Читать книгу Nimm mich - oder stirb - Irene Dorfner - Страница 7
4.
ОглавлениеDrei Tage vergingen.
Der Polizeibeamte Stefan Kimmerle musste immer wieder an die ängstliche Frau denken, der er nicht helfen konnte. Ein paar Mal war er an dem Hochhaus vorbeigefahren. Er kannte Neuberts Kfz-Kennzeichen auswendig und hielt Ausschau danach, aber davon war weit und breit nichts zu sehen. Ob sich die Frau nicht doch geirrt hatte und alles nur ein dummer Zufall war? Nein, daran glaubte er nicht. Dieser Psychopath war hier irgendwo. Irgendwann würde dieses Arschloch aus seinem Loch kriechen und zuschlagen – und Kimmerle musste zumindest versuchen, das zu verhindern.
Stefan Kimmerle hatte Feierabend und auch heute nahm er wieder den kleinen Umweg über die Aalener Straße. In den letzten Tagen hatte er sich gemeinsam mit den Kollegen viele Gedanken darüber gemacht, wie sie der Frau helfen könnten. Es gab einige wichtige Ansatzpunkte, die vor allem von Horst Deutschle kamen. Der ältere Kollege hatte nach den vielen Dienstjahren reichlich Erfahrung und die war jetzt Gold wert. Kimmerle musste mit Frau Kaufmann sprechen, aber dafür war es heute schon zu spät. Wenn er jetzt bei ihr klingelte, würde er sie nur erschrecken. Trotzdem wollte er auch heute wieder an ihrem Haus vorbeifahren und nach dem Rechten sehen, nur ganz kurz.
Kimmerle sah den Wagen mit dem Nürnberger Kennzeichen sofort. Frau Kaufmann hatte absolut Recht gehabt, Neubert war hier.
Kimmerle hielt an und stieg aus, wobei er seine Hand an der Waffe hielt. In dem Wagen saß ein Mann, das musste Walter Neubert sein. Je näher er dem Wagen kam, desto deutlicher erkannte er das Gesicht des Mannes, dem er am liebsten eine reingehauen hätte. Aber das durfte er nicht. Er musste sich zusammenreißen und sachlich bleiben, auch wenn ihm das diesem Mann gegenüber sehr schwer fiel. Kimmerle klopfte an die Scheibe.
„Was ist los?“ Walter Neubert hatte eine tiefe Stimme.
„Guten Abend. Fahrzeugpapiere und Führerschein bitte.“
„Warum? Ich sitze nur hier in meinem Wagen, das ist nicht verboten.“
„Und ich möchte Ihre Papiere sehen. Wenn ich bitten darf?“
Walter Neubert war stinksauer. Wegen eines dringenden Termins hatte er nach Nürnberg fahren müssen und dadurch drei wertvolle Tage vergeudet. Erst seit zwei Stunden war er wieder hier. Niemand außer Manuela sollte wissen, dass er sie gefunden hatte. Offiziell durfte er sich ihr nicht nähern, aber noch hatte er die vorgeschriebene Grenze nicht unterschritten. Murrend gab er dem in seinen Augen übereifrigen Provinzpolizisten die Papiere.
Kimmerle war nicht überrascht, als er den Namen des Mannes las, der sich Frau Kaufmann nicht nähern durfte. Er entschied, sein Wissen vorerst für sich zu behalten.
„Was machen Sie hier?“
„Nichts.“ Walter Neubert fiel keine passende Erklärung ein. Was hätte er auch sagen sollen?
„Bitte fahren Sie weiter.“
„Warum?“
„Anwohner haben sich beschwert“, log Kimmerle. „Wenn Sie hier nichts verloren haben, möchte ich Sie bitten, meiner Aufforderung nachzukommen.“
Murrend startete Neubert den Wagen. Da der Polizist keine Anstalten machte, zu seinem Wagen zu gehen, blieb Neubert nichts anders übrig, als wegzufahren. Das passte ihm nicht. Er hatte drei Tage wegen diesem blöden, in seinen Augen völlig überflüssigen Termin, auf den sein Vater bestanden hatte, verloren. Jetzt musste er an Manuela dranbleiben und jede noch so kleine Information sammeln, denn noch wusste er nicht allzu viel. Er musste sie noch mehr ängstigen, denn noch ging es ihr nicht schlecht genug. Solange sie den Mut hatte, zur Polizei zu gehen, war sie noch nicht am Boden, und das musste er ändern. Während der Zeit, in der er vor dem Hochhaus auf Manuela wartete, hatte er sie nicht gesehen. Hätte sie nicht längst von der Arbeit zurückkommen müssen? In ihrer Wohnung brannte kein Licht, also konnte sie noch nicht hier sein. Oder etwa doch? Wollte ihn das kleine Luder an der Nase herumführen, wie sie es so oft getan hatte? Er musste seinen Posten verlassen, dieser Trottel von Polizist bestand darauf. Spätestens in einer halben Stunde war er wieder zurück und musste sich überlegen, wie er an den Schlüssel ihrer Wohnung kommen konnte.
Kimmerle sah dem Wagen hinterher und hatte kein gutes Gefühl. Die Augen des Mannes waren eiskalt, der Typ war sicher zu allem fähig. Die Angst von Frau Kaufmann war nicht unbegründet. Er musste dringend die Kollegen informieren. Er stieg in seinen Wagen und beschloss, noch zu bleiben und abzuwarten, ob Neubert wieder zurückkam. Wäre der Mann so dreist, sich seiner Anweisung zu widersetzen?
Tatsächlich kam der Wagen nach knapp dreißig Minuten zurück. Als der Fahrer ihn bemerkte, gab er Gas und fuhr mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Das war die letzte Bestätigung für Kimmerle, dass man Neubert sehr ernst nehmen musste. Er rief die Kollegen an. Dass Kimmerle Neubert persönlich gesehen und gesprochen hatte, versetzte alle in Alarmbereitschaft. Sie kamen überein, in der Aalener Straße vermehrt Streife zu fahren und die Augen offen zu halten.
„Warum hast du den Typen nicht gleich festgenommen? Hast du nicht gesagt, es gibt eine gerichtliche Anordnung, dass er sich der Frau nicht nähern darf?“, fragte Horst Deutschle.
„Ja, die gibt es. Allerdings hat er sich außerhalb der fünfzig Meterzone aufgehalten, mir waren die Hände gebunden.“
„Verdammter Mist!“
Manuela Kaufmann war völlig am Ende. Sie hatte in den letzten Tagen kein Auge zugetan. Auch die Beruhigungstabletten, die sie seit Monaten nicht mehr gebraucht hatte, waren nun wieder ihre ständigen Begleiter. Bei ihrer Arbeitsstelle hatte sie sich krankgemeldet. Sie wagte es nicht, die Wohnung zu verlassen, denn draußen wartete Walter auf sie. Wieder und wieder kontrollierte sie alle Fenster und sogar die Balkontür, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sich Walter im sechsten Stock Zugang verschaffen konnte. Trotzdem fühlte sie sich für einen sehr kurzen Moment sicher, wenn sie alles kontrolliert hatte, was leider nicht lange anhielt. Es begann wieder die alte Manie, alles wieder und wieder kontrollieren zu müssen.
Sie setzte sich in die für sie sicherste Ecke des Wohnzimmer, von wo aus sie den besten Überblick hatte. Am Abend, wenn es dunkler wurde, vermied sie es, Licht anzuschalten. Nach außen sollte der Eindruck erweckt werden, dass sie verreist sei. Ob Walter ihr das abnahm? Walter! Der Mann war von ihr besessen und würde sie nicht in Ruhe lassen. Wie war sie nur auf die dumme Idee gekommen, ihm davonlaufen zu können? Er war sicher wütend darüber, was sie ihm durch die Gerichtsverhandlung und den damit verbundenen Strafen angetan hatte. Sie ahnte, dass sie sein ganzer Zorn treffen würde, sie konnte ihm nicht entkommen. Aber noch war sie in Sicherheit, solange sie in der Wohnung blieb und sich draußen nicht blicken ließ.
Der Plan hatte einen Haken: Die Vorräte waren langsam aufgebraucht. Es gab nur noch eine Dose mit Bohnen und zwei mit Pfirsichen, sonst nichts. Sie befand sich in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite brauchte sie dringend Nahrungsmittel; dafür musste sie die Wohnung verlassen und ihr schützendes Umfeld aufgeben. Auf der anderen Seite lauerte Walter draußen auf sie und würde zuschlagen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Entweder verhungerte sie, oder sie fiel Walter in die Hände – beides bedeutete ihren Tod. Aber noch gab sie nicht auf. Sie öffnete die Dose Bohnen und aß gierig. Zwei Stunden später konnte sie nicht anders und machte sich über die Pfirsiche her. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich nicht hatte zurückhalten können. Jetzt gab es nur noch eine Dose Pfirsiche, dann war nichts mehr zu essen da. Wie lange würde die ausreichen?