Читать книгу Nimm mich - oder stirb - Irene Dorfner - Страница 4
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ОглавлениеAls Manuela Kaufmann die tote Ratte in ihrem Briefkasten sah, wich sie unwillkürlich zurück. Sie hatte sich dermaßen erschrocken, dass sie sich einen kurzen Augenblick später übergeben musste. Der Schock über die gefährliche, rücksichtslose Fahrweise eines Verkehrsteilnehmers auf dem Nachhauseweg saß ihr immer noch in den Knochen. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre im Straßengraben gelandet. Zum Glück konnte sie über eine Parkbucht ausweichen, wodurch sie Schlimmeres verhindert konnte. Was war heute nur los?
Vorsichtig besah sie sich das tote Tier, dessen Augen sie anzustarren schienen. War das nur ein Streich dummer Kinder? Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Papiertaschentuch. Sie nahm gleich drei davon und griff nach der Ratte. Sie hatte einen steifen, trockenen Körper erwartet, aber dieser hier war noch weich. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper und sie ließ die Ratte fallen. Mit einem lauten Klatsch landete sie auf dem hellen Fliesenboden des Hochhauses der Aalener Straße in Orschel-Hagen, in das sie erst vor wenigen Monaten eingezogen war. Der Wohnort vor den Toren der schwäbischen Stadt Reutlingen war willkürlich von ihr gewählt worden. Sie hatte hunderte von Bewerbungen verschickt und von einer Spedition im Nachbarort bekam sie die erste Zusage, die sie sofort annahm. Der neue Wohnort war ihr genauso egal wie die neue Arbeitsstelle. Die Hauptsache war, dass beides weit genug von Nürnberg entfernt war. Es war ihr auch egal gewesen, in welchem Zustand die Wohnung und das Haus waren. Sie war auf der Suche nach Wohnraum, der ihr Schutz bot und in dem sie sich vielleicht endlich wieder sicher fühlen konnte. Ein Gefühl, das sie sehr lange vermisst hatte.
Die tote Ratte lag vor ihr. Daneben lag ihr Erbrochenes, für das sie sich jetzt schämte. Sobald der ekelhafte Tierkadaver beseitigt war, musste sie ihre Hinterlassenschaft beseitigen. Sie sah sich um. Von den vielen Nachbarn, deren Neugier sie sonst verfolgte, war gerade heute nichts zu sehen. Kein Kavalier, den sie um Hilfe bitten konnte, leider. Da es Kinder in dem Haus gab, konnte sie die Ratte dort nicht liegen lassen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als sich erneut darum zu bemühen, das Tier zu packen und in die Abfalltonne vor der Haustür zu werfen. Auf die Papiertaschentücher musste sie verzichten, die waren nicht stabil genug. Wenn sie an den weichen Körper dachte, kroch der Würgereiz wieder nach oben. Sie hasste Ratten und Mäuse, sie hatte regelrecht Angst vor ihnen. Selbst Filme, in denen diese Nager vorkamen, konnte sie sich nicht ansehen. Trotzdem musste sie dieses grässliche Vieh wegschaffen.
Sie zog einen Blickpunkt, eine kostenlose wöchentliche Zeitung, aus einem der Nachbarbriefkästen, die ihr mit den vielen Prospekten darin stabil genug schien. Das musste reichen, etwas anderes hatte sie nicht. Mit dem Fuß schob sie die Ratte auf die Zeitung. Dann stutzte sie. War dem Tier etwas aus dem Maul gefallen? Sofort meldete sich wieder der Mageninhalt, denn das, was jetzt auf der Zeitung lag, war ein kleiner, klumpiger Brocken.
Aber…konnte das sein? Panik stieg in ihr auf. Vergessen war die Ratte, denn sie konzentrierte sich nur auf diesen Brocken. Vorsichtig nahm sie ihn mit einem Papiertaschentuch und drehte ihn im Licht. In diesem Moment ging die Beleuchtung aus. Sie drückte erneut auf den Schalter. Dann sah sie es: Ein kleiner, hellblauer Edelstein, den sie gut kannte. Ihr versagten die Knie und sie sackte auf die kalten Fliesen. Das Auto vorhin, das sie bedrängte, war kein Zufall. Und auch die Ratte war kein übler Scherz. Beides galt ihr, um ihr Angst zu machen: Er war wieder hier!