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Kapitel 3 – Lady Rowland
ОглавлениеDaniel glaubte, der Frau schon einmal begegnet zu sein, und er war tief in Gedanken versunken gewesen, während er sie gemustert hatte, anstatt sie nach ihren Reverenzen zu fragen. Doch dann hatte sie verängstigt zu ihm aufgeblickt, woraufhin er sofort auf Abstand gegangen war.
Verdammt, was hatte er sich nur dabei gedacht, sie dermaßen zu bedrängen? Er verhielt sich ihr gegenüber, als würden sie sich bereits ewig kennen! Zumindest ihm kam es so vor. Sie wirkte vertraut auf ihn, aber vielleicht hatten das Kindermädchen einfach an sich. Mrs Rowland, hingegen, schien sich plötzlich unwohl zu fühlen.
Daniel räusperte sich, tat so, als würde er etwas notieren, und blickte schuldbewusst von seinen Papieren auf, weil die Frau keinen Laut mehr von sich gab – seinetwegen. Verflucht, er hatte sie bestimmt nicht einschüchtern wollen! Sie war für heute die letzte Kandidatin und er froh darüber, denn ihm brummte bereits der Schädel. Dieses Auswahlverfahren nervte ihn, und bisher hatte ihm noch keine Bewerberin wirklich zugesagt, bis auf Mrs Rowland. Sie machte von allen den besten Eindruck. Hoffentlich hatte er sie nicht vergrault.
Er wünschte, seine Frau würde noch leben. Imogen hatte das erste Kindermädchen für ihre Tochter ausgesucht, doch leider musste Lizzy Brooks ihn nun aus privaten Gründen verlassen. Daniel hätte nie gedacht, dass es so schwer werden würde, eine geeignete Person zu finden, der er Sophia anvertrauen würde.
Er beherrschte sich, die letzte Kandidatin nicht wieder ausgiebig zu betrachten, aber es fiel ihm schwer, den Blick von ihr abzuwenden. Mrs Rowland … Er musste zugeben, dass sie die schönste von allen war, die heute auf diesem Stuhl Platz genommen hatten.
Daniel bildete sich das nicht ein – sie kam ihm vertraut vor. Doch er wusste nicht woher! Erneut versuchte er, sie zu mustern, aber diesmal weniger direkt. Ihre Haut war nicht so bleich wie die vieler anderer Frauen. Bestimmt ging sie mit den Kindern oft vor die Tür. Winzige Sommersprossen verteilten sich um ihre Nase, ihre Lippen wirkten rosig und voll, und unter ihrer Haube lugte eine gekringelte, rote Locke hervor. Sie musste schrecklich aufgeregt sein, weil sie völlig vergessen hatte, den Hut abzunehmen. Am meisten fesselte ihn jedoch dieser tropfenförmige Leberfleck an ihrer Wange, der beinahe wie eine Träne aussah. Wo hatte er dieses Mal bloß schon einmal gesehen?
Kurz blitzte das Gesicht eines rothaarigen, blassen Mädchens vor seinem geistigen Auge auf. Jetzt wusste er, warum sie ihm so vertraut vorkam. Mrs Rowland erinnerte ihn an Emily Collins!
Daniel hielt für einen Moment die Luft an. Konnte es sein …
Seine Mutter hatte ihn vor ein paar Jahren gefragt, kurz bevor sie an einer Lungenentzündung gestorben war, ob er sich noch an das Nachbarsmädchen Emily erinnern könnte. Mutter war völlig aus dem Häuschen gewesen, weil sie einen Viscount geheiratet hatte! Daniel hatte damals so viele andere Dinge im Kopf gehabt, dass er danach gar nicht mehr an sie gedacht hatte. Doch wie hatte er sie bloß vergessen können, die kleine, viel zu dünne Em mit den Sommersprossen um ihre süße Stupsnase und der wilden feuerroten Mähne? Er fühlte sich gerade richtig schlecht. Daniel hatte ihre Gespräche genossen, denn sie hatten ihn von seinem Studium und den zukünftigen Verpflichtungen abgelenkt. Natürlich hatte er bemerkt, wie verliebt Em in ihn gewesen war, was er amüsant gefunden hatte. Doch damals war sie ein Kind gewesen und hatte nicht im Geringsten dasselbe Interesse in ihm geweckt. Jetzt saß eine erwachsene Frau vor ihm. Eine, die einen anderen Mann geheiratet hatte und vielleicht immer noch um ihn trauerte und … die Daniel bestimmt für einen Schwerenöter hielt. Er hatte sie angestarrt wie Casanova persönlich!
Er musste sichergehen, ob sie es wirklich war. Denn wenn es stimmte, was Mutter ihm über Emily Collins’ Heirat erzählt hatte, konnte die Frau vor ihm unmöglich dieselbe Person sein. Doch wie hoch waren die Chancen, dass hier jemand saß, der rote Haare, Sommersprossen und diesen ganz besonderen Leberfleck hatte? Dazu diese grünbraunen Augen, die ihn damals schon mit so viel Neugierde betrachtet hatten …
Als sie sich mit dem kleinen Finger schnell am Nasenrücken kratzte, stockte Daniel der Atem. Sie war Emily Collins! Genau dasselbe hatte sie immer gemacht, wenn er sie in Verlegenheit gebracht hatte! Bloß war sie nicht mehr das dünne Mädchen von damals, sondern eine wunderschöne Frau.
»Em«, flüsterte er fassungslos. »Du bist Emily Collins!«
Als sie ihre schönen Augen aufriss und ihn erschrocken anstarrte, hatte er seine Antwort.
»Du bist es wirklich!«
Ihr Blick huschte zur Tür, und das erweckte bei ihm den Eindruck, als würde sie davonlaufen wollen.
Was suchte sie hier? Wollte sie ernsthaft für ihn arbeiten? »Warum hast du dich mir nicht zu erkennen gegeben?«
Es machte ihn bald verrückt, dass sie kein Wort mehr sagte!
»Ist das ein Scherz, Em? Du wolltest mich besuchen und mir einen Streich spielen, so wie früher, oder?«
Plötzlich blinzelte sie aufsteigende Tränen hinfort und schüttelte leicht den Kopf.
Da wusste er: Sie wollte tatsächlich für ihn arbeiten.
»Himmel, Em …« Er erhob sich, um erneut um seinen Tisch zu gehen. Doch diesmal blieb er nicht vor ihr stehen, sondern ging in die Hocke, sodass er zu ihr aufsehen musste. »Du hattest Angst, dass ich dich nicht einstelle, weil … du jetzt eine Lady bist.«
Erneut riss sie die Augen auf und keuchte leise. »Woher …«
»Meine Mutter hat mir vor Ewigkeiten von deiner Heirat erzählt«, unterbrach er sie. Nun erinnerte er sich auch, wie er sich damals für Emily gefreut hatte. Jetzt wirkte sie alles andere als glücklich.
Sie zog die Füße zurück unter ihr Kleid, aber Daniel hatte ihre leicht abgenutzten Schuhe längst bemerkt. Auch die feinen Spitzenhandschuhe waren nicht mehr die neusten. Sie schien tatsächlich von einem eigenen Einkommen abhängig zu sein, aber … er konnte sie unmöglich einstellen. Es würde einen Skandal geben, wenn er eine Viscountess als Kindermädchen beschäftigte! »Ich muss die Wahrheit wissen, Emily, und sie bleibt auch unter uns: Warum bist du auf eine Anstellung angewiesen? Dein Mann war ein Viscount. Hat er dir denn nichts hinterlassen?«
Ohne einen männlichen Erben gingen der Titel und die Ländereien entweder an den nächsten männlichen Verwandten oder zurück an die Krone. Aber alles, was ihr Mann selbst erwirtschaftet hatte, jeglichen Zugewinn, durfte er ihr vermachen.
»Er …« Schlagartig wirkte ihr Gesicht blutleer. »Bitte schwöre mir, dass du niemandem erzählst, wer ich bin!«
Daniel nickte ernst und konnte es kaum erwarten, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. »Du kannst auf mein Wort zählen, Em. Was ist denn passiert?«
Zitternd atmete sie aus und senkte den Blick. »Edward hat sein gesamtes Vermögen verspielt und auch das Geschäft, das mein Vater ihm vermacht hat, heruntergewirtschaftet. Ich habe erst nach Edwards Tod von seinen immensen Schulden erfahren. All sein Besitz ging an einen entfernten Verwandten, der Edward noch nie persönlich gesehen hat. Er hat Edwards Gläubiger ausgelöst. Ich konnte ihn dazu bringen, wenn ich selbst auf jegliche Versorgung seinerseits verzichte, dass er auch Vaters ehemaligen Angestellten eine kleine Abfindung zahlt. Für mich war von Edwards Seite aus keine Absicherung vorgesehen. Ich hatte Glück, dass mich meine Freundin Claire bei sich aufgenommen hat.« Neue Tränen schimmerten in ihren Augen, woraufhin sich Daniels Herz verkrampfte. Sie wirkte unendlich verzweifelt.
»Oh Em, das tut mir so leid.« Er hob die Arme, um ihre Hände in seine zu nehmen, und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. Dabei kam er ihr so nah, dass ihn ihr Duft umgab. Sie roch nach Zitronen und Rosen. »Ich kann dir Geld leihen.«
Vehement schüttelte sie den Kopf und hob empört die Brauen. »Deshalb bin ich nicht hier. Ich will eine ehrliche Arbeit!«
Er schmunzelte innerlich. Stur wie eh und je. »Das wird aber gewiss nicht leicht werden für eine Lady.«
Ihre Hände unter seinen Fingern ballten sich zu Fäusten. »Ich will nichts mehr mit Edward und seinem Titel zu tun haben, und am liebsten würde ich auch seinen Nachnamen nicht mehr tragen!«, spie sie ihm energisch entgegen und murmelte kurz darauf: »Entschuldigung.«
Sie wirkte so verzweifelt, dass er es nicht übers Herz brachte, ihr eine Absage zu erteilen. Emily würde wahrscheinlich auch nirgendwo anders eine Anstellung bekommen. Es gab sehr viel mehr Frauen, die als Nannys oder Gouvernanten arbeiten wollten, als freie Stellen. Smithers hatte bereits an der Haustür eine Vorauswahl getroffen und allein heute sicherlich hundert verzweifelte Frauen abgewiesen.
Ja, er würde Emily einstellen. Außerdem brannte er darauf, ihre ganze Geschichte zu hören, denn da steckte mehr dahinter, als sie zugab.
Im Moment genoss er jedoch einfach nur ihre Nähe und dass sie miteinander redeten, fast so wie früher. Emily machte keine Anstalten, ihre Hände zurückzuziehen, und ließ diese Intimität zu. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Eine gefühlte Ewigkeit …
Sie hatten sich völlig aus den Augen verloren, als Vater ihn für ein paar Jahre auf die Militärakademie in Sandhurst geschickt hatte. Als Daniel heimkam, waren seine Eltern längst aus dem Stadthaus gezogen und in ihre frisch renovierte Villa zurückgekehrt, die nun ihm gehörte, wie alles, was Vater ihm hinterlassen hatte. Er musste sich keine Sorgen um seine Zukunft machen und wollte sich nicht ausmalen, wie sich Emily jetzt fühlte. Sie schien wirklich alles verloren zu haben.
»Du hast also keine Kinder?«, fragte er vorsichtig. Sie könnte vielleicht eine Tochter haben, so wie er. Immer noch hielt er ihre Hände in seinen, aber mittlerweile hatten sich ihre Finger entspannt.
Sanft schüttelte sie den Kopf.
Das erleichterte ihn ein wenig. Sie musste sich nur um sich kümmern. »Wieso möchtest du denn ausgerechnet als Nanny arbeiten? Hast du Übung im Umgang mit kleinen Kindern?«
Ihre Miene erhellte sich. »Ich habe dem Kindermädchen meiner Freundin mit den Zwillingen geholfen. Sie konnte in den ersten Jahren jede zusätzliche Hand gebrauchen.«
Bestimmt hatte Emily viel Erfahrung sammeln können. Seine Tochter war kein Baby mehr, krabbelte längst und versuchte auch schon die ersten Schritte, wie Lizzy ihm erzählt hatte. »Bist du dir wirklich ganz sicher, für mich arbeiten zu wollen?«
»Ich könnte diese Anstellung sehr gut gebrauchen«, sagte sie leise, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß, dass du Angst vor einem Skandal hast, und ich kann dich verstehen, wenn du mich nicht möchtest. Ich kann dir auch nicht versichern, dass mich wirklich niemand erkennt.«
»Erzähle mir noch etwas über deinen Mann«, bat er sie. Daniel musste einfach mehr über ihre Lage erfahren.
Kurz biss sie sich auf die Unterlippe, wie damals als Mädchen, wenn sie ihm etwas gebeichtet hatte. »Edward hat mich zu Beginn unserer Ehe nur selten zu gesellschaftlichen Anlässen mitgenommen, und die letzten Jahre vor seinem Tod haben wir ausschließlich auf dem Land gelebt, da er sein eigenes Stadthaus vermietet hat. Ich habe erst später erfahren, dass er das Stadthaus meiner Eltern längst an einen anderen Spieler verloren hatte. Den ehemaligen Möbelhandel meines Vaters, den Edward weiterführen sollte, hat er in die Hände eines unfähigen Mannes gegeben, damit er sich auf dem Land ein gemütliches Leben machen konnte. Dort … verstarb er dann plötzlich.« Sie hüstelte leise und mied seinen Blick. »Seit drei Jahren lebe ich nun bei meiner Freundin Claire, und bisher hat sich niemand an mich erinnert. Außer Claire und dir hatte ich auch keine engeren Freunde. Da ich mich viel um Claires Kinder gekümmert habe, hielt mich ohnehin schon jeder für ihr Kindermädchen und ich war für alle nur Mrs Rowland.«
Schweigend blickte Daniel zu ihr auf und ließ sich ihre Geschichte durch den Kopf gehen. Seine Mutter hatte damals vielleicht ihren Freundinnen von Emilys Heirat erzählt. Doch von diesen Ladys lebte fast keine mehr. Womöglich könnte ihre Täuschung funktionieren. Er tat Em einen Gefallen und hätte endlich eine Nanny für Sophia. Zwar hatte er noch so viele Fragen an Emily, doch gerade wollte er ihre Demütigung nicht verstärken. Er sah, wie sehr sie unter ihrer Vergangenheit litt. Daniel kannte genug Geschichten von Spielern, die alles verloren hatten und deren Frauen auf der Straße gelandet waren. Em hatte solch ein Schicksal nicht verdient, und er war heilfroh, dass ihre Freundin sie aufgefangen hatte. Daniel wollte ihr plötzlich helfen, aber er würde sich auch umhören, um mehr über sie und ihren Mann zu erfahren. Daniel vertraute ihr, das hatte er bereits früher schon, und auch jetzt erkannte er in ihren grünbraunen Augen, dass ihr Herz immer noch auf dem rechten Fleck saß.
Er drückte ein letztes Mal ihre zarten Finger, stand auf und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. »Du bist eingestellt und kannst gleich nächsten Montag anfangen.«
Erst teilten sich vor Erstaunen ihre Lippen, doch dann lächelte sie aus vollem Herzen, als könnte sie ihr Glück kaum fassen. »Danke, Daniel, du bist der Beste!« Da drückte sie sich die Hand an die Brust und sagte erschrocken: »Ich meinte … Lord Hastings!«
»Bitte nenn mich Daniel«, murmelte er rau. »Wenigstens, wenn wir unter uns sind.« Er musste verrückt sein, ihr diese vertraute Anrede anzubieten, aber alles andere fühlte sich falsch an. Er wollte Emily helfen, und vielleicht ergab sich die Möglichkeit, einen neuen Mann für sie zu finden, einen, der kein Spieler war und ihr ein sicheres Leben bieten konnte. Daniel hatte da auch schon jemanden im Auge.
Er verkniff sich ein Schmunzeln, weil er sich beinahe wie seine Mutter verhielt, die alte Kupplerin. Zuerst wollte er ohnehin sehen, wie Emily mit seiner Tochter umgehen konnte, und um ehrlich zu sein, war er froh, dass sie sich bei ihm beworben hatte. Alle anderen Kindermädchen wären auf keinen Fall in Frage gekommen.
Es würde wohl eine Weile dauern, bis er eine gute Nanny auftreiben konnte. Die Zeit würde er also nutzen, um seiner Freundin aus Kindheitstagen zu neuem Glück zu verhelfen. Tatsächlich freute sich Daniel auf diese Aufgabe, denn die würde ein bisschen Abwechslung in sein trostloses Arbeitsleben bringen. Die Verwaltung seiner Ländereien langweilte ihn, auch wenn sie sein Einkommen sicherte, und auf einer Soiree oder auf sonstigen Veranstaltungen hatte er sich nach Imogens tragischem Tod kaum noch blicken lassen. Immerhin wurde es auch für ihn langsam Zeit, sich nach einer neuen Frau umzusehen. Er arbeitete schließlich nicht so viel, um sowohl sein Vermögen als auch seinen Titel einmal mit ins Grab zu nehmen – beziehungsweise seinem phlegmatischen Cousin zu überlassen.
Daniel wusste nicht, ob er seine Gattin wirklich von ganzem Herzen geliebt hatte, aber er vermisste sie, genau wie ihren klugen Verstand und die gemeinsamen Gespräche zu den Mahlzeiten. Imogen war wie eine Freundin für ihn gewesen, wie ein guter Kamerad, der ihn viele Jahre lang treu und zuverlässig begleitet hatte. Sie hatten sich gegenseitig respektiert und es hatte so gut wie nie Streit zwischen ihnen gegeben. Das konnten nicht viele Paare von sich behaupten, deren Ehen von den Eltern arrangiert worden waren.
Vielleicht fand er ja in Emily eine neue Gesprächspartnerin. Früher hatten sie sich schließlich auch über alles unterhalten können. Womöglich hatte ihm der Himmel Emily geschickt – oder der Geist seiner Imogen – damit er endlich aus seinem Schneckenhaus kroch.