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Kapitel 4 – Abschied von Claire

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»Weiß der Earl, dass du vermutest, Edward könne seinen Titel gefälscht haben und gar kein echter Adliger gewesen sein?«, fragte ihre Freundin Claire leise, als sie gemeinsam die Treppen nach unten in die kleine Eingangshalle schritten. Emilys Tasche mit ihren wenigen Habseligkeiten befand sich bereits in der Kutsche, die mit Claires Fahrer auf der Straße wartete, um sie nach Mayfair zu Daniel zu bringen.

Ihr Herz bebte und sie flüsterte aufgeregt: »Er darf niemals davon erfahren! Keiner darf das.«

Ihr war es einerseits schrecklich peinlich, einem Betrüger aufgesessen und so tief gefallen zu sein. Andererseits wollte sie ihre Eltern, die diese Ehe arrangiert hatten, post mortem nicht entehren. Emily wollte einfach nur alles vergessen und nicht erkannt werden, um nie wieder an Edward und die Schmach erinnert zu werden.

Claire drückte kurz ihre Hand. »Dein Geheimnis wird auf ewig bei Kenneth und mir sicher sein.«

Emily vertraute Claires Gatten. Er war ein fleißiger, ehrlicher Geschäftsmann, der seine Frau vergötterte, und er sah Claire immer mit dieser besonderen Wärme in seinem Blick an. Emily fand es schade, dass die beiden nur so wenig Zeit miteinander verbringen konnten, denn er hielt sich fast jeden Tag viele Stunden am Hafen auf. Ihm gehörte eine große Reederei an der Themse, nicht weit weg von diesem Stadtteil, denn die Schifffahrt florierte wie nie. Kenneth verdiente sehr gut, auf Kosten seiner Freizeit, weshalb es Emily plötzlich noch schwerer fiel, ihre Freundin zu verlassen. »Du wirst den ganzen Tag allein sein.«

Claire grinste. »Ich habe die Kinder, Nanny Florence und meine Eltern. Außerdem kann ich Kenneth’ oder meine nervige Schwester zum Tee einladen, falls mir wirklich einmal die Decke auf den Kopf fallen sollte. Nun geh endlich!« Sie zerrte Emily regelrecht an der Hand durch die Halle zum Ausgang. »Und dass du mir jede Woche schreibst!«

Fast die halbe Nacht hatten sie zusammengesessen und über Daniel geredet. Claire wusste natürlich, wie verliebt Emily als kleines Mädchen in ihn gewesen war und dass auch bei ihrem Wiedersehen ihr Herz schneller geschlagen hatte. Nun erhoffte sich Claire eine spannende, verbotene und leidenschaftliche Liebesgeschichte. Sie hatte einfach zu viele Romane gelesen.

Kaum trat Emily nach draußen, holte sie tief Luft. Es war früh am Morgen und ein wenig kühl; die Sonne hatte sich noch nicht über die Dächer erhoben. Emily fror jedoch nicht, denn sie war so aufgeregt, als würde ihr eine lange Reise bevorstehen, und allein bei dem Gedanken an Daniel wurde ihr heiß. Seine Stadtvilla lag nur eine halbe Fahrstunde entfernt. Zu Fuß wäre sie vielleicht genauso schnell bei ihm, denn die Markthändler, die früh unterwegs waren, verstopften die Straßen in diesem eleganten Bezirk. In Covent Garden kaufte Kenneth auch seine Waren für die Ausstattung der Schiffe und er hatte es nicht so weit bis zu seiner Reederei, weshalb sie sich hier niedergelassen hatten. Emily gefiel dieser Stadtteil und sie liebte es, durch die Reihen der Marktstände zu schlendern. Das würde sie vermissen. »Ich werde natürlich bei euch vorbeisehen, so oft ich kann.«

Vor der kleinen Kutsche – einem Einspänner, mit dem Claire und sie Ausflüge in den St. James’s Park unternommen hatten – umarmte sie ihre Freundin fest und steckte ihre Nase in die ordentlich hochgesteckten, goldenen Locken. Claire sah aus wie ein Engel, das hatte sie schon, als Emily sie vor über zwanzig Jahren kennengelernt hatte. Als Daniel einmal wieder zurück nach Oxford gemusst hatte, war Emily auf dem schmalen Pfad hinter den Reihenhäusern entlang marschiert, vorbei an all den kleinen Gärten, bis ihr plötzlich glockenreiner Gesang entgegenwehte. Fast ganz am Ende der Straße, im Garten des vorletzten Hauses, saß ein kleiner Engel auf einer Schaukel, die an einem dicken Ast eines alten Pflaumenbaumes angebracht war.

Fasziniert beobachtete Emily ein Mädchen, nur ein wenig jünger als sie selbst, durch das hohe, vergitterte Gartentor, bis sie bemerkt wurde. Damit begann eine wunderbare Freundschaft. Claire war die zweite Tochter eines Kaufmannes, der in London Berühmtheit mit seinem feinen Porzellan erlangt hatte. Da damals sowohl ihre als auch Emilys Eltern im Viertel sehr angesehene Leute gewesen waren, hatte niemand etwas gegen ihren Umgang gehabt und sie hatten sich so oft wie möglich getroffen. Während Claires Eltern immer noch in dem schmalen Reihenhaus wohnten, lebte Claire nun mit ihrem Mann Kenneth Bloombury in einem größeren Haus in der Nähe des Covent Garden Market.

Oft wünschte Emily, ihre Eltern würden noch leben, dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Wenigstens die Briefe an Claire hatten ihr während der schrecklichen Jahre mit Edward geholfen, nicht die Hoffnung zu verlieren. Im Laufe ihrer Ehe hatte ihr Edward unfreiwillig einige seiner »Sünden« offenbart – wie die Geschichte mit seinem Adelstitel.

Weißt du, dass ich mir den Titel einfach geschnappt habe?, hatte er einmal zu ihr gesagt. Sie wusste früher erst nicht genau, was Edward damit gemeint hatte, aber sie vermutete stark, dass er den Adelsbrief des Königs gefälscht hatte. Es sprach sehr viel dagegen, dass er selbst als Adliger auf die Welt gekommen war. Er beherrschte keine einzige Fremdsprache und keinen der angesagten Tänze – was wohl auch ein Grund war, weshalb er nie einen Ball oder eine größere Veranstaltung mit ihr besucht hatte. Auch in politischen Belangen kannte er sich nicht wirklich aus, weshalb er das Parlament gemieden hatte. Tatsächlich war Schauspielern seine einzige echte Begabung. All seine Defizite hatte er immer hervorragend vor anderen verbergen können.

Emily erschauderte. Nach dem Genuss von zu viel Alkohol hatte Edward gerne geredet … und andere Dinge getan. Zum Glück hatte sie in ihrer Zofe Mary Wentworth eine Verbündete gefunden, die ihre Briefe herausgeschmuggelt hatte.

Ohne den heimlichen Kontakt zu Claire wäre Emily verrückt geworden. Ihre Freundin wusste, was ihr Mann für ein Monster gewesen war, aber sie kannte nicht alle Details. Emily wollte das unbeschwerte Leben ihrer einzigen Vertrauten nicht beflecken.

Emily hatte auch Daniel nicht belogen, als sie ihm die Geschichte mit dem Verkauf von Edwards Haus sowie seines gesamten Besitzes erzählt hatte. Davon stimmte jedes Wort. Gewisse Einzelheiten musste sie auch ihm nicht auf die Nase binden.

Emily bebte am ganzen Körper, als sie Claire ein letztes Mal umarmte und sich anschließend vom Kutscher auf den Zweispänner – den sie für Ausflugsfahrten mit der ganzen Familie nutzten – helfen ließ. Dann ging es auch schon los, und sie rumpelten über die Pflastersteine in Richtung Mayfair.

Emily hüllte sich in eine Decke und blickte sich so lange winkend um, bis das kleine Haus der Bloomburys und auch Claire nicht mehr zu sehen waren. Danach konzentrierte sie sich ganz auf ihre bevorstehende Arbeit. Hoffentlich machte sie ihre Sache gut, damit Daniel sie behielt. Sie würde sich auf jeden Fall große Mühe geben, damit sie irgendwann ihren Traum von einem eigenen Leben verwirklichen konnte.

***

Laut ihrer Taschenuhr – die sie von ihrem Vater vererbt bekommen hatte und immer in ihrem Beutel mit sich trug, wenn sie unterwegs war, erreichte sie kurz nach acht Uhr die Stadtvilla von Lord Hastings. Bestimmt schlief Daniel zu dieser Zeit noch, auch wenn sie sich beobachtet glaubte, was sie sich gewiss einbildete. Hinter den Vorhängen der großen Fenster nahm sie keine Bewegung wahr.

Nachdem ihr der Fahrer von der Kutsche geholfen und die große braune Tasche zur Tür getragen hatte, erwartete sie wieder der alte Mr Smithers. Er wies sofort einen jüngeren Diener mit Vornamen Henry an, Emilys Gepäck zu nehmen und es nach oben in die Räume des Kindermädchens zu bringen.

Sie folgte dem schlanken, braunhaarigen Mann, der ihr beim letzten Besuch den Tee gebracht hatte, drei Stockwerke hinauf fast bis unters Dach. So viele Stufen zu nehmen, war sie gar nicht gewohnt, und sie musste tief durchatmen, als sie einen düsteren, niedrigen Flur erreichten. Die Wände des vorletzten Stockes waren bei Weitem nicht so hoch wie in den tieferen Etagen. Sechs Türen führten vom Gang ab, darunter eine, deren Treppe bis ganz unters Dach reichte. In der Mansarde schlief für gewöhnlich die weibliche Dienerschaft, jedoch nicht die Nanny. Diese bewohnte mit den Kindern eigene Räume, wie Emily wusste.

Henry betrat gleich das zweite Zimmer auf der linken Seite und stellte ihre Tasche auf dem Bett ab, bevor er Emily wieder verließ – nicht ohne noch einen kurzen Blick in den Nebenraum zu werfen, aus dem sie die Stimme einer Frau hörte.

Emily musste sofort ihre neue Umgebung bewundern. Mit solch einer geräumigen Unterkunft hatte sie nicht gerechnet, eher mit einer engen Dachkammer. Sie war hell, freundlich und modern eingerichtet, mit einer Tapete, die in rosa- und perlmuttfarbenen Streifen schimmerte, und einem breiten Bett, das einen verschnörkelten gusseisernen Rahmen besaß. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Kinder gemeinsam mit der Nanny in einem Bett schliefen, und Emily war gespannt, wie es hier gehalten wurde.

Vor dem Fenster, das einen herrlichen Ausblick in den Garten ermöglichte, stand ein Sekretär, auf dem Papier und Feder bereitlagen; es gab zwei große Kommoden und einen kleinen Esstisch mit einem normalen Stuhl sowie einem Kinderhochstuhl. Kerzen, eine Öllampe und eine Waschgelegenheit entdeckte sie ebenfalls, sowie Handtücher, Schürzen und alles, was eine Nanny brauchte. Das würde also von nun an ihr Reich sein. Emily gefiel es.

Jetzt wollte sie aber endlich Sophia kennenlernen. Sie legte ihren Hut auf das Bett mit der wunderschönen Überdecke mit rötlichem Paisleymuster. Emily besaß einen Schal in fast derselben Farbe.

Eine zweite, offen stehende Tür führte ins geräumige Kinderzimmer, das mit einem dicken Teppich ausgelegt war, wohl um die Laute der trampelnden Füßchen zu dämpfen. Zwischen zahlreichen Spielsachen standen ein kleines Kojenbett, ein Schrank und ein Schaukelstuhl sowie ein paar Kindermöbel. Mittendrin kniete eine brünette junge Frau, die ihr Haar zu einem Zopf geflochten hatte, auf dem Boden. Emily schätzte sie auf höchstens zwanzig Jahre. Vor ihr saß ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das mit Buchstabenwürfeln spielte. Das musste die einjährige Sophia sein. Mit dem runden Gesicht und den leicht geröteten Pausbacken sah sie wie ein Engelchen aus. Ob sie ihrer Mutter ähnelte? Das leicht störrische Kinn und das dunkle Haar schien sie auf jeden Fall von Daniel geerbt zu haben.

Als Emily eintrat, stand die Frau sofort auf und begrüßte sie. »Sie müssen Mrs Rowland sein. Ich bin Lizzy Brooks, Sophias Nanny.« Eine kleine Tasche, ähnlich wie die von Emily, stand an der Tür des Zimmers.

Emily reichte ihr die Hand. »Sehr erfreut, Lizzy.«

Die junge Frau machte einen lieben Eindruck und erklärte ihr den Tagesablauf mit Sophia und weitere Dinge. Emily erfuhr, dass Lizzy diese Anstellung schweren Herzens aufgeben musste, damit sie sich um ihre kranke Mutter kümmern konnte. Mit dem Gehalt, das sie in einem Jahr verdient hatte, würde sie wohl eine Weile auskommen. Wie ihr die junge Frau außerdem verriet, hatte Daniel ihr sogar noch einen Bonus gezahlt.

»Der Earl ist ein wirklich edler Mensch«, erzählte sie Emily. »Ihnen wird es hier gefallen.« Lizzy wies auch darauf hin, dass Lord Hastings jeden Tag, nachdem er seinen Tee im Blauen Salon eingenommen hatte, einen kurzen Bericht über Sophias Entwicklung erwartete.

Emily runzelte die Stirn. Daniel konnte doch selbst sehen, wie weit seine Tochter bereits entwickelt war? Sicher wollte er diese zauberhafte kleine Lady, die in ihrem Puffärmelkleid wie eine Prinzessin aussah, so oft im Arm halten wie möglich. Allerdings wusste sie, dass sich vor allem der Hochadel nicht wirklich um die Erziehung seiner Kinder kümmerte, sondern diese allein in die Hände der Nanny und später der Gouvernante legte. Emily fände es schade, wenn es bei Daniel auch so wäre. Sie war ihren Eltern heute noch dankbar, dass diese sie nicht völlig von der Welt der Erwachsenen abgeschottet hatten.

Die Frage lautete eher: Wo befand sich der Blaue Salon? Die Villa war riesig! Emily würde sich erst einmal zurechtfinden müssen.

Sie verwarf den Gedanken an das große Haus, weil Lizzy unaufhörlich redete. »Und das hier ist Sophias Lieblingsbuch, Mrs Rowland.« Das Kindermädchen hielt ihr eine vergilbte Ausgabe von »Das Leben und die Abenteuer einer Maus« entgegen.

»Oh, das mochte ich als Kind auch sehr gerne.« Das zerfledderte Heft enthielt die autobiografische Erzählung der Maus Nimble, die über ihre Begegnungen mit frechen Kindern und deren gemeine Scherze berichtete. Die Geschichte handelte von Tapferkeit und dass man Tieren gegenüber Respekt zeigen und ihnen keine Blechdosen an den Schwanz binden sollte. Zum Entsetzen ihrer Mutter hatte Emily damals drei Mäuschen in ihrem Puppenhaus wohnen lassen und sie mit Käse gefüttert, den sie aus der Küche stibitzt hatte. Danach hatte ihre Mutter das Buch verbrannt, worüber Emily sehr traurig gewesen war.

»Am liebsten bekommt sie vor dem Einschlafen vorgelesen«, erzählte Lizzy weiter. »Wir sitzen dabei zusammen in meinem Bett, und wenn sie eingenickt ist, lege ich sie in ihres, lasse die Tür offen und ein kleines Licht brennen. Manchmal schleicht sie sich nämlich wieder zurück zu mir oder ruft, damit ich sie hole.«

Emily stellte es sich schön vor, ein solch süßes, kleines Wesen bei sich liegen zu haben, das ihren Schutz suchte und mit ihr kuschelte. Ihr Herz verkrampfte sich schmerzhaft, weil sie das nie mit einem eigenen Kind erleben würde.

»Und nun zu dir, kleine Lady«, sagte Lizzy sanft und wischte sich schnell über die Augen. »Sei schön lieb zu Mrs Rowland und iss immer brav dein Gemüse auf.«

Sophia blickte sie nur aus großen Augen an und hielt ihr einen Buchstabenwürfel hin. Als Lizzy ihn nicht nahm, sondern ihr stattdessen einen Kuss auf die Stirn drückte und aufstand, streckte die Kleine die Ärmchen in die Luft und schob ihre Unterlippe vor.

Samuel und Melissa, Claires Zwillinge, hatten auch mal so süße Patschehändchen besessen. Nun waren sie aber schon richtig groß im Gegensatz zu Sophia. In den ersten Lebensjahren sahen Kinder beinahe jeden Tag ein wenig anders aus. Beim nächsten Besuch bei Claire würde Emily die Kleinen wohl kaum noch erkennen. Sie wuchsen einfach viel zu schnell.

»Du kannst diesmal leider nicht mitkommen.« Lizzy wandte sich schnell von dem Mädchen ab und blinzelte neue Tränen aus den Augen. Der Abschied fiel ihr sichtlich schwer, was Emily nicht verwunderte, denn die junge Frau hatte beinahe ein Jahr lang Tag und Nacht mit dem Kind verbracht. Emily vermisste Melissa und Samuel ebenfalls.

Zittrig lächelte Lizzy sie an. »Das süße Engelchen wird mir schrecklich fehlen. Bitte geben Sie gut auf sie acht, Mrs Rowland.«

»Das verspreche ich«, sagte Emily und blickte Lizzy nach, wie sie aus dem Zimmer eilte. Im Flur redete sie mit jemandem, und sie glaubte, die Stimme von Henry zu hören, der sagte: »Ich nehme deine Tasche …«

Emily atmete tief durch und hoffte, dass sie der Aufgabe wirklich gewachsen war. Damit meinte sie nicht nur die Versorgung des Kindes, sondern vor allem mit Daniel unter einem Dach zu wohnen. Hoffentlich verliebte sie sich nicht wieder rettungslos in ihn. Vermutlich würde das jedoch eher nicht passieren. Edward hatte ihr gezeigt, dass sich hinter einer schönen Fassade etwas Fauliges verstecken konnte. Darauf wollte sie nie mehr hereinfallen.

Ein Lord wie kein anderer

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