockett im Regal, den schmalen Comicheften, die ich jeden Mittwoch unten am Kiosk kaufte und behandelte wie wertvolle Briefmarken. Aber wovon habe ich geträumt, was habe ich mir vorgestellt, wenn ich so dalag und auf den Schlaf wartete, nachdem für den Abend das Licht gelöscht worden war? Ich weiß es nicht mehr. Doch! Ich glaube, ich habe geträumt, dass es immer so bliebe. Mutter, die draußen im Wohnzimmer beschäftigt ist. Das Dröhnen der U-Bahn-Wagen, die im Tal hin und her fahren.

Berit hat mir eine schöne kleine Geschichte aus der Zeit erzählt, als Lilly ein Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren war. Ganz unaufgefordert, sollte ich wohl hinzufügen. Es hat sich so ergeben. Wir gingen am Strand entlang, wie wir das oft machen. Da werden so seltsame Dinge angeschwemmt. Nein. So seltsam sind sie wohl nicht. Es sind Fragmente aus den gelebten Leben anderer Menschen. Ein Schuh, halb im Sand begraben. Ein Schöpflöffel. Eine Einkaufstüte mit kyrillischer Schrift. Und eines Tages erzählt Berit mir von dieser Flaschenpost, die sie Lilly zu verschicken half. Im Meer aufgegeben. Den Brief, den Lilly auf Norwegisch und einer Art Englisch geschrieben hat. Hello! I am girl! Und so weiter. Eine Papierrolle, umschlossen von Glas. Wie verletzlich! Diese kleine Mitteilung, die in der Saftflasche steckt, und die bei Flut in den Sund hinaustreibt, zwischen Granit und Quarz, mitten in der Fahrrinne. Ich konnte es mir so gut vorstellen, denn ich hatte es mir als Junge auch vorgestellt. Was sie jetzt erzählte, war das, wovon ich selbst so oft geträumt hatte, wozu ich aber niemals eine Gelegenheit gefunden hatte. Und wenn ich hier unter der Schlummerdecke liege, denke ich: Wie gespannt muss sie gewesen sein, als sie hier im Bett gelegen und an diese Saftflasche gedacht hat, die draußen in Sturm und Regen treibt, oder die mitten auf dem Meer irgendwo in Windstille und Sonnenuntergang herumdümpelt. Unterwegs zu Menschen oder Dingen, über die man nichts wissen kann. Es muss großartig gewesen sein.

»Und mehr als ein Jahr später bekommt sie Antwort«, sagt Berit. »Von einem fünfzehnjährigen Jungen. Stell dir das vor!«

Und ich stelle es mir ziemlich oft vor. Vor allem, weil es so schön ist. Wie oft habe ich wohl über Mädchen in dem Alter gelesen, die für Jungen schwärmen, die einige Jahre älter sind als sie? Sehr oft. Und dann noch ein Däne. Ein Bursche aus Jütland, der unten im Flachland herumwandert und mit den Schuhen den Sand aufwühlt, fünfzehn und unglücklich. Dann eine Saftflasche von unbekannter Marke. Eine Schriftrolle vom Toten Meer. Ein Fragment eines unbekannten Evangeliums. A girl …

Und alles in der Zeit der Unschuld. Darüber haben wir gesprochen, Berit und ich. Wie unschuldig das alles war. Denn wir lesen doch darüber in der Zeitung. Die elektronische Flaschenpost, die heutzutage durch den Kosmos gejagt wird. Die vielen fünfzehn Jahre alten Jungen, die sich als sechzig Jahre alte Onanierer mit Bierbauch und langem Sündenregister entpuppen.

Uns schaudert es.

Ich erzähle Berit nicht, was ich mir hier oben in dem verlassenen Mädchenzimmer so denke. Ich behalte diese Gedanken für mich. Mit Berit spreche ich über das tägliche Leben hier oben, und ab und zu über die Zukunft, von der wir, wie ich glaube, noch viel zu erwarten haben. Wir sind beide nicht den allerleichtesten Weg hierher gegangen, wo wir nun im Halbdunkel dasitzen und Kaffee trinken. Es hat durchaus steile Hänge und Abgründe gegeben. Und nicht wenige.

»Noch Kaffee?«

»Ja, danke.«

Ich hole die Thermoskanne und schenke für sie ein.

»Ellen hatte eine ein wenig seltsame Idee. Ich habe weder Ja noch Nein gesagt.«

»Ja, ich habe mit ihr gesprochen, ich finde, du solltest mitmachen.«

»Du hast mit ihr gesprochen? Wann denn?«

»Wann denn? Spielt das eine Rolle?«

»Natürlich tut es das! Wenn sie mit dir gesprochen hat, ehe sie mich gefragt hat, bedeutet das doch, dass ihr beide Pläne für mein Tun und Lassen schmiedet, ehe ich selbst darin eingeweiht werde.«

»Jetzt übertreib nicht! Sie hat gefragt, ob ich glaubte, dass du vielleicht bereit sein könntest, dich an einem kleinen Gespräch darüber zu beteiligen, wie es war, von außen zu kommen und sich hier auf Vaksøy niederzulassen. Das war alles. Das heißt doch nicht, dass wir Pläne für dich schmieden.«

»Nicht? Und was hat die weise Frau aus Viken geantwortet?«

»Ich habe gesagt, dass ich mir nie im Leben vorstellen kann, dass du da mitmachen würdest. Aber dass sie dich ja fragen könnte.«

Ich stelle fest, dass mir ein leicht ungläubiges Lachen entschlüpft. Jetzt muss ich mich an alle Gespräche aus dem Blauen Zimmer erinnern.

Sie stellt mit einer Bewegung, die mir als unnötig heftig erscheint, ihre Kaffeetasse auf den Tisch. »Jetzt fang bloß nicht damit an!«, sagt sie.

Ganz ohne die Stimme zu heben, erkläre ich ihr, dass ich durchaus nicht vorhabe, mit irgendetwas anzufangen.

»Wir müssen nur ein klein wenig aufräumen. Okay?«

Sie antwortet mit einem Seufzer, der mich eigentlich ziemlich wütend macht, aber das zeige ich nicht. Ich lege eine längere Pause ein, ehe ich weiterrede. Überlege. So muss das gemacht werden. Ja, ich warte so lange, dass sie offenbar glaubt, dass ich den Fall auf sich beruhen lassen will, denn als ich jetzt etwas sage, sehe ich, dass sie zusammenzuckt.

»Wir können das ja von Anfang an durchgehen«, schlage ich vor.

Leise: »Ach, du meine Güte!«

Das Letzte, was ich will, ist, sie zu quälen. Dazu bin ich auch gar nicht veranlagt. Andererseits ist es so, dass ich in dieser Angelegenheit hintergangen werde. Wenn ein Gespräch über mich geführt wird, darüber, wozu ich wohl bereit bin oder nicht, dann verlange ich, darüber informiert zu werden. Am besten im Voraus. Und jetzt, wo sie ins Fettnäpfchen getreten sind, ist es ja wohl das Mindeste, was ich erwarten kann, dass Berit erklärt, was eigentlich geschehen ist. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Und das erläutere ich hier auf ruhige und gelassene Weise.

Und jetzt wird sie eine andere. Ihre leicht resignierte Miene verschwindet. Sie lächelt und mustert mich mit dem schwedischen Blick. Den schönen Augen.

»Ist schon gut«, sagt sie. »Ich werde alle Karten auf den Tisch legen.«

Na gut. Jetzt kommt sie mir so. Sie will meinem Ernst mit ihrem Spiel begegnen. Das geschieht nicht zum ersten Mal. Indem sie ihre eigene Rolle übertreibt, will sie mir klarmachen, was sie von meiner Übertreibung hält. Das hat sie irgendwo gelernt.

Also gebe ich Kontra. Ich sage, dass ich rein gar nichts wissen will. Es kann doch eigentlich egal sein.

»Aber nicht so, mein gutester Vågsvikinger. So leicht kommst du mir nicht davon!«

Sie kommt auf mich zu und setzt sich auf meinen Schoß. Tippt mit dem Zeigefinger meine Nasenspitze an.

Für das mit dem Vågsvikinger habe ich eine Schwäche. Und für den Zeigefinger ebenfalls. Andererseits meine ich es ernst. Ich finde es gar nicht gut, wenn hinter meinem Rücken geredet wird.

»Ein kleines Gespräch«, sagte ich. »Ich hatte den Eindruck, dass es eine große Veranstaltung werden soll?«

»Ach, das hattest du also? Aber das ist doch der Anfang. Ich dachte, du hast gesagt, du wolltest wissen, wann ich mit Ellen gesprochen habe?«

»Das ist nicht so wichtig«, sage ich. »Aber war das vielleicht deine Idee, wo du dich so aufregst?«

»Weißt du was? Du bist ganz einfach unmöglich!«

»Na gut. Bringen wir die Sache hinter uns. Auf mich wartet draußen im Schuppen noch eine kleine Aufgabe. Ellen ruft an.«

»Nein. Ich begegne Ellen im Laden. Bei der Gefriertruhe, übrigens. Ich habe soeben eine Packung grüne Erbsen herausgenommen, als ich sie kommen sehe. Das war gestern, also nicht weniger als vierundzwanzig Stunden, ehe sie dich in diesen finsteren Plan eingeweiht hat, deshalb kann ich verstehen, dass du beleidigt bist. Ich hatte dich auch nicht um Erlaubnis gebeten, ehe ich in den Laden gegangen bin, ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht war es mir schnurz? Oder du hast vielleicht geschlafen?«

Pause.

»Was glaubst du? Such dir die schlimmere Antwort aus.«

Ich sage nichts. Es ist schön, wenn sie so hier sitzt.

»Es gibt also nur diese kleine Idee, die sich in Ellens Kopf festgesetzt hat«, sagt sie jetzt. »Und dass es vielleicht für viele von denen, die ihr ganzes Leben hier oben verbracht haben, interessant sein könnte, ein wenig darüber zu hören, wie jemand, der von außen kommt, diese Gemeinschaft erlebt.«

Ich lege ihr vorsichtig die Hand auf den Oberschenkel. »Ich glaube, das kann leicht zu privat werden.«

»Dass kann doch nicht passieren, wenn sie die Fragen stellt, oder? Sie ist doch meine beste Freundin!«

Ich lasse mich zurücksinken und schließe die Augen. Ihr Zeigefinger verschwindet. So sitze ich da und spüre ihre Wärme, und denke, dass es einfach unmöglich ist, ihr für längere Zeit böse zu sein. Das geht nicht. Und wenn ich mir die Sache richtig gut überlege, kann ich dieses Gespräch zwischen zwei Frauen über mich dort im Laden durchaus auch in positivem Licht sehen. Zuerst die Idee, die Ellen kommt, als sie zu Hause ist und mit ihrer Arbeit herumpusselt. Mit wem könnte man in aller Öffentlichkeit ein interessantes Gespräch führen? Wer könnte bei einem Treffen im Gemeindehaus Licht auf die Probleme werfen, mit denen ein Neuling konfrontiert wird, wenn er sich hier auf Vaksøy niederlässt? Und da meldet sich in ihr mein Name mit großer Selbstverständlichkeit zu Wort. Ulf Vågsvik. In Ulf Vågsvik hat sie einen möglichen Gesprächspartner – nicht nur über Probleme und Nachteile, sondern auch über die vielen Vorzüge, die die Insel im Vergleich zum hektischen Großstadtleben eben zu bieten hat. Denn ich habe in den beiden Jahren, in denen ich nun hier oben wohne, nicht an Munition gespart. Sie, und viele andere, wissen genau, wo mein Herz vor Anker gegangen ist. Eine vor allem negativ geladene Person auf die Bühne des Gemeindehauses zu schleppen, würde das Fiasko garantieren. Das können wir nicht zulassen. Aber bei mir kann sie sich sicher fühlen. Ich könnte vielleicht einige humorvolle Bemerkungen über das stillgelegte Hallenbad und die geschlossene Bücherei machen, aber das wäre wohl auch alles. Ich sehne mich nicht weg von hier. Ich tausche gern Chlorwasser und verstaubte Bücher gegen sauberes Meer und hohen Himmel ein. Ich könnte einige scharfe Bemerkungen über die blödsinnige Weise machen, in der norwegisches Dorfleben in Literatur und Film oft dargestellt wird. Die würdelosen Klischees. Ich meine: Haben wir hier oben mehr als einen Reinert von Neset? Mehr als einen Bendik Haga? Nein. Haben wir nicht! Und ich muss doch ein wenig lachen, als ich mir die beiden erwähnten Herren vorstelle, während ihre Namen aus meinem Mund kullern. Ehe ich mit irgendeiner selbstironischen Bemerkung allem den Stachel abbreche. Von meinem Spaziergang am Strand am Tag meiner Ankunft erzähle, zum Beispiel. Meinen ersten Fahrversuchen auf Magnes Dreirad. Hier oben gibt es vermutlich auch nur einen Ulf Vågsvik.

Aber wäre nämlicher Vågsvik bereit zu diesem öffentlichen Interview? Bereit, mit einem Glas Rotwein oben auf der Bühne zu sitzen und sich an einem Gespräch über Vaksøys Vorzüge und Mängel zu beteiligen? Davon hat Ellen Svendsen doch keine Ahnung. Deshalb ist es vielleicht doch kein Wunder, dass sie die Gelegenheit nutzt, als sie Berit begegnet, der Person, die Ulf Vågsvik unbedingt am besten kennt. Dass sie die Idee zuerst ihr gegenüber zur Sprache bringt.

Dennoch stimmt hier irgendwo etwas nicht, wenn es also zutrifft, dass Berit sofort, vielleicht sogar mit großer Überzeugung, behauptet, sich einfach nicht vorstellen zu können, dass ich zu so etwas bereit wäre.

Jedenfalls fragt Ellen mich am nächsten Tag ja doch.

Und ich denke: Warum konnte ich nicht einfach sagen, dass ich mir die Sache erst überlegen müsste? Und musste ich denn wirklich auf den Hof hinausstürzen?

Also sage ich jetzt zu Berit, dass ich ein paar Runden mit mir selbst drehen muss, dass ich aber die Anfrage, die Ellen an mich hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach mit ja beantworten werde.

Den Oridongo hinauf

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