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Kapitel 2 – Das Vorstellungsgespräch

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LONDON, ENGLAND

Mai 1834

Emily klopfte das Herz bis in den Hals, als sie an der Tür der noblen Villa klopfte, die im besten Stadtteil Londons lag. Das große, elfenbeinfarben gestrichene Haus besaß eine quadratische Form, hohe, rechteckige Fenster und auf der linken Seite einen runden Erker. Der zog sich vom Erdgeschoss bis hinauf zum flachen Dach und erinnerte Emily an ein Türmchen. Um das gesamte Grundstück führte ein hoher, weiß gestrichener Zaun sowie ein großzügiger Garten. Nur die wenigsten Bewohner konnten sich mitten in London solch ein prachtvolles Haus leisten.

Würde Daniel – der Earl of Hastings – sie wiedererkennen? Was, wenn er sie genau aus diesem Grund nicht beschäftigen wollte oder wenn er wusste, wen sie geheiratet hatte?

Es war ihr peinlich, bei ihm vorzusprechen, aber Emily brauchte die Anstellung dringend. Sie konnte und wollte ihrer Freundin nicht länger auf der Tasche liegen, auch wenn Claire ihr versichert hatte, dass das in keinster Weise der Fall war. Doch es wurde längst Zeit, endlich auf eigenen Beinen zu stehen – schließlich war sie schon achtundzwanzig Jahre alt!

Sie strich ihr einfaches cremeweißes Kleid glatt, froh, Handschuhe zu tragen, die ihre feuchten Hände verbargen, richtete ihre Haube und hielt die Luft an, als ihr ein grauhaariger Butler öffnete. Er konnte kaum noch gerade stehen, aber der Blick aus seinen wässrigen Augen war scharf auf sie gerichtet. »Sie wünschen?«

Emily räusperte sich leise. Sie kannte den Mann! Es war derselbe, der auch schon für Daniels Eltern gearbeitet hatte. »Ich komme wegen der ausgeschriebenen Stelle. Mein Name ist Mrs Rowland.«

Sie benutzte bewusst nicht ihren Titel, um bloß kein Aufsehen zu erregen und zu verraten, wer sie wirklich war. Zum Glück war ihr Ehemann in London nicht allzu bekannt gewesen und seine wenigen »Freunde« hatten ihn »Edward« oder »Ed« gerufen.

Der Butler trat zur Seite und bat sie mit einer Handbewegung ins Haus. »Bitte folgen Sie mir, Mrs Rowland.«

Sie wartete, bis er die Tür geschlossen hatte, und schritt langsam hinter ihm her. Sie hatte jedoch kaum Blicke für den leicht gebückt laufenden Bediensteten übrig, denn die Einrichtung des Hauses erweckte ihr Interesse. Wie in den meisten noblen Anwesen war auch dieser Eingangsbereich schachbrettartig gefliest. Antike, vermutlich römische und griechische Statuen standen hier und da auf Säulen verteilt; fliederfarbene Tücher schmückten die Wände. Emily erkannte definitiv eine weibliche Note, aber auch Daniels Geschmack und sein Faible für alte Kulturen.

Als der Butler sie in einen kleinen bordeauxfarbenen Salon brachte, stockte ihr Herzschlag und ihre Hoffnung auf eine Anstellung sank gen null. Bestimmt zehn weitere Frauen, junge wie alte, saßen auf den edlen Polstern, nippten schweigend an ihren Teetassen und starrten sich böse an, als ob das helfen würde, ihre Konkurrentinnen aus dem Spiel zu nehmen.

Oh nein, sie war also nicht die Einzige, die sich eine gut bezahlte Arbeit bei Daniel … bei dem Earl of Hastings erhoffte. Wie hatte sie das auch nur glauben können?

Meistens erhielten Kindermädchen nicht mehr als Kost und Logis. Aber in der Anzeige, die Emily gestern in der Zeitung »The Times« gefunden hatte, stand etwas von einer großzügigen, monatlichen Apanage, mit der sie sich schon nach wenigen Jahren in Daniels Diensten ein neues Leben aufbauen könnte. Denn erneut zu heiraten, kam für sie nicht in Frage.

Sie setzte sich auf den letzten freien Platz des Sofas, woraufhin sie von einer fülligen Alten und einer biestig dreinschauenden Jüngeren eingerahmt wurde. Emily lächelte müde und nickte den Damen zu, danach ließ sie sich von einem anderen Diener, der hier bereitstand, Tee einschenken, den sie dankend entgegennahm.

Vielleicht sollte sie lieber gleich wieder gehen …

Die kleine Rebellin in ihr, die sie lange nicht mehr gehört hatte, beschwerte sich lautstark: Wie kannst du jetzt ans Aufgeben denken? Nun bist du schon einmal hier – was hast du zu verlieren?

Das stimmte. Außerdem war Emily neugierig, wie Daniel jetzt aussah. Ob er sich stark verändert hatte?

Möglichst unauffällig spähte sie über den Rand ihrer Tasse, um die anderen Frauen zu beobachten und vielleicht etwas über sie zu erfahren. Natürlich konnte sie in keine hineinsehen, und deren Kleidung verriet auch nicht viel über ihre Kompetenzen. Fast alle wirkten so, als wären sie der bevorstehenden Aufgabe gewachsen – bis auf ein Mädchen, das Emily auf keine fünfzehn Jahre schätzte. Nervös knabberte sie an ihren Fingernägeln und zog geräuschvoll ihre triefende Nase hoch, was ihr von den anderen Anwesenden empörte Blicke einbrachte.

Emily wog ihre Optionen ab. Sie besaß Manieren und hatte eine gute Ausbildung genossen – beziehungsweise hatten ihre Eltern, Gott habe sie selig, keine Kosten bei ihren Hauslehrern gescheut. Zudem war sie die Tochter eines Baronets. Zwar ohne Titel – wenn sie ihre kleine Schwindelei durchzog –, aber sie stammte aus gutbürgerlichem Hause. Außerdem hatte sie bisher Claires Kindermädchen bei der Versorgung der Zwillinge unterstützt. Sie konnte Windeln wechseln, wusste, wie man ein Baby oder Kleinkind beruhigte und welche Tees bei Fieber oder Bauchschmerzen halfen. In den letzten drei Jahren hatte sie viel gelernt. Hoffentlich waren das gute Voraussetzungen, die Stelle zu bekommen. Ihre Trauerzeit war auch vorbei, weshalb sie keinen schwarzen Stoff mehr tragen musste und nicht länger aussah wie der Tod. Claire hatte ihr einige ihrer älteren Kleider geschenkt, und Emily hatte sie selbst etwas enger genäht. Ja, sie fand, sie wirkte darin sehr anständig und vertrauenerweckend, aber leider unterschied sie sich auch kaum von den meisten anderen Frauen. Daniel würde sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Oder suchte er womöglich gar nicht persönlich das neue Kindermädchen aus? Schließlich war er ein Adliger – ein Peer.

Hätte Emily ein eigenes Kind und wäre reich, würde sie sehr wohl selbst bestimmen wollen, wer ihr Baby von nun an versorgen, in den Armen halten, streicheln würde … Sie schluckte hart bei dem Gedanken, nie ein eigenes Kind bekommen zu können, und versuchte sich lieber eine Strategie zurechtzulegen, um diesen Kampf zu gewinnen. Früher hätte sie auch nicht einfach aufgegeben. Doch als sich die Tür öffnete und der Butler die erste Bewerberin bat, mit ihm zu kommen, konnte sie sich kaum noch konzentrieren. Außerdem schien es Ewigkeiten zu dauern, bis er die nächste aus dem Salon führte, und bei jedem Mal dachte Emily, der Angestellte würde nun den Rest von ihnen nach Hause schicken, weil das perfekte Kindermädchen längst gefunden war. Sie hoffte, dass sich Daniel erst einmal alle der Reihe nach anschaute, bevor er sich entschied.

Die Minuten zogen sich ins Endlose, und auch die Zeiger der alten Standuhr, die in einer Ecke lautstark vor sich hintickte, schienen immer langsamer zu wandern.

Zwei Stunden später, als sie ganz allein auf dem Sofa saß und das Warten kaum noch aushielt, holte der alte Butler auch sie endlich. Sie folgte ihm die marmornen Stufen mit der bronzenen Balustrade nach oben in den ersten Stock. Weiche Teppiche dämpften ihre Schritte, als sie durch einen dunklen Flur schritten, in dem Portraits hingen. Emily erkannte die Gesichter von Daniels Eltern und auch ihn selbst als jungen Mann. Auf dem Bild wirkte er unglaublich ernst und beinahe ein wenig gelangweilt. Sein dunkles Haar war akkurat gekämmt und seine Kleidung saß perfekt.

Sie verkniff sich ein Grinsen, denn ganz bestimmt hatte er sich gelangweilt, als er so viele Stunden lang vor dem Maler stillsitzen musste. Während der Butler an eine Tür klopfte und sie ankündigte, verging ihr das Lächeln jedoch sofort wieder, als ein Mann von innen rief: »Nur herein, Smithers!« Nun wurde es ernst.

Ihre Knie zitterten, während sie eintrat, und sie krallte die Finger in den kleinen Stoffbeutel, in dem sich etwas Geld, das sie sich mit Nähen verdient hatte, die alte Uhr ihres Vaters und ein Taschentuch befanden. Die Sonne schien durch zwei hohe Fenster und Staub glitzerte in dem goldenen Licht. Kurz kniff Emily die Lider zusammen, weil sie ein Lichtstrahl im Gesicht traf, weshalb sie für einen Moment bloß völlige Schwärze wahrnahm. Das Arbeitszimmer war allerdings auch recht düster eingerichtet worden und die mahagonibraunen Möbel stammten gewiss noch von Daniels Vater. Es roch nach Tinte, Papier und Leder; in einem großen Regal an der Wand reihten sich viele dicke Bücher aneinander.

Emily ließ den Blick schweifen, und ihr stockte der Atem, als sie erkannte, wer hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß. Daniel! Beinahe hätte sie seinen Namen ausgesprochen und wäre auf ihn zugelaufen, um ihn zu umarmen. Plötzlich wollte sie ihrem Freund aus Kindertagen erzählen, was sich in den letzten Jahren zugetragen hatte, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig. Bestimmt war er nicht länger der leicht rebellische Junge von damals. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt – ein ernster und gewissenhafter Earl. Außerdem schien ihr gesamter Körper schlagartig gelähmt zu sein, bis auf ihr Herz, das donnerte wild in ihrer Brust.

Kurz sah er von seinen Papieren auf, in die er stirnrunzelnd vertieft war, und sagte: »Bitte setzen Sie sich, Mrs …« Er blickte erneut auf einen Zettel. »Rowland.«

Im Grunde dürfte sie sich »Viscountess« schimpfen oder »Lady Rowland«. Aber sie wollte weder mit ihrem verstorbenen Gatten noch mit seinem Titel etwas zu tun haben und die Vergangenheit nur noch hinter sich lassen, um ein neues Leben zu beginnen. Da sie bis zum Tod ihres Mannes einige Jahre auf dem Land gelebt hatte, hoffte Emily, dass Daniel der Name »Rowland« nicht geläufig sein würde.

Der Butler brachte sie noch bis zu dem gepolsterten Stuhl, der gut einen Meter vor dem Schreibtisch stand, sodass sie Daniel direkt gegenübersitzen würde.

»Einen schönen guten Tag, Lord Hastings«, murmelte sie, während sie Platz nahm, und konnte den Blick einfach nicht von Daniel nehmen. Immer noch starrte er in seine Papiere und machte sich mit einem modernen Füllfederhalter Notizen, weshalb eine dicke Locke in seine Stirn fiel. Wäre das nicht »ihr« Daniel, würde sie sich jetzt brennend für das außergewöhnliche, edle Schreibgerät interessieren, von dem sie schon viel Gutes gehört hatte. Daniel sah ausgezeichnet aus, besser als damals, nur dass er sie heute viel mehr fesselte als früher. Waren seine Wimpern schon immer so lang und dicht gewesen? Und seine Wangenknochen so hoch? Die Lippen so wundervoll geschwungen?

Da der Butler den Raum längst verlassen hatte, erlaubte sie sich, Daniel weiterhin zu mustern, solange er abgelenkt war. In seinem dunklen Haar zeigten sich erste graue Strähnen und in seinen Augenwinkeln ein paar Fältchen. Das ließ ihn bloß noch männlicher wirken.

Seine Finger waren lang und schlank, die Nägel gepflegt. Wenige Härchen wuchsen auf seinem Handrücken, doch mehr Haut bekam sie leider nicht zu sehen. Wie es sich für einen Mann seines Ranges gehörte, trug er ein Krawattentuch, eine dünne Jacke aus einem feinen, dunkelgrünen Stoff, darunter eine schwarze Weste … alles perfekt auf seine breiten Schultern zugeschnitten.

Daniel legte den Federhalter zur Seite und blickte ihr direkt in die Augen. »Sie sind also wegen der ausgeschriebenen Stelle als Kindermädchen hier, Mrs Rowland?«

Sie setzte sich kerzengerade hin und versuchte, ihn nicht anzustarren, schließlich gehörte sich das nicht. »So ist es, Mylord.« Sie wunderte sich, wie ruhig ihre Stimme klang, denn durch ihren Körper schien ein Wirbelwind zu fegen. Außerdem wurde ihr heiß und kalt. Was, wenn Daniel sie erkannte?

Zum Glück hatte sie sich sehr verändert und sie waren sich, nachdem Daniels Eltern zurück in diese Villa gezogen waren, nie wieder über den Weg gelaufen. Bestimmt hatte er sie längst vergessen. Doch das war gut. Besser, er wusste nicht, wer sie war. Das würde für Emily vieles einfacher machen. Sie wollte ein professionelles Arbeitsverhältnis und vor allem Distanz bewahren.

»Sie sind verheiratet?«, fragte er als Nächstes.

»Seit ein paar Jahren Witwe.«

Sein Blick ruhte etwas länger als gewöhnlich auf ihr. »Mein Beileid.«

»Danke, Mylord.« Hastig senkte sie den Kopf, und Übelkeit explodierte in ihrem Magen. Gerade rechtzeitig bemerkte sie, dass sie die Finger in ihren Stoffbeutel krallte, und entspannte sie schnell wieder.

Was, wenn er sie über ihren Mann ausfragte? Oder Papiere von ihr verlangte?

Sie wollte diese auf keinen Fall vorzeigen und so ihre wahre Identität enthüllen. Besser wäre es vielleicht, zu behaupten, sie wären verbrannt …

Nein, es tat ihr schon genug weh, ihren alten Freund anzulügen. Wobei sie bis jetzt nicht direkt gelogen hatte, bloß ein paar Fakten verschwiegen.

Zum Glück schien er sie nicht zu erkennen. Von ihrer Mutter hatte sie erfahren, was sich in seinem Leben nach dem Auszug aus dem Stadthaus getan hatte: Mit jungen fünfundzwanzig Jahren hatte er die zweite Tochter eines Marquise geheiratet und war mit ihr hierher gezogen, nach Mayfair, dem exklusivsten Londoner Stadtteil. Zuerst in ein eigenes kleines Haus, später, nach dem Tod seiner Eltern, in diese Villa.

Die restlichen Neuigkeiten hatte ihr Claire erzählt, nachdem Emily bei ihr Unterschlupf gefunden hatte: Lange waren Daniel und seine Frau Imogen kinderlos geblieben, und erst letztes Jahr hatte sie ihm eine Tochter geschenkt: Sophia. Doch das Schicksal hatte Imogen Appleton nur wenige Tage nach der Geburt aus dem Leben gerissen. Als Emily die Todesanzeige in der Zeitung gelesen hatte, wäre sie am liebsten sofort zu Daniel geeilt, um ihn zu trösten. Seine Eltern waren tot, genau wie ihre, und er hatte keine Geschwister. Wie allein musste er sich gefühlt haben … Sie hatten einiges gemeinsam.

Er war mit seiner Frau neun Jahre verheiratet gewesen, Emily mit Edward sieben. Sieben unendlich lange Jahre. Sicher war es Lady Hastings nicht so schlimm ergangen wie ihr, oder?

Man konnte leider in niemanden hineinblicken. Weder Emily noch ihre Eltern hatten Edwards wahren Charakter zu sehen bekommen, zumindest nicht, bevor der Mistkerl alles an sich gerissen hatte …

Als Daniel sie stirnrunzelnd musterte, ihren Nachnamen murmelte und plötzlich aufstand, wäre Emily fast aufgesprungen. Er schlenderte auf ein Tischchen zu, das neben dem kalten Kamin stand, und goss sich aus einer Karaffe eine goldbraune Flüssigkeit in ein Glas – vermutlich Brandy.

Emilys Atem stockte, als er mit dem Getränk in der Hand zwischen ihr und seinem Tisch hindurchschritt und zum Fenster ging. Daniel war deutlich größer als damals und besaß vor allem viel mehr Muskeln, dafür fehlte der Bauchansatz, den viele Männer in seinem Alter vor sich hertrugen. Vor allem seine breiten Schultern beeindruckten Emily. Und er roch so gut! Nach Sandelholzseife und seinem eigenen, männlichen Duft.

Ihr Herzschlag flatterte, als er das Glas an seine Lippen setzte und etwas Brandy nippte.

Edward hätte den Drink längst gierig hinuntergestürzt und sich einen weiteren eingeschenkt.

Endlose Sekunden lang richtete Daniel den Blick aus dem Fenster, als würde er nicht nur dem Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge nachschmecken, sondern angestrengt über etwas nachdenken.

Als er ihr direkt das Gesicht zuwandte, schien sich sein intensiver Blick wie Nadeln in sie zu bohren.

Emily zuckte leicht zusammen.

Hatte er sie erkannt? Oder sah er ihr an, was sie getan hatte? Überlegte er, solch eine Frau wie sie niemals in die Nähe seiner Tochter zu lassen?

Emily schluckte hart und versuchte, sich möglichst normal zu verhalten. Deshalb schenkte sie Daniel ein zittriges Lächeln, aber viel lieber hätte sie jetzt geweint. Doch sie hatte gelernt, ihre Tränen zu verbergen, genau wie sie ihre düstere Vergangenheit so gut sie konnte vor allen versteckte, damit die Wahrheit niemals ans Licht kam. Nicht einmal ihre Freundin wusste, was ihr alles zugestoßen war und was … für ein Verbrechen sie begangen hatte.

Er kann es unmöglich erahnen, beruhigte sie sich. Selbst dem Arzt, der den Tod ihres Mannes festgestellt hatte, war nichts Verdächtiges aufgefallen.

Daniel schlenderte zurück und blieb genau zwischen ihr und dem Schreibtisch stehen. Er stellte das Brandyglas darauf ab, wandte sich ihr zu und lehnte sich lässig gegen die Platte. Schließlich stützte er die Hände hinter sich ab, sodass sich der Stoff seiner Weste über seinen leicht gewölbten Brustmuskeln spannte.

Himmel, woher hatte er all diese Muskeln?

Emilys Mund wurde ganz trocken, ihr Herzschlag trommelte hart gegen ihre Rippen. Was hatte er nur vor? So verhielt sich kein Adliger!

Während er sie intensiv musterte und ihr nichts anderes übrig blieb, als seine große Gestalt zu bewundern, die sich viel zu dicht vor ihr befand, hob sich plötzlich einer seiner Mundwinkel. Zusätzlich stahl sich ein Funkeln in seine grauen Augen. Auf einmal sah er nicht mehr wie ein Lord aus, sondern wie ein Pirat!

In ihm steckte wohl immer noch ein Rebell, denn ein Mitglied des Hochadels sollte stets Contenance bewahren!

»Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragte er, wobei seine Stimme schlagartig dunkler klang.

In ihrem Magen prickelte es, als hätte sie Schaumwein getrunken, und sie wollte Daniel nur noch auf diese sinnlichen Lippen küssen, die er fast schon spöttisch verzog.

Er stand kurz davor, sich an sie zu erinnern, falls er das nicht längst hatte. Spielte er nun mit ihr?

Sie sollte ihm auf der Stelle gestehen, wer sie war, doch ihre Zunge schien gelähmt zu sein. Anlügen konnte sie ihn aber auch nicht länger! Nicht ihren Daniel … Deshalb starrte sie ihn einfach nur an und presste die Kiefer aufeinander. Mist, was jetzt? Gehen und Claires Angebot annehmen, in Zukunft die Gouvernante ihrer Zwillinge zu werden?

Anstatt die Flucht ergreifen zu wollen, dachte sie unentwegt daran, wie sich Daniels Lippen auf ihrem Mund anfühlen würden. Das, was sie gerade spürte, dieses Kribbeln in ihrem Magen und das sanfte Pochen zwischen ihren Schenkeln, hatte sie bisher bei keinem anderen Mann wahrgenommen. Ein Funken, der nie erloschen war, fraß sich durch ihren Körper und entzündete in rasanter Geschwindigkeit jede einzelne Zelle, bis ein Großbrand in ihr wütete. Sie hatte geglaubt, über Daniel und alle anderen Männer dieser Welt hinweg zu sein, schließlich war sie damals bloß ein kleines, verträumtes Mädchen gewesen! Aber die alten Gefühle flammten urplötzlich wieder auf und loderten höher denn je, als hätte nie ein halbes Leben zwischen ihnen gestanden.

Lauernd starrte er sie an wie eine Großkatze, die jede Sekunde über ihre Beute herfallen würde oder … wie ein Lüstling! Schlagartig blieb ihr die Luft weg und sie wurde sich bewusst, dass sie sich ganz allein mit einem großen, starken Mann in diesem Raum befand. Sie hätte nicht die geringste Chance gegen ihn! Nun raste ihr Herz aus Furcht so schnell und die warmen Gefühle in ihrem Magen wichen einem eisigen Stechen.

Allein …

Emily war jetzt keine Lady mehr, die eine Anstandsdame brauchte, sondern eine verwitwete, einfache Frau – eine Bedienstete! Es gab Herren, die nutzten ihre Stellung aus, um von ihrem Personal gewisse Gefälligkeiten zu fordern, oder sie würden denjenigen entlassen. Viele gingen auf diesen abartigen Handel ein, weil sie sonst auf der Straße landeten.

War Daniel vielleicht solch ein Mann? Einer, der seine Macht missbrauchte?

In ihrem Kopf drehte sich alles, als sie sich an die langen, einsamen Monate in Edwards Landhaus erinnerte. Ohne ihre Zofe Mary, ohne die Briefe an Claire und die Gartenarbeit wäre sie wohl durchgedreht. Emily war oft allein mit Edward und meist war keiner in der Nähe gewesen, der mitbekam, was er ihr antat … Hastig schüttelte sie die qualvollen Erinnerungen ab. Hier war sie nicht allein, Daniel besaß viele Angestellte.

Als er sich plötzlich straffte und hinter seinen Schreibtisch setzte, atmete sie auf. Nicht jeder Mann musste solch ein Widerling wie Edward sein. Daniel war ein Mann von Ehre!

Langsam kehrte sie zurück ins Hier und Jetzt. Was hatte sie sich zuvor bloß ausgemalt? Daniel würde weder über sie herfallen, noch sie jemals küssen. Außerdem durfte sie sich keine Chancen bei ihm ausrechnen, auch wenn sie beide verwitwet waren. Ihr Leben war nun einmal kein Märchen, sondern bittere Realität. Bestimmt hatte er nach dem Tod seiner Frau viele Verehrerinnen und sich bereits erneut verlobt, schließlich brauchte er einen männlichen Erben.

Er war ein Earl und sie ein Nichts, eine Frau ohne Rang und Namen, die ihm niemals ein Kind schenken konnte.

Emily, woher kommen denn plötzlich diese Gedanken?, schalt sie sich. Sie wollte nie wieder von einem Mann abhängig sein! Leider konnte sie ihre Gefühle für Daniel nicht abstellen.

Himmel, sie sollte gehen. Bräuchte sie das Geld nicht dringend, würde sie sofort umdrehen und davonlaufen, um ihr Herz, das bereits genug gelitten hatte, zu schonen. Denn wie sollte sie es nur ertragen, mit dem attraktivsten Lord von ganz London unter einem Dach zu leben, wenn sie niemals mit ihm zusammen sein konnte?

Ein Lord wie kein anderer

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