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Die Astronautin – Erste deutsche Frau im All?
Gleichberechtigung im All
INSA THIELE-EICH
• Geboren am 21. April 1983 in Heidelberg
• Verbrachte Teile ihrer Kindheit und Jugend in den USA, wo ihr Vater Gerhard Thiele für die ESA ins All flog und für die NASA arbeitete.
• Ist Meteorologin an der Universität Bonn und promovierte über die Auswirkungen des Klimawandels auf Bangladesch, mit speziellem Fokus auf Überschwemmungen.
• Ist verheiratet und steht bei Erscheinen dieses Buches kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes.
Mir wäre es lieber, wenn ich die hundertste deutsche Frau im All wäre – und nicht die erste. Weil es bedeuten würde, dass wir über die Frage, ob eine Frau das überhaupt kann, gar nicht mehr diskutieren müssten. Ich verstehe sowieso nicht, warum wir das tun. Es ist nun bereits mehr als ein halbes Jahrhundert her, seit die Sowjetunion eine Frau ins All schickte, und mehr als 30 Jahre, seit die NASA nachgezogen hat.
Der erste Mensch im All war 1961 der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin. Schon zwei Jahre später flog allerdings Walentina Tereschkowa in die Erdumlaufbahn. Seither sind rund 550 Menschen im All gewesen. Davon zwar nur 60 Frauen, aber die Frage, ob das weibliche Geschlecht dazu in der Lage wäre, stellt sich nun wirklich nicht. Allerdings ist dieser Umstand in Deutschland relativ unbekannt. Tatsächlich werde ich immer noch direkt gefragt: »Wie, können Frauen das auch?« Unter anderem mag das daran liegen, dass zwar schon elf deutsche Männer im All waren – der zehnte war mein Vater –, aber noch keine einzige deutsche Frau. Auch gesamteuropäisch ist das Verhältnis gelinde gesagt unausgewogen. Die Astronautinnen aus Italien, Großbritannien oder Frankreich kann man an einer Hand abzählen: Aus jedem Land gab es exakt eine.
Deutschland ist eine Wissenschafts-, mehr noch eine Wissenschaftsexportnation. Dass wir noch keine Frau in den Weltraum entsendet haben, wirkt unter diesen Umständen eigentlich untragbar. Die Forschung im Weltall liefert uns Erkenntnisse darüber, wie es sein wird, wenn wir uns irgendwann von unserem Planeten hier verabschieden – kurzfristig oder dauerhaft. Dann werden sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Männer UND Frauen an Bord befinden. Momentan ist aber besonders in Europa die Datenlage zum weiblichen Körper mehr als überschaubar. Hier müssen wir also aktiv Wissenschaft betreiben – und das geht nur mit Frauen im All. Daneben lassen sich in gemischten Teams auch ganz banale Fragen leichter klären, wer beispielsweise die letzten m&ms gegessen hat – ohne die anderen zu fragen. Das wurde in mehreren Kommunikationsstudien, beispielsweise seitens der NASA, festgestellt.
Es ist nicht so, als ob die European Space Agency (ESA) Frauen prinzipiell ablehnen oder aktiv benachteiligen würde. Aber die Ausschreibungen für das Astronautenkorps finden sehr selten statt: Die letzte war 2008, wann die nächste stattfinden wird, ist unbekannt – wohl kaum vor 2020. 2016 rief deshalb die Luft- und Raumfahrtingenieurin Claudia Kessler die Privatinitiative »Die Astronautin« ins Leben. Ich las davon bei Spiegel Online und dachte: »Endlich! Das ist meine Chance.« Sofort begann ich, meine Unterlagen zusammenzusuchen. Nach vielen Überarbeitungen schickte ich vier Stunden vor Bewerbungsschluss meinen Lebenslauf, ein Anschreiben, Flugtauglichkeitszeugnis und ein 60-sekündiges Video, in dem ich mich und meine Ziele vorstellte, ein. Danach hörte ich lange erst einmal nichts mehr. »War wohl nichts«, war ein Gedanke, der mehrfach vorbeistreifte. Währenddessen wurden unsere Unterlagen gesichtet.
Hätte ich auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels an der Seriosität dieses Projekts bekommen, hätte ich mich nicht weiter beteiligt. Tatsächlich war ich zu Beginn recht skeptisch und fuhr im September 2017 mit einer gesunden Vorsicht und meiner Schwester als Ratgeberin zu einem großen Event in Berlin, wo die Initiative und ein Großteil der 120 Kandidatinnen der Presse vorgestellt wurden. Für mich überraschend sprachen dort Experten und hochrangige Funktionäre aus der Raumfahrt, beispielsweise von der Berliner Charité, von Airbus und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Viele Kandidatinnen waren mit einer ähnlichen Einstellung wie meiner erschienen: Wir schauen uns das hier erst einmal in Ruhe an. Als dann klar war, dass dieselben Leute an Bord sind, die auch an der Auswahl der Astronauten Matthias Maurer und Alexander Gerst – ab September 2018 Kommandant der ISS – beteiligt waren, hatte ich mich gern auf den weiteren Prozess eingelassen.
Das weitere Auswahlverfahren verlief nach internationalen Standards und nahezu identisch zu dem der ESA. Zunächst wurden wir via Skype interviewt. 120 von uns erhielten dann vom DLR einen 20 Seiten starken Fragebogen zu unseren Lebensgewohnheiten und unserer medizinischen Vorgeschichte, 86 wurden daraufhin zur ersten Runde der kognitiven Tests ans Institut für Luft- und Raumfahrtpsychologie nach Hamburg eingeladen. Da musste man sich rückwärts Zahlenreihen merken, unter Zeitdruck Matheaufgaben und Physikprobleme lösen oder räumliches Denkvermögen beweisen (→ Seite 66).
In der nächsten Runde – ebenfalls beim DLR in Hamburg – wurden 30 Frauen gruppenpsychologisch und in Einzelinterviews getestet Nachdem acht von uns auch diese Runde überstanden hatten, folgten an drei Tagen im Januar 2017 körperliche Untersuchungen am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR in Köln. Dabei wird von den Blutwerten über das Herz-Kreislauf-System bis zum Gehirn im Magnetresonanztomografen wirklich alles abgecheckt. Schlimme Allergien oder Gallensteine darf man beispielsweise als Astronautin nicht haben. Die Aufgabe der Mediziner war nicht nur, unseren derzeitigen Gesundheitszustand zu beurteilen, sondern auch abzuschätzen, wie gesund wir in den kommenden Jahren bleiben werden. Das hat etwas mit den hohen Kosten einer Astronautenausbildung zu tun. Man möchte vermeiden, hohe Summen zu investieren, wenn eine spätere Erkrankung bereits absehbar ist. So wusste ich nun zumindest, dass ich topfit bin – das ist schon einmal ein netter Nebeneffekt.
Neben einem gesunden Körper ist auch eine ausgeglichene Psyche extrem wichtig, weil man für einen bestimmten Zeitraum ziemlich eng aufeinanderhockt. Die Handlungen eines einzelnen Astronauten können schwerwiegende Konsequenzen für die ganze Mission haben, ein emotionaler Ausraster könnte fatal sein. Deshalb wird nach verlässlichen, professionell agierenden Charakteren gesucht.
Im April 2017 war es dann so weit: Mit Unterstützung des DLR, des Luft- und Raumfahrtkonzerns Airbus sowie von Ulrich Walter und Bundesministerin Brigitte Zypries (SPD) wählte die Initiative zwei von 408 Bewerberinnen aus. Unfassbar: Ich war eine davon! Die letzte Astronautin, die von der ESA auf die ISS geschickt wurde, war Samantha Cristoforetti, eine Italienerin. Sie ist derzeit die einzige Frau im europäischen Astronautenteam. 199 Tage blieb sie von November 2014 bis Juni 2015 auf der Außenstation und stellte damit den Rekord für die längste Zeit auf, die eine Frau bisher am Stück im All verbracht hat. Dagegen wirkt unsere Mission auf den ersten Blick sehr bescheiden: Zehn bis 14 Tage sind derzeit angesetzt. Warum das wissenschaftlich gesehen eine Menge ist, beschreibe ich in Kapitel 6 (→ Seite 99 ff.). Insgesamt waren bereits 230 Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation ISS, allerdings bislang nur 37 Frauen. Nun könnten meine Kollegin Suzanna Randall und ich, die wir im Rahmen der Initiative ausgewählt wurden, zu den nächsten gehören.
European Space Agency (ESA) |
Die Weltraumorganisation mit Sitz in Paris wurde 1975 gegründet. Ziel war es, der Sowjetunion und den USA gleichberechtigt gegenübertreten zu können. Laut Statut betreibt die ESA Weltraumerforschung ausschließlich zu friedlichen Zwecken. Die ESA ist allerdings nicht wie die NASA eine Regierungsbehörde, untersteht auch nicht der EU, sondern ist eine eigenständige Organisation. Dennoch finanziert sie sich aus dem Staatshaushalt ihrer Mitgliedsstaaten. Die ESA hat verschiedene Standorte in sieben europäischen Staaten, auch in Deutschland: das Europäische Astronautenzentrum in Köln, wo Gerhard Thiele arbeitete, sowie das Raumflugkontrollzentrum in Darmstadt. Durch verschiedene Projekte wie Rosetta, der ersten Mission, die auf einem Kometen gelandet ist, wurde ESA zu einer Größe in der Raumfahrt. ESA führt Missionen in Eigenregie wie auch mit internationalen Partnern durch. In den 80er- und 90er-Jahren standen Kooperationen mit der NASA mehr im Vordergrund, später wurde auch Russland ein immer wichtigerer Partner. In Französisch-Guyana betreibt die ESA einen europäischen Weltraumbahnhof, von dem aus die Ariane-Trägerraketen beispielsweise Satelliten ins All bringen.
National Aeronautics and Space Administration (NASA) |
Die zivile US-Bundesbehörde für Luft- und Raumfahrt wurde 1958 gegründet. Ihre Vision: das Streben nach neuen Herausforderungen und das Unbekannte zum Wohle der Menschheit zu erforschen.
Hauptsitz der NASA ist in Washington, D.C., zu ihr gehören aber auch eine Vielzahl an Einrichtungen, die über die USA verstreut liegen. Eine davon ist das Johnson Space Center in Houston, Texas. Hier entwickelt Boeing gerade einzelne Bauteile eines Raumschiffs für die NASA, um Astronauten zur ISS zu bringen. Parallel arbeitet auch das private Unternehmen Space X in Los Angeles an einem diesbezüglichen Auftrag für die NASA.
Die Lücke füllen
Dass überhaupt die Eignung von Frauen für wissenschaftliche Arbeit im All zur Debatte gestellt wird, erscheint mir absurd So sehr, dass sich ein Teil von mir am liebsten gleich aus dieser Diskussion ausklinken würde. Geschlecht spielt für mich einfach keine Rolle. Gleichzeitig erkenne ich aber auch, wie wichtig es ist, dass ich mich hier einbringe. Denn wenn sich ein junges Mädchen interessiert Fotos von der Raumfahrt im Internet anguckt und dann hauptsächlich oder je nach Website ausschließlich männliche Köpfe sieht, ist es leicht für sie zu denken: Das ist nichts für mich. Oder: Ich weiß nicht, ob es nichts für mich ist, aber als Mädchen kann mich dieser Bereich zwar einschließen, vielleicht aber auch nicht.
Eine gesellschaftliche Debatte dieser Art lief vor einigen Monaten ja bezüglich eines Bankschreibens, bei dem sich eine Kundin eine weibliche Anrede gewünscht hatte. Viele hielten das für überzogen. Ich kann ihr Anliegen nachvollziehen. Die Sache ist die: Bei Schreiben, die im männlichen Neutrum formuliert sind, muss ich als Frau immer erst einmal überlegen, ob ich dabei auch gemeint bin. Als Mann weiß ich: Bei »der Kunde«, da bin ich gemeint, da kann ich mir sicher sein Lange war mir nicht aufgefallen, wie schlimm das eigentlich ist.
Denn wenn ich mich möglicherweise ausgeschlossen fühle und mich erst aktiv dafür entscheiden muss, gemeint zu sein oder auch nicht, bringt mich das in eine passive Rolle. Ich kann mich angesprochen fühlen, muss es aber nicht. »Der Astronaut macht einen Weltraumausflug« – wie leicht bekommt da eine Frau das Gefühl: Mich betrifft das nicht? Allein die Formulierung »bemannte Raumfahrt« stört mich: Ist ein mit Frauen besetztes Raumschiff unbemannt?
Unser Sprachgebrauch im Deutschen prägt unser Denken und baut automatisch Filter hinsichtlich der Befähigung verschiedener Menschen ein. Wenn ich mit amerikanischen Kollegen zusammensitze und man spricht über abstrakte Personen – wie zum Beispiel noch nicht definierte Professoren, die zu einer Veranstaltung eingeladen werden sollen –, wechseln sie immer wieder bei ihrer Wortwahl zwischen den Personalpronomen »he« und »she«. Auch bei Artikeln über Kinder ist das im US-amerikanischen Raum ganz oft so. In Deutschland hingegen, wenn wir darüber reden, welcher Professor eingeladen wird, dann wird immer die männliche Form benutzt. Immer. Ich sage dann oft: »Wollen wir nicht auch eine Frau einladen?« – »Oh, stimmt.« Und dann kommen die Ideen.
Mir geht das ja selbst auch so: Meine Töchter waren bei einem Event dabei, bei dem auch Bundesministerin von der Leyen anwesend war. Sie sollte mir kurz vorgestellt werden – also erklärte ich meinen beiden eisverschmierten Töchtern, dass es jetzt um absolutes Benehmen geht. »Wer ist das denn?«, fragte meine Ältere. »Das ist der Chef von der Bundeswehr«, war meine Antwort. Was für ein Blödsinn. Es ist »die Chefin« der Bundeswehr. Seit meiner Auswahl beschäftige ich mich intensiv mit meiner eigenen Ausdrucksweise. Ich versuche, »die Astronautin« zu sagen, anstatt wie üblich immer nur von »dem Astronauten« zu sprechen. Darauf hatte mich eine Zuschauerin einer Sendung hingewiesen – und für so ein konstruktives Feedback bin ich sehr dankbar.
Während unserer USA-Reise im Frühjahr 2018 fragte eines unserer Teammitglieder nach »opportunities for manned spaceflight«. Die Augen des amerikanischen Gegenübers weiteten sich leicht, als er die Frage wiederholte: »You’re asking for opportunities for CREWED space flight. We have …« Danach haben wir im Team beschlossen, dass man für jede Verwendung des Begriffs »bemannte Raumfahrt« ab sofort eine Runde ausgeben muss. Schwanger konnte ich davon zwar nicht profitieren, aber wir hatten die korrekte Ausdrucksweise ohnehin alle schnell verinnerlicht.
In den USA wird übrigens über die Männer-Frauen-Frage in der Raumfahrt kaum gesprochen – weil dort beide Geschlechter ähnlich stark vertreten sind. Die Quote bei der letzten Auswahl der NASA betrug sieben zu fünf, seit Jahrzehnten ist es dort ähnlich durchmischt. Während meiner Kindheit in Texas sah ich im NASA-Headquarter ganz selbstverständlich Frauen und Männer zusammenarbeiten – und zwar in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Auch in der Astronautenklasse meines Vaters waren acht Frauen vertreten, von denen ich zwei sehr gut kannte. Der Gedanke, dass es sich bei der Raumfahrt um eine Männerdomäne handeln könnte, konnte mir da kaum kommen.
In Deutschland und auch in Europa ist das anders – sogar in Kinderbüchern fanden sich lange Zeit nur Illustrationen von männlichen Astronauten. Ein interessiertes Mädchen aber, das immer nur Bilder von raumfahrenden Männern sieht, weiß nicht, ob sie das könnte, was die können. Ein Junge geht davon aus, dass es zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Die meisten Erwachsenen wissen, dass eine Frau das theoretisch auch kann, aber ein Kind weiß noch nicht einmal, ob vielleicht nur Männer so etwas dürfen. Ein Kind kennt die Regeln nicht, möchte sie aber sehr gern lernen. Gerade wenn es noch sehr jung ist, baut es sich gelegentlich aus seiner Wahrnehmung selbst die abstrusesten Regeln zusammen.
In den letzten Jahren gibt es glücklicherweise schrittweise Veränderungen. Im TV lief bei der »Sendung mit der Maus« ein Lied über die Astronautin Erika Klose. Dazu ein Zeichentrickfilm über ein junges Mädchen mit rotbraunem Pferdeschwanz und Raumanzug. Das ist ein erfreulicher, aber letztlich nur kleiner Kontrapunkt und keine ausgewogene Geschlechterdarstellung in den Medien für Kinder – und das betrifft ja nicht nur den Beruf »Astronaut*in«. Tatsächlich betrübt es mich manchmal, wenn ich mitbekomme, wie wichtig es scheinbar doch ist, dass es jetzt eine deutsche Frau gibt, die ins Weltall fliegt. Wie viele Lücken man damit füllt.
Wir können es uns auch wirtschaftlich nicht leisten, das veraltete Rollenbild an die nächste Generation weiterzugeben. Die Zukunft liegt vor allem in der Digitalisierung und Forschung. Mit dem Wegfall vieler Arbeitsplätze durch automatisierte Prozesse werden Naturwissenschaften und technische Berufe immer wichtiger werden, der Bedarf an Fachkräften ist ja jetzt schon nicht gedeckt. Momentan ist das aber genau der Bereich, in dem Frauen stark unterrepräsentiert sind. Manchmal erhalte ich Briefe oder E-Mails von Studentinnen, die mir schier unfassbare Situationen schildern. Im Chemielabor an der Uni seien die männlichen Studierenden nach vorn geholt worden, die weiblichen sollten nach hinten rücken mit der Begründung: »Ihr braucht das eh nicht.« Wie kann es sein, dass so etwas im Jahr 2018 noch passiert?
Genauso erhalte ich Zuschriften von Müttern, die erzählen, dass sich ihre Kinder so über unser Projekt »Die Astronautin« freuen, weil sie halt Mädchen sind. Endlich ist mal eine Frau dabei, der man sogar einen Brief schreiben kann – das ist einerseits schön, andererseits erschreckend. Was, wenn Claudia Kessler nicht diesen Mut und Elan an den Tag gelegt hätte? Wie lange hätte es gedauert, bis diese Mädchen ein Vorbild gefunden hätten?
Insofern finde ich es auch ein bisschen traurig, wenn dem Projekt für die Idee an sich Diskriminierung der männlichen Bevölkerung vorgeworfen wird. Quasi zeitgleich wurde im Februar 2017 ein neuer deutscher ESA-Astronaut ins Korps aufgerufen – Matthias Maurer. Es gibt viele Menschen und gerade Kinder, die sich durch »Die Astronautin« inspirieren lassen und denen dieses Projekt Mut und Kraft gibt.
Manche meinen: Indem man über das Geschlecht spricht, macht man es ja erst zum Thema. Einerseits ja. Aber: Um nicht mehr darüber reden zu müssen, muss jetzt erst mal eine Frau ins All, die in den deutschen Medien sichtbar ist.
Space 4.0 – kommerzielle Raumfahrt als Zukunftsmodell
GERHARD PAUL JULIUS THIELE
• Geboren am 2. September 1953 in Heidenheim an der Brenz
• Promovierter Physiker
• War deutscher Astronaut für das DLR und die ESA
• Leitete ab Herbst 1995 für ein Jahr das Trainingszentrum des deutschen Astronautenkorps in Köln.
• Kartografierte gemeinsam mit NASA-Kollegen im Jahr 2000 80 Prozent der Landmasse der Erde im Rahmen der Mission STS-99, der sogenannten »Shuttle Radar Topography Mission«.
• Übernahm von August 2005 bis März 2010 die Leitung der ESA-Astronautenabteilung.
• War der verantwortliche Leiter für die Auswahl des derzeitigen ESA-Astronautenkorps.
• Arbeitet heute als selbstständiger Berater und Universitätsdozent
• Ist verheiratet und hat vier Kinder.
Als ich erfahren habe, dass Insa sich bei der Initiative »Die Astronautin« bewirbt, habe ich mich gefreut. »Gut so!«, habe ich zu ihr gesagt. »Du bringst alles mit, was du brauchst.« Aber auch wenn ich ihre Fähigkeiten kenne, habe ich mich natürlich über jede Auswahlrunde gefreut, in der sie weiterkam, weil man nie genau weiß, wonach die Durchführenden gerade suchen.
Als ich selbst ausgewählt wurde, als einer von 13 Finalisten, da hätte auch jeder andere von diesen 13 genommen werden können. Es wäre ein anderes Team geworden, aber auch die anderen hätten den Job gut gemacht. Auch als ich bei der ESA für die Auswahl der Astronauten 2008 verantwortlich war, gab es nicht nur die sechs, die wir ausgewählt haben. Es gab mindestens noch einmal genauso viele, die man genauso gut hätte auswählen können. Deswegen kann man sich trotz aller Eignung nie sicher sein, ob man am Ende auch wirklich ausgewählt wird. Insofern habe ich schon ein bisschen mit Insa mitgefiebert, von Runde zu Runde mehr.
DAS EUROPÄISCHE ASTRONAUTENTEAM
Die Astronauten, deren Auswahl Gerhard Thiele verantwortlich leitete, sind:
• Samantha Cristoforetti aus Mailand, Italien
• Alexander Gerst aus Künzelsau, Deutschland
• Andreas Mogensen aus Kopenhagen, Dänemark
• Luca Parmitano aus Paternò, Italien
• Timothy Peake aus Chichester, Großbritannien
• Thomas Pesquet aus Rouen, Frankreich
• Seit Juli 2015 ist auch Matthias Maurer aus St. Wendel, Deutschland, Mitglied des Astronautenkorps. 2017 schloss er seine Astronautengrundausbildung ab.
Andererseits hätte es mich überrascht, wenn Insa nicht zu den Tests eingeladen worden wäre. Ich fand ihr Bewerbungsvideo große Klasse. Es wäre aber, nachdem Insa eine Auswahlrunde erfolgreich durchlaufen hatte, vermessen gewesen zu sagen: »Das habe ich eh gewusst.« Umgekehrt wäre es unaufrichtig gewesen, bei Insas Weiterkommen Erstaunen vorzuspielen mit einem Kommentar wie »Oh, du bist ja immer noch drin«.
Als in Bremen die sechs Finalistinnen vorgestellt wurden, wurde ich gefragt, ob ich nicht dazukommen wolle, als Publikumsgast. Das habe ich abgelehnt. Insas Schwester Lerke ist mitgegangen. Sie hat dann eine WhatsApp-Nachricht an unsere Familiengruppe abgesetzt, als das Ergebnis bekannt war. Worüber ich mich am meisten gefreut habe: Sowohl Andreas Schütz, Pressesprecher des DLR, als auch mein Astronautenkollege Ulrich Walter haben erst in diesem Moment erfahren, dass eine der Kandidatinnen meine Tochter ist.
Ulrich Walter und Kolleg*innen |
Der Physiker und ehemalige Wissenschaftsastronaut ist Inhaber des Lehrstuhls für Raumfahrttechnik an der Technischen Universität München. Zusammen mit Gerhard Thiele und anderen war er ab 1987 Teil des deutschen Astronautenkorps. Hierzu gehörten auch Hans Schlegel, Heike Walpot und Renate Brümmer. Nach gemeinsamem Training wurden Ulrich Walter und Hans Schlegel auf D2-Mission geschickt, während Gerhard Thiele und seine Kolleg*innen diese vom Boden aus begleiteten. Gerhard Thiele bekam dann später seine Chance und flog ins All, für die beiden Frauen des Korps hat sich das nicht ergeben.
Ulrich saß mit im Auswahlgremium. Als er realisierte, wen er da vor sich hatte, rief er mich an: »Du hast mir nie etwas gesagt!« – »Wieso hätte ich dir da was sagen sollen?«, war meine Antwort. Ulrich war Insa natürlich Ende der 80er während des Trainings für die D2-Mission mehrfach begegnet. Aber er hatte sie als junge Frau nicht erkannt. Er hatte schlicht auf die wissenschaftlichen Hintergründe geachtet. Und da kann sich Insa durchaus zeigen.
Als ihre Auswahl verkündet wurde, habe ich gesagt: »Gratuliere. Darauf stoßen wir jetzt an.« Ich wünsche diesem Projekt wirklich allen Erfolg. Zumal »Die Astronautin« nach meinem Wissen erst die zweite private Initiative in der europäischen Raumfahrt ist, nach der angestrebten Mondmission von OHB in Bremen, einem der führenden Raumfahrtunternehmen in Europa, die aber leider nicht stattgefunden hat. Letztlich ist die Firma vor den Kosten – 125 Millionen ist die Summe, an die ich mich erinnere – zurückgeschreckt. Das schultert auch eine mittlerweile sehr angesehene Firma wie OHB nicht ohne Weiteres. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn es zu einer solchen Mission gekommen wäre. Einfach weil ich davon überzeugt bin, dass sie in enorm kurzer Zeit, verglichen mit staatlich finanzierten Missionen, etwas Vorzeigbares hinbekommen hätten, auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Allein daraus hätten die staatlich finanzierten Agenturen wie die ESA sehr viel lernen können.
Die private Initiative »Die Astronautin« sorgt nun für Sichtbarkeit. Wie Insa es einmal wunderschön formuliert hat: »Wichtig ist nicht, wer die erst deutsche Frau im All ist, sondern wichtig ist, dass es überhaupt eine deutsche Frau im All gibt.« Wer von den Frauen jetzt fliegt, ist egal. Hauptsache, es fliegt eine.
Es wäre mehr als nur bedauerlich, wenn das Projekt »Die Astronautin« scheitern und keine der Frauen ins All fliegen würde. Denn neben dem Aspekt des Geschlechts geht es aus meiner Sicht eben auch darum zu zeigen, dass der private Bereich ebenfalls voller guter Ideen steckt.
»Die Astronautin« – ein Raumfahrt-Start-up
Die Initiative »Die Astronautin« ist ein Start-up. Es gibt dort keine gefestigten Strukturen mit riesigem Verwaltungsapparat und Geld. Eigentlich fehlt es uns überall an allem – außer an Ideen. Wir sind schon weit gekommen, Strukturen erarbeiten wir uns gemeinsam im Team. Zu Beginn habe ich mich vor allem mit Nicola Baumann abgesprochen, die Kollegin, die zunächst mit mir für die Reise ins All ausgewählt wurde. Wir beide mussten uns in vielen Dingen erst einmal klar darüber werden, was wir genau wollen, bevor wir mit unseren Vorstellungen ans gesamte Team gingen. Dabei haben wir nicht alles einheitlich gemacht, schon allein, weil sich unsere beruflichen Situationen unterscheiden. Aber die Zusammenarbeit war sehr angenehm. Das ist bei Suzanna, die nach Nicolas Ausscheiden nachgerückt ist, genauso. Wenn wir Anfragen bekommen, zu Veranstaltungen oder Presseterminen, sprechen wir uns ab: Wer übernimmt was? Ich kümmere mich wohnortbedingt eher um die Termine in Westdeutschland und sie um die in München, so können wir Reisezeiten möglichst kurz halten.
Interview mit Claudia Kessler: »Erfahrene Raumfahrtler klopfen bei uns an, um uns zu unterstützen.«
Die Gründerin des Projekts »Die Astronautin«, Claudia Kessler (54), hielt schon im zarten Alter von anderthalb Jahren den Schraubenschlüssel in der Autowerkstatt ihres Vaters. Seit sie die Mondlandung im Fernsehen gesehen hatte, wollte sie selbst Astronautin werden, aufgrund der seltenen Auswahlen hat das nicht geklappt. Stattdessen stieg die Luft- und Raumfahrtingenieurin zur Abteilungsleiterin bei Airbus auf und gründete vor 14 Jahren ihre Personaldienstleistungsfirma HE Space Operations. Mit ihrer Fähigkeit, andere Menschen von Visionen zu begeistern, brachte sie einen Stein ins Rollen.
»Es kann nicht sein, dass der symbolträchtigste Job in Deutschland ausschließlich von Männern ausgeübt wird. Grundsätzlich ist es ja so: Je vielfältiger ein Team ist, desto besser kann es zusammenarbeiten und umso mehr verschiedene Perspektiven stehen zur Problemlösung zur Verfügung. Das gilt auf der Erde wie auch im Weltall. Meine Firma HE Space Operations führe ich seit 14 Jahren nach genau diesem Prinzip, und zwar sehr erfolgreich: Unser Managementteam besteht aus drei Frauen und drei Männern mit sechs verschiedenen Nationalitäten.
Gern wäre ich auch Astronautin, war aber bei den Ausschreibungen immer zur falschen Zeit im falschen Alter: bei der ersten zu jung, bei der letzten mit 44 Jahren zu alt. Es gibt bei diesen Ausschreibungen keinen regelmäßigen Turnus, sodass man sagen könnte: Ich warte jetzt beispielsweise auf das Jahr 2025. Deswegen haben wir die Initiative gestartet, weil kein Mensch momentan weiß, wann die ESA wieder sucht Und wir wollten nicht womöglich Jahrzehnte ins Land ziehen lassen, bis dann mal die Chance besteht, dass die erste deutsche Frau ins All fliegt.
Im Rahmen der Initiative werden also Insa Thiele-Eich oder ihre Kollegin Suzanna Randall ins All fliegen. Für mich selbst hoffe ich, dass sich irgendwann noch einmal eine andere Tür öffnet – vielleicht wenn sich die kommerzielle Raumfahrt stärker etabliert hat.
Insas besondere Eignung hat sich im Lauf des Auswahlverfahrens Schritt für Schritt herauskristallisiert. Wir hatten ja so viele tolle Bewerberinnen, dass es zunächst schwer erschien, sich zu entscheiden. Aber ganz ausschlaggebend waren die psychologischen und medizinischen Tests, die neutral vom DLR durchgeführt wurden, genau wie bei den ESA-Astronauten.
Zu Beginn hatten wir die Bewerberinnen neben anderen Unterlagen auch um ein Video gebeten, um sehen zu können, wie sie vor der Kamera sprechen. Denn ihre Begeisterung für die Raumfahrt sowie für die Natur- und Ingenieurswissenschaften sollen sie auch an andere Frauen weitergeben können. Von der Wertung her stellte ihre Mediengewandtheit jedoch nur einen von insgesamt zwölf Punkten dar.
Das Projekt schweißt zusammen. Wir arbeiten sehr eng miteinander und finden Stück für Stück unseren weiteren gemeinsamen Weg. Durch unsere Reisen nach Russland oder in die USA lernen wir uns sehr gut kennen, man verbringt ja quasi Tag und Nacht zusammen. Da entwickeln sich auch Freundschaften.
Diese Reisen machen wir, um verschiedene Möglichkeiten auszuloten, wie unsere Astronautin ins All fliegen wird. Momentan stehen wir vor drei Hauptoptionen: Mit Russland oder mit einer von zwei Möglichkeiten in den USA – Boeing oder Space X. Letztere wiederum bieten unterschiedliche Varianten, also verschiedene Missionen an.
Tatsächlich müssen wir bei unserer detaillierten Planung allerdings erst einmal die Demoflüge ihrer Raumschiffe abwarten. Das wird wahrscheinlich im Herbst 2018 passieren. Wenn wir wissen, dass sie sicher fliegen und wieder zurückkommen, können wir konkrete Entscheidungen treffen. Sowohl Boeing als auch Space X docken, wie die Russen, an der ISS an. Als weiteres Modell hat uns Space X einen sogenannten »Free Flyer« angeboten. Dabei befindet man sich sieben Tage lang frei fliegend in einer Kapsel im Orbit, eine weitaus kostengünstigere Variante. Die erste Generation der Astronauten, bis zu den 80er-Jahren, ist ausschließlich auf diese Weise in Kapseln geflogen. Die ganze Bandbreite an Missionsszenarien bewerten wir gerade mithilfe eines Ingenieurs. So werden wir die Idealmission für uns herausarbeiten.
Unterstützung für unser Projekt erfahren wir beispielsweise durch Peter Eichler, der 15 Jahre lang bei der ESA und bei Airbus als Trainer für die europäischen Astronauten tätig war. Seit zwei Jahren ist er im Ruhestand, ich habe ihn wieder in den Un-Ruhestand versetzt.
Ebenso Detlev Hüser, der für das wissenschaftliche Forschungsprogramm unserer Mission zuständig ist. Das Gleiche hat er ein Leben lang bei OHB in Bremen gemacht. Dort war er außerdem zuständig für die Entwicklung von Geräten und Experimenten für die Forschung in der Schwerelosigkeit.
Unser Geschäftsführer, Matthias Oehm, war früher Geschäftsführer der Raketenfirma Eurockot in Bremen. Alle diese Experten sind über 60 Jahre alt, was unser Team sehr erfahrungsstark macht. Es kommen zudem immer wieder weitere verrentete Unterstützer aus der Raumfahrtbranche auf uns zu, die sich für dieses Projekt begeistern und es auf freiwilliger Basis aktiv vorantreiben möchten.
Die Arbeit erfolgt größtenteils ehrenamtlich, wobei wir unseren Beratern Geld auszahlen, wenn wir welches haben. Um ›Die Astronautin‹ weiterzufinanzieren, haben wir die gemeinnützige Stiftung ›Erste deutsche Astronautin gGmbH‹ gegründet, zumal wir Mädchen und Frauen dazu inspirieren wollen, in die Forschung zu gehen. Über die Webadresse dieastronautin. de/support-us/ kann für Insas oder Suzannas Flug ins All gespendet werden. Darüber hinaus reden wir mit einer Reihe von Firmen, die als potenzielle Sponsoren infrage kommen.«
Wir versuchen, uns im Team der »Astronautin« einmal pro Woche auszutauschen. Meist besteht die Runde aus Suzanna und mir, unserer Managerin und Astronaut Support Carmen Köhler, der Initiatorin Claudia Kessler und der Geschäftsführerin Inka Helmke. Auch der ehemalige ESA-Astronautentrainer Peter Eichler und der Leiter unseres Experimentenprogramms Detlev Hüser gehören zu unserem Team.
Nach Veranstaltungen reflektieren wir gemeinsam: Welche Kontakte haben wir geknüpft, welche Gespräche geführt. Wir tauschen Tipps aus und was als Nächstes ansteht. Wir alle haben ja auch noch andere Jobs nebenher und sind in verschiedene Projekte eingebunden. Alle Mitarbeiter, die ich im Rahmen dieses Projekts getroffen habe, empfinde ich als extrem eigenständig und gleichzeitig kooperativ. Wer Hilfe braucht, fragt einfach. Wer Erfahrungswerte oder Input hat, teilt diese. Meistens ist unser Austausch zeitlich bedingt sehr konkret und zielgerichtet. Umso schöner ist es, wenn sich nach strategischen Meetings oder Trainingsmodulen in den Abendstunden dann mal die Gelegenheit ergibt, gemeinsam essen zu gehen und sich näher kennenzulernen.
Vieles dreht sich bei uns natürlich um die Frage der Finanzierung. Die Ausbildung und Flüge der ESA-Astronauten bezahlen die Steuerzahler der Mitgliedstaaten. Da kommen ganz andere Etats zusammen: Im Jahr 2017 standen der Raumfahrtagentur rund 5,75 Milliarden Euro zur Verfügung, wobei Deutschland mit 858 Millionen Euro größter Beitragszahler war, gefolgt von Frankreich mit 856 Millionen Euro. Davon sind weniger als 400 Millionen Euro pro Jahr für die astronautische Raumfahrt bereitgestellt.
Bei uns hat sich die Politik bisher vorrangig in Form von ideeller Unterstützung beteiligt. Im Auswahlgremium der Initiative war auch die damalige Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) vertreten, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat uns zur Auswahl gratuliert. An Zuspruch aus Politik und Raumfahrtbranche mangelt es also nicht, aber so eine Mission ins All, inklusive Ausbildung und Flug, kostet für eine 10–14-tägige Mission etwa 50 Millionen Euro.
Im ersten Crowdfunding im März/April 2017 über die Internetplattform startnext.com kamen immerhin 69.000 Euro zusammen, sodass dieses Projekt überhaupt starten konnte. Das ist schon eine ganze Menge Schubkraft! Hiervon haben wir die ersten Trainings in 2017 finanziert. Auch für 2018 haben sich genügend Sponsoren aus der Wirtschaft und weitere Unterstützer gefunden.
Manchmal wird unsere Initiative gerade dafür kritisiert, dass sie kommerzieller Natur ist – eben nicht staatlich finanziert. Das Absurde dabei ist, dass erst 2016 Johann-Dietrich »Jan« Wörner, Generaldirektor der ESA, seine Vision vom »Space 4.0« erklärt hat: Eine Ära der Öffnung der Raumfahrt fahrt und Kooperation mit privaten Firmen – sogenannte »public private partnerships«, damit die Raumfahrt künftig nicht nur von Steuergeldern finanziert wird. Diese Vision wurde begeistert aufgegriffen. Jetzt stehen wir in den Startlöchern, möchten trainieren, und plötzlich heißt es: »Ach so, dafür haben wir aber noch gar keine konkrete Vorgehensweise« – eben weil wir die Ersten sind. Diese neuen Abläufe zu entwickeln dauert lange. Aber manchmal wundert man sich schon, wie kompliziert es sein kann, wenn doch eigentlich public private partnerships gewünscht sind. Insgesamt ist es also noch ein weiter und spannender Weg, damit aus meinem Traum Wirklichkeit werden kann.
Plötzlich Vorbild?
Unsere Vorbildfunktion ist einer der Ecksteine der Astronautin-Initiative. Dennoch möchte ich differenzieren, was ich darunter verstehe. Wichtig ist mir nämlich, dass ich kein Idol bin. So etwas wie Idole habe ich selbst schon relativ früh in der Kindheit abgelegt, als ich merkte, dass jeder Mensch auch Eigenschaften hat, die man selbst nicht so toll findet. Entdeckt man das aus einer Erwartungshaltung der Perfektion an diesen Menschen, dann ist man vielleicht enttäuscht oder abgeschreckt.
Wenn man eine Person idolisiert, erwartet man von ihr Dinge, die sie so gar nicht erfüllen kann. Weil sie eine eigenständige Person ist Als Person gehe ich einkaufen oder bin auch mal motzig und nicht immer 100-prozentig perfekt und kordial und höflich. Niemand auf der Welt ist das. Als Astronautin verkörpere ich jedoch ein bestimmtes Bild. Werde ich dann beim Einkaufen mit den Kindern gesehen, die vielleicht gerade seit drei Stunden nerven, dass sie ein Eis möchten – obwohl sie schon zwei Eis an diesem Tag hatten -, dann wirke ich auf Außenstehende vielleicht etwas barscher, als sie es von mir erwarten würden. Man sieht ja immer nur Momentaufnahmen von Menschen, deswegen mache ich mir auch ein bisschen Gedanken.
Mittlerweile werde ich mindestens zweimal pro Woche auf der Straße angesprochen, beispielsweise kürzlich beim Zurückgeben von Pfandflaschen. Meine Schwiegermutter hatte sich die Schulter gebrochen, da habe ich das für sie übernommen – es hatte sich einiges angesammelt. So kam ich morgens um 8:30 Uhr mit 130 Flaschen in den Getränkemarkt. Mir war nicht klar, dass die Flaschen einzeln abgezählt werden müssen. Und hinter mir musste jemand warten. Das war mir angesichts der Menge der Flaschen ohnehin reichlich unangenehm. Beim Gehen meinte der Kassierer dann: »Alles Gute für Ihren Flug.« Davor hatte er nichts gesagt. In meinem Kopf kreisten dann die Gedanken: Erzählt er jetzt jedem, wie unhöflich ich bin, dass ich frühmorgens so die Kasse blockiere? Man weiß es nicht.
Ich bekomme ja auch mit, wenn mir jemand über andere Astronauten erzählt, sie seien unfreundlich oder arrogant zum Interview erschienen. Dann antworte ich: »Nein, diese Personen sind nicht immer unfreundlich oder arrogant. Vielleicht waren sie es das eine Mal, als du sie gesehen hast.« Mit Reinhold Messner, dem Extrem-Bergsteiger, habe ich mich auch über dieses Phänomen unterhalten, als wir beide zu einer kleinen Talkrunde anlässlich des Serienstarts von »Lost in Space« von Netflix eingeladen waren. Aufgrund seines markanten Erscheinungsbilds wird Reinhold Messner überall erkannt. Leute gehen teilweise einfach auf ihn zu, machen ein Selfie mit ihm und gehen wieder weg. Ohne vorher zu fragen. Womöglich erzählen sie dann noch ihren Bekannten: »Ach, den habe ich mal beim Wandern getroffen, der war total unfreundlich.« Vielleicht weil er beim Wandern in den Bergen einfach seine Ruhe haben möchte? Aber viele Menschen werten eben aus ihrer Perspektive. Zwar steuere ich das nicht aktiv, aber mir fällt auf, dass ich manchmal deutlich stärker als zuvor auf mein Verhalten achte. Das ist auch ein bisschen anstrengend.
Was mich hingegen extrem freut: Wenn mir Mädchen und Studentinnen schreiben und zum Beispiel positives Feedback dazu geben, dass ich als Frau und Mutter meinen Weg gehe, ohne mich dafür zu rechtfertigen. Weil sie eben genau dieses Gefühl haben: Sie müssten sich dafür rechtfertigen. Es ärgert mich zwar, dass ich im Jahr 2018 so etwas noch »vorleben« muss, aber wenn es andere inspiriert, mache ich das sehr gern.
Ob ich nun aber ein Vorbild bin für ein Mädchen – das entscheidet das Mädchen selbst. Oder der Junge. Ich hoffe, dass ich auch Jungen inspirieren kann, das fände ich schön. Vorbilder geben Impulse, in eine Richtung zu gehen, in die man von allein vielleicht nicht gehen würde. Man hat zwar schon eine diffuse Vorstellung oder ein Gefühl, wohin man gern möchte. Aber ein Bild, das mir zeigt, wie es gehen könnte, kann mir die Entscheidungsfindung erleichtern. Von der Vorgehensweise dieses Vorbilds kann ich dann für mich mitnehmen, was zu mir passt.
In jedem Fall halte ich es für absolut wichtig, dass auch Astronautinnen in der Öffentlichkeit zu sehen sind – sei es im Fernsehen, in den sozialen Medien oder auch in Kinderbüchern. In meinem Umfeld als Jugendliche gab es viele Astronautinnen, die mit meinem Vater zusammengearbeitet haben. Mit Heike Walpots Tochter war ich sehr eng befreundet. Häufig gesehen habe ich auch die Astronautinnen Heide Stefanyshyn-Piper und Laurel Clark. Im Nachhinein erkenne ich, wie wertvoll es für mich war, in diesem Alter diese sehr zielstrebigen Mütter kennenzulernen – weil sich mir so nie die Frage gestellt hat, ob ich einen Beruf auch mit Kindern ausüben kann. Diese Vorbilder sind in Deutschland zwar vorhanden – ich denke da besonders an Ursula von der Leyen –, aber noch sehr rar.
Mit der Öffentlichkeit kommt auch ein gewisser Druck, den ich zuvor ehrlich gesagt unterschätzt habe. Da werde ich plötzlich von einem Fremden in der Sauna angesprochen: »Na, wie ist der Status? Wissen Sie, wann Sie fliegen?« In der Sauna!
Andererseits zeigt mir das konstante Medieninteresse, dass unser Projekt eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat. In meiner Wissenschaftler-Blase an der Universität Bonn war mir gar nicht so bewusst gewesen, wie heiß die Diskussionen um Frauen und besonders Mütter in der Arbeitswelt noch geführt werden. Im täglichen Miteinander spielt das Geschlecht meist keine Rolle, auch wenn natürlich auch im Wissenschaftsbetrieb Frauen nachgewiesenermaßen mit Vorurteilen und daraus entstehenden Nachteilen zu kämpfen haben. Aber erst als ich mit »Die Astronautin« in Erscheinung getreten bin, wurde ich mit sexistischen Kommentaren aus der Öffentlichkeit konfrontiert.
Eine TV-Reporterin für einen öffentlich-rechtlichen Sender stellte mir während meines allerersten Interviews verblüffend kreative Fragen. Ob ich nicht Angst hätte. Ich dachte, sie beziehe sich auf den Start, und setzte zur Antwort an, da fügte sie hinzu: »… mit den ganzen Männern da oben, auf so engem Raum?« Mein Gesicht in diesem Interview spricht Bände Was bitte unterstellte sie meinen Kollegen denn da? Auf so einen Gedanken war ich noch nie gekommen. Dann machte sie auch noch weiter: »Sie haben doch Kinder, können Sie überhaupt so lange ins All?« Dabei ist unsere Mission für gerade mal zwei Wochen geplant.
Beim Medientraining wurde mir später gesagt, ich solle auf solche sexistischen Fragen souverän und gelassen reagieren. Dabei glaube ich, meine authentische entsetzte Reaktion war ganz passend – immerhin entstand so in der Redaktionssitzung des Senders eine sehr hitzige Diskussion, und ich habe ungefragt eine schriftliche Entschuldigung bekommen. Deshalb behalte ich das weiter bei, wenn es zu absurd wird. Je öffentlicher ich als Person gerade bin, desto mehr fühle ich mich dazu auch verpflichtet.
Vater-Tochter-Gespräch: Insa, trittst du in die Fußstapfen deines Vaters?
Hm, wir haben immerhin fast die gleiche Schuhgröße – 38 und 38,5. Ich finde es ein bisschen schwierig zu sagen, was ich von meinen Eltern übernommen habe. Schließlich ist da viel miteinander verwoben: Man wächst nicht nur mit einer Bezugsperson auf, sondern mit vielen. Hinzu kommen viele Kontakte mit anderen Menschen, und teilweise können einen auch Ereignisse beeinflussen, die mit Personen zu tun haben, die man nur einmal sieht oder nur in einer sehr kurzen Phase seines Lebens.
Geht es speziell um die Faszination für Raumfahrt oder den Wunsch, ins All zu fliegen – natürlich haben wir zu Hause viel über dieses Thema gesprochen. Es war der erste Beruf, den wir hautnah kennengelernt haben, jenseits von dem einer Lehrerin. Lehrerin wollte ich auch mal werden. Dennoch sträube ich mich etwas dagegen, zu sagen, der Wunsch sei nur durch dein Vorbild entstanden. Dass man mit einem Astronauten zusammenlebt, ist ja nicht immer präsent Im normalen Alltag hat das Thema keine allzu große Bedeutung.
Die groben Bausteine haben wir natürlich schon mitbekommen, auch durch die Umzüge, aber ich kann nicht sagen, dass es allein die Fußstapfen meines Vaters wären, in die ich jetzt gerade trete. Zumal ich auch viele andere Astronauten und Astronautinnen kennengelernt habe. Diese Gemeinschaft war schön, und es schien ein tolles Arbeitsumfeld zu sein, zumindest habe ich das als Kind so wahrgenommen. Papa, du hast zwar nicht so viel davon erzählt, aber die spannenden Tätigkeiten wie Tauchtraining und Jetfliegen waren uns schon präsent, wie eine Art natürliches Hintergrundrauschen.
Wichtiger war: Wir haben einfach gesehen, dass die Menschen in unserem Umfeld das, was sie tun, gern machten. Wärst du jetzt jeden Tag von der Arbeit nach Hause gekommen und hättest gesagt: »Uh, was für ein blöder Tag bei der NASA«, dann hätte ich bestimmt gesagt: »Bleib mir bloß weg damit.»
In einer Sache bin ich sicherlich in deine Fußstapfen getreten: bei der Promotion. Für mich war immer vollkommen klar: Wenn man als Wissenschaftler arbeiten möchte, dann studiert man und promoviert anschließend. Wärst du nicht promoviert gewesen, wäre ich wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen. So stand für mich schon weit vor dem Abi fest, dass ich promovieren werde. Dass es ein so ähnliches Fach geworden ist (Meteorologie und Ozeanografie) war hingegen Zufall – das habe ich erst festgestellt, als ich schon mitten im Studium war.
Insa ist Insa, Gerhard ist Gerhard, und wer in die Fußstapfen von anderen tritt, kann keine eigenen Spuren hinterlassen. Ich hoffe sehr, dass du, auch wenn der Titel derselbe ist, deine Aufgabe so gestaltest, dass du komplett neue Spuren legst, und genau das wird auch passieren. Dass du, als die Gelegenheit da war, sie ergriffen hast, finde ich natürlich toll. Genau dazu haben wir gehofft, euch alle zu erziehen: Dass ihr etwas tatsächlich auch ausprobiert, wenn ihr das Gefühl habt, das passt zu euch.
Das stimmt. Uns Kindern habt ihr immer klargemacht, dass man alles machen kann, Hauptsache, man ist glücklich und interessiert daran. Das schließt auch Handwerks-, Pflege- oder sonstige Berufe ein. Uns wurde nie vermittelt: »Wir bestehen auf vier akademischen Sprösslingen, die auf dem Gymnasium ein Einserabitur abschließen«, oder etwas in der Art. Wir haben uns immer ganz frei gefühlt. Ich hoffe, ich kann das meinen Kindern auch so weitergeben.