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Mit Astronauten aufwachsen
Die Raumfahrt-Community
Es war meine Mutter, die befand, ein geeignetes Ausflugsziel mit vier Kindern sei das Cape Canaveral. Immer wieder fuhr sie mit uns von Houston, Texas, drei Tage lang die rund 1600 Kilometer entlang der Interstate 10 durch Louisiana, Mississippi und Alabama, um in Florida diversen Shuttle-Starts beizuwohnen. Meist saßen dann Freunde von uns in den Raumschiffen. Astronauten, die man vom Barbecue an Thanksgiving kannte und mit deren Kindern wir spielten. Allerdings nicht bei den Launches selbst. Denn während wir uns als Nicht–Familienmitglieder einfach ins weiche Gras hockten und picknickten, standen die Familienmitglieder der jeweils Startenden auf dem Dach des Launch Control Centers im Kennedy Space Center.
Dass mein Vater auch Astronaut war, interessierte mich damals so sehr, wie man sich als Kind beziehungsweise pubertierende Jugendliche eben für den Beruf des Vaters interessiert. Mehr peripher. Es schien ja auch normal zu sein, irgendwie. Außerdem hatten meine Geschwister und ich unsere eigenen Leben. Und die waren gut gefüllt mit Schule, Hobbys und Freundschaften.
Cape Canaveral |
Cape Canaveral an der Ostküste Floridas ist ein Naturschutzgebiet. Gleichzeitig befinden sich hier die wichtigsten US-amerikanischen Weltraumbahnhöfe: das Kennedy Space Center der NASA, von dem die astronautischen Raumflüge starteten, und die militärische Cape Canaveral Air Force Station für Raketen ohne Besatzung.
Für Insa und ihre Geschwister hatte mein Job keinen herausragenden Stellenwert. Es war ihr bekannt, dass der Flug ins All etwas war, was der Papa unbedingt machen wollte, ein Traum für ihn. Aber sie hatte viel für die Schule zu tun und pflegte ihre Hobbys. Das Leben der Familie war nicht auf den Vater ausgerichtet, es war ein buntes Leben, in dem alle sechs ihr eigenes hatten. In diesem Sinne sind wir eine ziemlich gewöhnliche Familie. Mit Aufregung um meine Person oder Brimborium kann ich ohnehin nichts anfangen. Dieser normale Umgang der Familie mit meinem Job hat mir geholfen, auf der Erde zu bleiben. Ich empfinde das als einen ziemlich glücklichen Umstand.
Unsere Kinder sind in einem Umfeld groß geworden, wo Raumfahrt einfach die Normalität war. In ihrer Grundschule hingen 43 Porträts von Astronauten. Hätte da jetzt einer gesagt: »Oh, mein Papa ist Astronaut, oder meine Mama ist Astronautin«, hätte nebendran jemand gesagt: »Meine auch.« In diesem Sinne war es also nichts Besonderes.
In der Raumfahrt-Community wird großen Wert darauf gelegt, dass sich die Familien untereinander gut verstehen. Als meine Mutter während der Mission meines Vaters Geburtstag hatte, sind die Ehepartner der anderen Astronauten der Mission mit ihr essen gegangen. Es gibt das sogenannte »Spouses Network«, also das Netzwerk für Ehepartner, das für den sozialen Zusammenhalt sorgt. Dort gehen dann immer wichtige Infos herum, wie Einladungen zu Weihnachtsfeiern oder Poolpartys. Dabei werden auch die Ersatzleute der jeweiligen Mission eingeladen.
Als wir gerade neu ankamen, trafen sich gleich mehrere Familien mit uns. So fühlten wir uns sofort integriert. Und es war gleich klar: Irgendjemand beschäftigt sich mit uns an Thanksgiving. Das ist eine Besonderheit der Raumfahrtbranche. Dass man einen neuen Kollegen an einem Fest wie Weihnachten gleich samt Familie zu sich nach Hause einlädt, kommt sonst wohl eher selten vor. Diese Integration ist schön und wichtig, weil viele Astronauten eben für den Job hergezogen sind und keine Familie vor Ort haben. Über die Einladungen des Spouses Network haben wir auch immer viele Kinder kennengelernt.
Für uns Kinder war dieses Netzwerk ebenfalls sehr wichtig, da wir so auch einen schnelleren Zugang zu neuen Freundeskreisen und der doch anderen Kultur der Amerikaner bekamen. Besagtes Thanksgiving ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben. Der 16-jährige Sohn der Familie hatte nämlich seine feste Freundin dabei. Beide durften sich jedoch nur im Wohnzimmer gemeinsam aufhalten, um stets unter Aufsicht zu sein. Das war ein ganz schöner Kulturschock für mich.
Bedingungslose Unterstützung
Meine Frau unterstützte meine Raumfahrtambitionen auf wunderbare Weise – obwohl sie diese nicht befürwortet hatte. »Du fliegst nicht«, hatte sie gleich zu Beginn ganz klar gesagt, als mir der Gedanke erstmals in den Sinn kam. Sie hatte Sorge um mich. Auf der anderen Seite wusste sie, dass ich es gern machen wollte. Schließlich sagte sie sich: Wenn er das gern will, dann soll er sich in Gottes Namen halt bewerben. Irgendwann wird er schon zur Vernunft kommen.
Ab dem 3. Januar 1986 waren wir in Princeton in New Jersey, wo ich als Gastwissenschaftler Klimaforschung betrieb. Nur etwa drei Wochen später, am 28. Januar, passierte das Challenger-Unglück Sieben Astronauten verloren durch eine Explosion kurz nach dem Start ihr Leben. Da sagte meine Frau bezüglich meiner eigenen Weltraumambitionen: »Das war’s jetzt ja dann wohl.« Darauf habe ich kaum reagiert. Wozu in so einem emotionalen Moment eine große Diskussion anfangen? Direkt nach einer Katastrophe fallen Entscheidungen vielleicht anders aus als unter anderen Umständen.
Ich habe also einfach zugehört, was meine Frau mir gesagt hat. Und geantwortet: »Jetzt schauen wir mal, was die als Unglücksursache finden. Außerdem habe ich mich ja nur beworben. Die suchen mich doch eh nicht. Du kannst ja mal in der Ausschreibung nachgucken, wen die suchen Mich jedenfalls nicht!«
Tatsächlich habe ich die Bedingungen der Ausschreibung gar nicht erfüllt. Viele Jahre Berufserfahrung waren gewünscht, und man sollte in ganz vielen Bereichen besonders herausstechen. Überraschenderweise war aber meine Bewerbung überzeugend genug gewesen, um zur ersten Auswahlrunde eingeladen zu werden. Wieder sagte meine Frau: »Ich finde es nicht gut, dass du dorthinfährst.« – »Sieh es doch mal bitte ganz rational«, habe ich geantwortet. »Ich fliege da eh raus. Aber wenn ich Glück habe, kann ich hinterher sagen, ich habe jemanden kennengelernt, der Astronaut geworden ist. Und dann kenne ich einen. Habe wenigstens ein Mal mit einem Astronauten Kaffee getrunken oder ihm die Hand geschüttelt.« Gut, es ist dann anders gekommen.
Phänomenal finde ich, dass sie mich dann trotz ihrer Bedenken von Anfang an wirklich unterstützt hat. Sie hätte mich ja auch meine Ideen allein umsetzen lassen können. Aber sie stand mir bedingungslos zur Seite, war die Managerin der Familie – auch weil ich mir zu selten die Zeit dazu genommen habe. Aus heutiger Sicht würde ich es vielleicht anders machen. Aber was gewesen ist, ist gewesen.
Rückblickend frage ich mich, wie meine Mutter das alles so hinbekommen hat. Zum Beispiel neben dem wirbeligen Alltag mit vier Kindern für einen zweiwöchigen Skiurlaub mit sechs Personen zu packen – oder überhaupt erst einmal eine geeignete und finanzierbare Ferienwohnung zu finden. Die Logistik im Alltag wie auch auf unseren Reisen hing größtenteils an ihr. Auch an den Wochenenden haben wir viel unternommen: Kulturelles wie Besuche in der Philharmonie, im Cirque du Soleil oder gern auch Ausflüge mit vielen anderen Familien mit Kindern. Die Wohnmobilurlaube, bei denen wir die amerikanischen Nationalparks durchquerten, waren ihr wichtig und gut durchgeplant. So richtig weiß man das wohl erst zu schätzen, wenn man selbst Kinder hat. Wenn man weiß, was das alles an Zeit, Geld und Nerven kostet. Ich schätze es sehr, dass unsere Eltern und besonders meine Mutter diesen Unternehmungen eine solche Priorität eingeräumt haben.
Wir haben das so für uns ebenfalls übernommen – selbst nachdem unsere erste Tochter auf der Welt war, waren mein Mann Daniel und ich am Wochenende an beiden Tagen von morgens bis abends unterwegs Unsere Kinder haben ein Abo in der Kinderphilharmonie, und wenn wir in den USA sind, sind Nationalparkbesuche – so sehen es auch meine drei Geschwister – Pflicht.
Interessanterweise war es nicht etwa mein Vater, sondern meine Mutter, die mich als Erste auf die Ausschreibung der Initiative »Die Astronautin« aufmerksam machte. Mein Mann schickte mir kurze Zeit später einen Spiegel-Online-Artikel, in dem zur Bewerbung aufgerufen wurde. Beide forderten mich mehr oder weniger direkt auf, mich dort zu bewerben.
Schon während der Auswahl, die stellenweise nervenaufreibend war und einiges an Vorbereitungszeit bedurfte, hat mein Mann mich bedingungslos unterstützt. Es war vollkommen klar, dass ich dafür jetzt Rückhalt brauche, darüber haben wir gar nicht groß gesprochen.
Besonders notwendig war diese Unterstützung in den Monaten direkt nach der finalen Auswahl. Wie bei jedem Start-up sind die ersten Monate sicherlich die intensivsten – das Team muss sich erst finden, Kommunikationsstrukturen aufgebaut und Aufgaben verteilt werden. Noch dazu hatten wir von April bis Juli 2017 eine sehr hohe Medienpräsenz, und das komplett ohne Medienerfahrung meinerseits. Hinzu kam die selbstgesetzte Deadline für meine Promotion Ende Juli, die jede Minute brauchte, die ich irgendwie entbehren konnte. Direkt vor der Auswahl hatte ich Geburtstag, die meisten Glückwunschnachrichten konnte ich jedoch erst vier bis fünf Wochen später, also Ende Mai, lesen. Das waren für mich die bisher beruflich stressigsten Monate.
Noch mal einige Wochen später, irgendwann im Juni, fiel mir auf, dass ich seit Wochen nicht ein Stück Wäsche in der Hand gehalten hatte, geschweige denn mich sonst großartig am Haushalt beteiligt hatte. Dass ich, statt zu staubsaugen, lieber Zeit mit den Kindern verbringe, war für meinen Mann vollkommen selbstverständlich. Und das, obwohl er selbst Vollzeit berufstätig ist und mehrmals pro Woche drei Stunden am Tag nach Frankfurt pendelt. Ihm war jedoch klar, dass es sich um eine vorübergehende Situation handelte, die sich nach ein paar Monaten wieder anders darstellen würde. Dennoch: Diese bedingungslose Unterstützung über so einen langen Zeitraum vom eigenen Partner zu erfahren war wunderschön – umso mehr, weil es ihm selbst so selbstverständlich erschien.
Verantwortung übernehmen
Meine Eltern haben vier Kindern in sechs Jahren bekommen, ich war die Älteste. Mit einem Vater, der extrem viel unterwegs war, und einer Mutter, die keine Verwandtschaft in der Nähe hatte, hieß das beispielsweise, dass ich im Alter von sechs Jahren auch mal mit meinem jüngeren Bruder allein zu Hause blieb. Warum auch nicht? Überfordert fühlte ich mich dadurch nicht Ich finde sogar, dass wir Kinder insgesamt sehr wenig Verantwortung übernehmen mussten, auch was die Mitarbeit im Haushalt angeht. Gerade die Gemeinschaftsflächen wurden von sechs Leuten stark beansprucht – und darum hat sich meine Mutter allein gekümmert. Rückblickend bereue ich das sehr, aber als Kind kommt man wohl nicht von selbst auf die Idee, dass es ganz nett wäre, einfach mal fünf Minuten ungefragt im Haushalt zu helfen.
Meine Frau ist von Berufs wegen Ergotherapeutin. In Amerika durfte sie leider nicht arbeiten. Schade, denn die Kinderbetreuung ist dort planbarer als in Deutschland. Sobald die Kinder schulpflichtig sind, sind sie dort von morgens um neun bis nachmittags um vier Uhr weg. Auch wenn mal eine Lehrkraft krank ist. In Deutschland müssen Eltern dann oft kreativ werden und viel koordinieren, weil die Kinder zum Beispiel einfach früher nach Hause geschickt werden.
In Deutschland waren wir als jüngere Schüler bereits um halb zwölf wieder zu Hause. Und dann gab es jeden Tag ein warmes Mittagessen, bevor wir frei unsere Nachmittage gestaltet haben. Rückblickend finde ich das bewundernswert. Wenn man bei mir überhaupt davon sprechen kann, dass ich in jungen Jahren Verantwortung für andere übernommen habe, dann in der Hinsicht, dass ich meine kleinen Geschwister bei Laune gehalten habe, wenn sie bei einer Wanderung nicht mehr ganz so fröhlich waren und die Stimmung zu kippen drohte. Dann habe ich mir irgendetwas Unterhaltendes für sie ausgedacht. Aber das ist ja eher normales Miteinander als Verantwortung.
Für mich selbst habe ich allerdings schon als Kind viel Verantwortung übernommen – und das fand ich ganz selbstverständlich. Jeden Tag hatte ich ein Hobby: Turnen, Flöten, Pfadfinder … bei so vielen Kindern hätte meine Mutter mich nicht überall hinfahren können. Also war ich viel mit dem Fahrrad unterwegs, mit sieben bin ich auch schon allein mit dem Bus, mit einmal Umsteigen, zur Musikschule gefahren. Mir erschien das damals ganz normal, auch dann, als ich einmal die Haltestelle zum Aussteigen verpasst habe und plötzlich im Nachbarort an der Endstation stand.
Im Alter von zwölf Jahren durfte ich bereits ein Wochenende allein mit einer Freundin zu Hause bleiben, während meine Eltern zu Freunden gefahren sind. Das fanden wir damals aufregend, immerhin durften wir da selbst für uns kochen. Ob es meine Eltern am Sonntagmorgen bei ihrer Ankunft so toll fanden, dass die Essensreste von Freitagabend noch vor dem Fernseher standen, weiß ich ehrlich gesagt nicht.
Als Erstgeborene bekommt man recht früh recht viel Verantwortung aufgehalst. Das geschieht gar nicht absichtlich, sondern nebenbei. Es gab eine Situation, bei der mir erst zu spät klar wurde, was ich von Insa verlangte: Sie war drei Jahre alt und ihr Bruder Tjark anderthalb. Ich musste in eine Bank, um Geld abzuheben. Es war schönes Wetter, und so habe ich zu Insa gesagt: Nimm Tjark an die Hand, und bleib hier draußen stehen. Das hat sie auch getan. Als ich wieder aus der Bank kam, habe ich ihr Gesicht gesehen: mit welcher Anstrengung sie versucht hat, ihren Bruder an der Hand zu halten. Es war die Hauptverkehrsstraße, die Bank lag an der Ecke. Und ich dachte mir: Um Gottes willen, was hast du da gerade eben gemacht? Ich hätte die zwei ja auch mit in die Bank nehmen können, das wäre gar kein Problem gewesen. Es schien mir in diesem Moment schlichtweg einfacher zu sagen: Nimm ihn mal an die Hand, damit er nicht wegspringt. Solche Sachen passieren einfach in einer Familie, auch wenn man sie im Nachhinein anders machen würde. Vielleicht kommt dieses Verhalten auch daher, dass ich selbst das älteste von vier Kindern bin.
Schwimm, oder geh unter
Als wir zum ersten Mal in die USA zogen, war ich in der vierten Klasse. Verstanden habe ich wenig, Englisch gesprochen gar nicht. Ich war jedoch nicht allein: Mein Bruder und noch ein deutscher Bekannter von uns waren auf derselben Schule. Die ersten drei Monaten haben wir ohnehin in einem »Englisch als Fremdsprache«-Kurs zusammen verbracht und waren nur für jeweils drei Stunden getrennt in unseren jeweiligen Jahrgangsstufen, im Matheunterricht beispielsweise. Weil ich darin gut war, hatte es mich dort nicht gestört, dass ich die Lehrerin nicht immer verstand. Die Situation war einfach so, wie sie war – als Neunjährige hatte ich keine andere Wahl, als mich damit zu arrangieren. Und wenn ich ins tiefe Wasser geworfen werde, schwimme ich lieber, als unterzugehen.
Dabei war ich extrem schüchtern und habe als Kind sehr wenig geredet. Das können sich viele heute kaum vorstellen. Vielleicht lag es an der Familiendynamik mit insgesamt sechs Leuten. Ich sehe ja schon bei meiner großen Tochter, dass sie auch mal zurücksteckt für die kleine Schwester, wenn die schon hundemüde ist und die Ältere eigentlich noch etwas machen wollte. Das ist nichts Negatives, aber ich glaube, ein Einzelkind hat es ein bisschen einfacher zu sagen, was es möchte.
In der Schule habe ich also zunächst wenig geredet, konnte dennoch relativ schnell Englisch – doch bereits neun Monate später waren wir schon wieder zurück in Deutschland. Diese neun Monate habe ich nicht als gravierenden Zeitraum empfunden. Die Abschlussklassenfahrt hatte ich verpasst, das war ein bisschen schade. Aber ansonsten fiel es mir leicht, wieder Anschluss zu finden.
Schwieriger war der Umzug nach Houston in der achten Klasse Das Miteinander der Teenager ist in den USA anders als in Deutschland. Äußerlichkeiten spielen eine größere Rolle, es gibt unausgesprochene Regeln, in welche AGs man geht, zu welchen Gruppen man gehört. Diese sozialen Strukturen muss man erst einmal erkennen und sich dann darin zurechtfinden.
Weil ich gute Noten hatte, wurde ich in die sogenannte »Honor Society« eingeladen, mit einem förmlichen Brief an meine Eltern. Wir konnten nicht einschätzen, was dort auf uns zukommen würde. Gegen 18 Uhr fuhr meine Mutter mit mir zur Abendveranstaltung, beide in Jeans und T-Shirt. Als wir ankamen, sahen wir, dass sich alle anderen bis über beide Ohren herausgeputzt hatten. Also rasten wir nach Hause, zogen uns schnell irgendetwas halbwegs Passendes an, fuhren wieder zurück zur Veranstaltung und kamen ein bisschen zu spät an. Dort wurden wir der Reihe nach förmlich aufgerufen, bekamen ein Zertifikat überreicht und nahmen anschließend an einem Empfang mit Horsdœuvre teil – in der achten Klasse. Das erschien uns beiden doch etwas überzogen.
Insa ist schon eine Art Überfliegerin. In den USA ist der Abschluss der Highschool nach zwölf Jahren üblich. Wer es sich zutraut und nicht auf den Kopf gefallen ist, kann es auch schon nach elf Jahren versuchen. Dazu ging Insa morgens um halb sieben eine Stunde früher als normal in einen Zusatzunterricht, wo sie die nötigen Kurse belegte, um den Abschluss schon früher zu erreichen. Danach ging sie nach einem Sommer an der Harvard University mit Kursen in Astronomie und Logik zurück nach Deutschland, während der Rest der Familie noch in Houston blieb Mit ihrer alten Stufe durchlief sie dann die 12. und 13. Klasse und machte das Abitur. Das finde ich schon bemerkenswert. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass Insa sich damit überforderte, weder schulisch noch sozial Übrigens: Nach den gesetzlichen Bestimmungen – wo kommen die eigentlich her? – wäre das gar nicht möglich gewesen. Insa hätte normalerweise trotz amerikanischen Abschlusses in die 11 Klasse zurückgemusst Damit sie in die 12. Klasse aufgenommen werden konnte, musste der Schulleiter beim Regierungspräsidium in Köln um eine Sondergenehmigung anfragen. Doch dort ließ man sich mit der Beantwortung viel Zeit. Als schließlich auch auf Nachfragen immer noch keine Antwort aus dem Regierungspräsidium kam, entschied der Schulleiter zu Schuljahresbeginn einfach selbst, dass Insa in die 12. Klasse gehen werde. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: »Die – gemeint war das Regierungspräsidium – können sich hinterher gern mit mir auseinandersetzen, wenn sie anderer Auffassung sind.« So konnte Insa neben dem amerikanischen auch das deutsche Abitur machen Und hätte mit beiden Abschlüssen im Handgepäck problemlos in beiden Ländern studieren können. Insa war schon als Kind sehr wach.
Im Grundschulalter habe ich gern in der Jugendabteilung der Bücherei gestöbert. Typische Kinderbücher wie »Die drei ???«, »Fünf Freunde« und »Hanni und Nanni« habe ich täglich verschlungen, aber besonders haben mich Fantasiewelten wie »Die unendliche Geschichte« oder »Momo« fasziniert. Mein Favorit: »Krabat«, ein Roman von Otfried Preußler, bei dem sich die Hauptfigur mit bösen Mächten einlässt und darin verstrickt, sich aber mithilfe von Willenskraft, Freundschaft und Liebe wieder daraus befreien kann. Das sind nicht unbedingt Bücher, die ich jetzt schon meiner achtjährigen Tochter vorlesen würde, aber mich haben diese verschiedenen Welten fasziniert. Jetzt fehlt es mir leider oft an Zeit, sodass ich – wenn überhaupt – eher mal einen Kriminalroman lese.
Wie ein Satellit
Den Anschluss an meine deutschen Freunde habe ich während unseres zweiten USA-Aufenthalts nur teilweise halten können. Mein Freundeskreis ging eben ohne mich durch die Pubertät. Meine Eltern haben es uns zwar ermöglicht, jeden Sommer nach Hause zu fliegen. Da habe ich dann teilweise wochenlang bei meinen alten Freundinnen gewohnt. Dennoch ist die Verbindung dann nicht mehr so intensiv, wie wenn man sich nahezu täglich sieht Bis heute hat das Nachwirkungen: Untereinander treffen sie sich noch regelmäßig, und ich bin einfach nicht dabei, obwohl auch ich mit allen befreundet war. Das ist auch nicht schlimm, ich bemerke es nur. Man fühlt sich wie ein Satellit, der außen um die anderen herumkreist. Das hat aber auch Vorteile, denn so konnte ich mich zwischen vielen verschiedenen Freundeskreisen bewegen. Das ist heute noch so.
Die häufigen Wohnortswechsel führen dazu, dass man alles erst einmal von der Außenposition her beobachtet: Wie sind hier die Abläufe, wer ist wer? Und wenn man nach einer Weile zurückkommt: Aha, ihr habt euch auf diese und jene Weise verändert. Das ermöglicht auch die Frage: Und ich? Man selbst ändert sich ja genauso.
In der Rückschau muss ich sagen: Insa war bezüglich der Wohnortswechsel unempfindlich. Sie steuerte das sehr über den Kopf. Ihr Bruder Tjark tat sich da bedeutend schwerer, insbesondere beim letzten Umzug in die USA. Ich glaube, ein Grund war sein Alter, er war damals knapp zwölf Jahre alt. Wir wohnten zuvor in Brühl, Tjark war gerade in dem Alter, in dem er zunehmend selbstständiger wurde und mit dem Fahrrad oder Bus Freunde besuchen oder in die Musikschule fahren konnte. Doch öffentliche Verkehrsmittel sind in Clear Lake, wo wir in den USA lebten, eine glatte Fehlanzeige. Und mit dem Rad zu fahren war schlicht zu gefährlich. Einfach deswegen, weil die Autofahrer keine Radfahrer auf den Straßen gewohnt sind. Ohne Fahrrad und ohne Bus hat es bei Tjark fast ein Jahr gedauert, bis er in Texas »angekommen« ist. Als nach dem ersten Schuljahr in Houston im Mai endlich die langen Sommerferien begannen, nahmen Insa und Tjark beide Einladungen von Freunden in der alten Heimat in Brühl an und verbrachten mehrere Wochen bei deren Familien. Nach diesem Sommer wollte Tjark allerdings nicht mehr nach Deutschland zurück, wohl weil er gemerkt hatte, dass die alte Heimat in seiner Erinnerung eine andere war, als die, die er bei seinem Besuch dort erlebte.