Читать книгу Nimm mich - oder stirb - Irene Dorfner - Страница 8
5.
ОглавлениеJede einzelne Minute war eine Qual für Manuela. Auch in dieser Nacht fand sie keine Ruhe. Neben den Lebensmitteln gingen nun auch ihre Medikamente zur Neige, was sie als sehr viel schlimmer empfand. Sie brauchte die Beruhigungsmittel und die Kapseln gegen ihre Angstzustände, daran klammerte sie sich und ohne die konnte sie nicht überleben. Beide Medikamente waren leer, woraufhin sie einen Weinkrampf bekam. Was nun? Es blieb ihr nichts anderes übrig: Sie musste das Haus verlassen um einzukaufen und ihren Arzt aufzusuchen, damit er ihr ein Rezept ausstellte. Ob sie das schaffen würde? Noch in der Nacht konnte sie sich nicht zurückhalten und aß auch die letzte Dose, wobei ihr die Pfirsiche nicht wirklich schmeckten. Bei jedem Bissen wusste sie, dass das Unvermeidliche näher rückte: Sie musste endlich aus dem Haus!
Am nächsten Morgen um kurz vor neun Uhr nahm sie all ihren Mut zusammen und verließ die Wohnung, nachdem sie bei ihrem Arzt anrief und um das Rezept für beide Medikamente bat. Der Moment, als sie die Tür aufsperrte und jeden einzelnen Riegel zur Seite schob, fiel ihr unendlich schwer. In ihrer Jackentasche war das Pfefferspray, das sie fest umklammert hielt. Sie musste sich zwingen, sich nicht ständig umzusehen. Sie durfte es nicht zulassen, Walter zu zeigen, dass er sein Ziel erreichte und dass sie sich ängstigte. Auch, wenn sie dadurch riskierte, ihn zu reizen. Gestern hatte sie im Internet, überraschenderweise ganz legal, einen Taser für knapp fünfzig Euro bestellt. Schon wenige Minuten später bekam sie die Nachricht, dass ihre Bestellung bereits auf dem Weg sei und für heute war die Lieferung angekündigt. Sehr gut. Mit diesem Gerät würde sie sich vielleicht sicherer fühlen.
Der Einkauf war eine Tortur. Hinter jedem Regal vermutete sie Walter, weshalb sie rasend schnell Dinge in den Einkaufswagen einlud, was sonst nicht ihre Art war. Sie wusste und spürte, dass Walter hier irgendwo war, aber wo? Würde er es wagen, ihr hier etwas anzutun, wo es von Menschen nur so wimmelte? Nichts geschah. Sie konnte unbehelligt einkaufen und fuhr zu ihrem Arzt, wo das Rezept erfreulicherweise für sie bereitlag. Sie hatte keine Lust auf ein Arztgespräch, da der doch nur versuchen würde, ihr die Einnahme auszureden. Das kannte sie aus früheren Zeiten und darauf konnte sie gerne verzichten. Der Apotheker machte sie auf die Risiken aufmerksam, was sie nicht interessierte. Der Mann machte sich in ihren Augen nur wichtig. Dass sie sehr schlecht aussah und dass sich der Mann Sorgen machte, ahnte sie nicht. Ohne Kommentar nahm sie die Medikamente, die sie die nächsten Tage leichter überstehen ließen.
Zuhause angekommen, trat der freundliche Nachbar Andreas Grießer auf sie zu. In seiner Hand hielt er ein kleines Paket, das er für sie angenommen hatte. Das war der Taser, den sie sehnlichst erwartete! Der handliche Elektroschocker würde von nun an ihr ständiger Begleiter werden. Grießer war erschrocken über das Aussehen der hübschen, aber sehr scheuen Nachbarin, von der er nicht viel wusste. Seit Tagen hatte er sie nicht gesehen und sich deshalb Sorgen gemacht. Jetzt, wo sie vor ihm stand und ihm das Päckchen mit einem gemurmelten Dankeschön fast aus der Hand riss, wurden seine Sorgen noch größer. Was war passiert?
Manuela ließ den Mann einfach stehen. Vollbepackt fuhr sie mit dem Lift nach oben. Alles war prima gelaufen, sie hätte sich nicht so viele Sorgen machen müssen. Schon als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich angewöhnt, immer zwei Mal abzuschließen, was diesmal nicht der Fall war. Was war hier los? In Panik ließ sie ihre Einkäufe fallen und rannte zum Lift. Sie nahm nur das Päckchen und ihre Handtasche mit, die über ihrer Schulter hing. Sie riss das Päckchen auf und griff nach dem Taser, den sie fest umklammert hielt und der hoffentlich funktionierte. Die Verpackung ließ sie achtlos liegen. Sie musste weg hier, und zwar so schnell wie möglich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Lift endlich kam, und es dauerte noch viel länger, bis sich die Tür endlich schloss. Nun hielt sie den Taser mit beiden Händen, da sie vermutete, auf Walter zu stoßen, sobald sie im Erdgeschoss ankam. Vor ihr stand tatsächlich ein Mann, aber nicht Walter. Es war schon wieder der zweiundfünfzigjährige Andreas Grießer aus dem vierten Stock, der erschrocken einen Schritt zurückwich, als er Manuela und ihre Bewaffnung sah. Sie hätte sich erklären können, tat das aber nicht, dafür war keine Zeit. Sie rannte grußlos an ihm vorbei. An ihrem Wagen angekommen suchte sie hektisch in ihrer Jackentasche nach dem Autoschlüssel.
„Hallo, meine Schöne.“
Die Stimme erkannte sie sofort. Schon bei der ersten Silbe gefror ihr das Blut in den Adern. Sofort hielt sie ihren Taser in die Richtung, aus der die Stimme kam.
„Beruhige dich, ich tu dir doch nichts.“
Jetzt sah sie ihn. Er tauchte hinter einem der parkenden Autos auf, hinter dem er sich verkrochen hatte. Sie war ihm ins Netz gegangen. Er hatte gewusst, dass sie sofort flüchten würde. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber noch größer war ihre Angst. Was hatte Walter vor? Er kam auf sie zu und sie wich einen Schritt zurück. Mehr Platz hatte sie nicht, denn sie stand mit dem Rücken am nächsten Fahrzeug. Wohin sollte sie gehen, wenn er noch näher kam?
„Du hast gemerkt, dass ich in deiner Wohnung war? Natürlich hast du das, schließlich habe ich nur einmal abgeschlossen. Du fragst dich, woher ich den Schlüssel habe? Dein Hausmeister ist keine große Leuchte. In einem unbeobachteten Moment habe ich ihm den Ersatzschlüssel einfach abgenommen. Du kannst mir nicht entkommen, meine Schöne. Ich werde dich überall finden, das weißt du doch. Warum sagst du nichts? Freust du dich denn nicht, mich nach so langer Zeit wiederzusehen?“
„Verschwinde!“, schrie Manuela hysterisch.
„Sei doch nicht so unfreundlich. Ich verzeihe dir alles, was du getan hast, wenn du mit mir nach Hause kommst. Wir beide sind füreinander bestimmt. Nichts und niemand wird uns trennen können, das ist uns doch beiden klar.“
„Du sollst verschwinden, sonst rufe ich die Polizei!“
„Es gefällt mir nicht, wie garstig du zu mir bist. Sobald wir zuhause sind, werde ich dir das wieder abgewöhnen. Bitte komm zurück und mach keinen Ärger, sonst muss ich böse werden.“ Walter Neuberts Stimme wurde lauter und bedrohlicher.
„Ich komme nicht zurück. Geh nach Hause und lass mich in Ruhe!“
„Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich will und kann nicht ohne dich leben. Wir beide sind Seelenverwandte, so etwas gibt es nicht oft. Verstehst du denn nicht, was für ein Glück wir haben? Ich bitte dich nochmals: Komm mit mir nach Hause!“
„Niemals!“, flüsterte sie. Ihre Knie zitterten, und jetzt zitterten auch ihre Hände. Walter konnte das sehen und das wollte sie nicht, aber sie konnte nichts dagegen unternehmen.
„Was willst du jetzt tun, mein Engel? Willst du mich mit dem Spielzeug in deiner Hand daran hindern, dich zurückzuholen? Das ist doch lächerlich, davon lasse ich mich nicht abhalten, du müsstest mich eigentlich besser kennen. Komm endlich zur Vernunft, Manuela. Komm zu mir zurück und alles wird wieder gut. Was willst du denn in dem hässlichen Wohnbunker in diesem kleinen schwäbischen Kaff? Du gehörst nicht hierher, du gehörst zu mir.“ Walter kam noch einen Schritt näher.
Manuela umklammerte den Taser. Sie konnte Walters Atem spüren und sein Aftershave riechen, was die Erinnerungen noch lebendiger machte. Sie spürte den Drang, einfach wegzulaufen, aber Walter stand ihr im Weg. Was sollte sie tun?
„Manuela?“ Andreas Grießer war ihr gefolgt. An seiner Seite war der nette, alte Mann aus dem Erdgeschoss, Ibrahim Kalin, der mit Andreas gesprochen hatte und ihm zur Seite stehen wollte. Andreas hatte die Angst in ihren Augen gesehen und er befürchtete, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Andreas mochte die neue Nachbarin sehr und wollte ihr helfen. Dasselbe galt für Ibrahim Kalin, der sich in seinem ganzen Leben noch nie vor etwas gefürchtet hatte und für den Zivilcourage an erster Stelle stand. Auch wenn er nicht verstand, was hier vor sich ging, war es für ihn keine Frage, dass er Andreas Grießer ohne weitere Erklärung unterstützen wollte.
Als Walter Neubert die Fremden auf sich zukommen sah, stieß er eine letzte Warnung aus:
„Ich habe es dir schon einmal gesagt: Entweder du nimmst mich, oder du stirbst! Niemand außer mir soll dich haben!“ Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Andreas hatte den Mann gerade noch gesehen. Ibrahim sah in der Dunkelheit mit seinen achtundsiebzig Jahren sehr schlecht, er hatte nur eine Silhouette wahrnehmen können. Erschrocken sahen die Männer Manuela an, die immer noch mit dem Taser im Anschlag dastand. Ibrahim sprach mit seinem akzentuierten Schwäbisch beruhigend auf sie, dasselbe versuchte Andreas Grießer. Es verging viel Zeit, bis Manuela endlich antwortete.
„Was wollte der Mann von dir?“
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Ich habe Zeit. Wie sieht es mit dir aus, Ibrahim?“
„Mich brauchst du nicht fragen. Ich bin Rentner und habe immer Zeit.“
„Danke, aber ich möchte euch nicht langweilen.“
„Du kannst einen alten, einsamen Mann nicht langweilen. Du kommst jetzt mit. Ich mache uns einen schönen, starken Tee, der wird dir guttun.“ Ibrahim duzte die Frau einfach, das machte Andreas schließlich auch. Ibrahim und Andreas verband eine jahrelange, sehr gute Nachbarschaft, die sich in den vielen Jahren zur Freundschaft entwickelt hatte. Ibrahim war alleinstehend und Andreas half, wann immer seine Hilfe benötigt wurde.
Während Ibrahim sprach, nahm ihr Stefan den Taser aus der Hand, den sie immer noch fest umklammert hielt. Sie hatte einen Krampf, der sich nur langsam löste.
Manuela war immer noch geschockt davon, Walters Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören. Sein Atem und der Duft des vertrauten Aftershaves verursachten einen Würgereiz, dem sie nachgeben musste. Sie übergab sich auf dem Parkplatz, was weder sie, noch die beiden Männer, störte. Erschöpft lehnte sie sich an den Wagen. Dann suchte sie mit zitternden Händen nach den Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Langsam beruhigte sie sich.
„So, jetzt reicht es aber“, entschied Ibrahim und nickte Andreas zu. Beide griffen ihr unter die Arme und sie ließ sich widerstandslos mitführen. Um sich den Männern zu widersetzen hatte sie keine Kraft mehr. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, stattdessen fand sie sich in Ibrahims Wohnung wieder. Sie fühlte sich nicht wohl in der fremden Umgebung und brauchte lange, bis sie endlich bereit war, von sich zu erzählen.
Beide Männer waren fassungslos, als sie die Geschichte hörten, wobei Manuela die Teile wegließ, die ihr zu peinlich vor den beiden waren. Sie brauchten nicht alle Details zu wissen, für die sie sich schämte und ihr sehr unangenehm waren. Das, was sie bereit war zu erzählen, musste ausreichen.
Die beiden Männer hingen an Manuelas Lippen. Je mehr sie von ihrer Leidensgeschichte preisgab, desto fassungsloser waren sie. Wie war es möglich, dass ein Mann der Partnerin so etwas antun konnte?
Irgendwann kam Manuela zu dem Punkt, an dem sie die Mappe auf den Tisch legte, die sie in Kopie immer bei sich trug.
„Wenn ihr mir nicht glaubt: Hier sind die Beweise“, schloss sie ihre Ausführungen. Sie war müde, die Tabletten wirkten.
„Warum sollten wir dir nicht glauben?“ Ibrahim stand auf und langte in das prall gefüllte Bücherregal. Er zog eine Flasche hervor.
„Alkohol? Du bist Moslem, Ibrahim“, versuchte Andreas einen Witz zu machen, auch wenn er immer noch erschrocken davon war, was er eben gehört hatte.
„Das ist Medizin für Notfälle, und das ist ein Notfall.“ Er schenkte vorsichtig ein. „Trink, Mädchen. Den hat mein Neffe selbst gebrannt, reine Medizin.“
Das Gebräu brannte fürchterlich, trotzdem trank sie ein zweites Glas. Ob Alkohol in Verbingung mit den Medikamenten so eine gute Idee war? Es war ihr gleichgültig. Die Gesellschaft der Männer tat ihr gut. Ibrahim schenkte nach und je mehr sie trank, desto ruhiger und müder wurde sie tatsächlich.
Andreas hatte die Unterlagen durchgesehen. Die Fotos waren widerlich und verursachten ein flaues Gefühl im Magen, weshalb auch er einen Schnaps brauchte.
„Wahnsinn! Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Man liest ja immer nur von häuslicher Gewalt und Stalking oder sieht etwas im Fernsehen darüber. Wenn man aber selbst damit konfrontiert wird, ist das schon eine andere Hausnummer. Dir ist hoffentlich klar, dass dieser widerliche Mann diesmal einen Schritt zu weit ging? So wie ich das sehe, hat er gegen die Auflagen verstoßen. Er stand direkt vor dir, somit wurde die ihm vom Gericht auferlegte Grenze mehr als unterschritten.“
„Wie soll ich das beweisen?“
„Hallo? Ich habe den Mann gesehen. Du hast einen Zeugen.“
„Ich habe ihn nicht gesehen, aber Andreas reicht. Mehr als einen Zeugen brauchst du nicht. Gehen wir?“
„Wohin?“
„Zur Polizei. Dort kannst du Anzeige erstatten.“
„Und was mache ich danach? Walter ist in meine Wohnung eingebrochen, er hat einen Schlüssel. Ich kann nicht mehr in meine Wohnung gehen.“
„Wenn du keine Angst vor mir hast, kannst du heute Nacht gerne hierbleiben“, sagte der alte Ibrahim und lächelte verlegen.
„Und gleich morgen früh werde ich das Schloss an deiner Tür austauschen. Wir beide werden ein Auge auf dich haben. Wenn du Angst hast oder Hilfe brauchst, werden wir für dich da sein.“
„Ihr seid so lieb zu mir. Womit habe ich das verdient?“
„Das ist die schwäbische Gastfreundschaft“, sagte Ibrahim und lachte laut, wodurch sich die Stimmung etwas entspannte. Nach einem weiteren Schnaps brachen die drei auf.
Auch heute Abend hatte Stefan Kimmerle Dienst. Er erkannte Manuela Kaufmann sofort, als sie in Begleitung zweier Männer eintrat. Er erschrak, denn die Frau sah echt schlecht aus.
„Ich habe einen Zeugen, der Walter Neubert gesehen hat“, kam sie sofort zur Sache. Sie musste sich konzentrieren, um ihre Worte klar zu formulieren. Es war doch keine gute Idee mit dem Alkohol gewesen. Ihre Zunge war sehr schwer und sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Kopf ein einziger Schwamm. Sie setzte noch einmal nach und wiederholte ihr Anliegen, damit der Polizist sie auch richtig verstand.
„Mein Nachbar Andreas Grießer hat Walter Neubert gesehen, als er direkt vor mir stand. Nehmen Sie jetzt bitte meine Anzeige auf?“
„Sehr gerne, Frau Kaufmann. Da Herr Neubert gegen die Auflagen verstoßen hat, dürfen wir jetzt tätig werden.“ Stefan Kimmerle war erleichtert. Seit Frau Kaufmann hier war und er diesem Neubert begegnet war, rechnete er mit dem Schlimmsten. Vielleicht konnte mit der Anzeige Schlimmeres verhindert werden?