Читать книгу Du kannst ihm nicht vertrauen... - Irene Dorfner - Страница 10
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Оглавление„So eine Scheiße!“ Adrian warf wütend seine Tasche weit von sich, als er und sein Freund Bernd den Parkplatz des Supermarktes erreicht hatten. Hier war der Treffpunkt der beiden, zu denen noch vier weitere Freunde gehörten. „Der ganze Mist kommt jetzt wieder an die Oberfläche. Alle werden mit den Fingern auf uns zeigen! Jeder wird sich an den Vorfall mit Kathi erinnern!“
„Denkst du, das weiß ich nicht?“ Bernd war außer sich und hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Er hatte bereits mehrfach versucht, seine Mutter zu erreichen, die in solchen Fällen immer eine Lösung parat hatte, aber sie ging nicht ans Telefon. Das war so typisch! Ihre dämliche Arbeit ging immer vor, für ihn hatte sie kaum Zeit. Dass diese Gedanken so nicht stimmten, war dem Teenager nicht bewusst. „Vielleicht sollten wir einfach wieder zurück in die Schule gehen und abwarten.“
„Das kannst du vergessen! Ich gehe nicht mehr zurück! Dort ist bestimmt immer noch die Polizei, die vielleicht schon weiß, was vor einem Jahr war. Die werden uns mit Fragen löchern!“ Adrian war außer sich. „Mein Vater reißt mich in Stücke! Nach dem Vorfall mit Kathi habe ich ihm versprechen müssen, mich bis zum Abitur ruhig zu verhalten. Und jetzt? Jede Kleinigkeit mit Kathi wird an die große Glocke gehängt. Wir sind erledigt!“
„Wenn dein Vater erfährt, dass du die letzten Schulstunden geschwänzt hast, wird er darüber auch nicht erfreut sein.“
„Du hast Recht! Ich gehe jetzt nach Hause und lege mich ins Bett. Dass ich krank geworden bin, kann er mir nicht übelnehmen.“
„Das nützt dir auch nichts. Er wird von Kathis Tod erfahren.“ Bernd machte eine Pause und stellte jetzt die Frage, die ihm auf der Seele lag. „Du hast doch nichts mit ihrem Tod zu tun, oder?“
Adrian starrte seinen Freund an. Dann holte er seine Tasche und lief los.
„Hey, bleib doch hier! Du hast mir nicht geantwortet!“, rief ihm Bernd hinterher.
Adrian dachte nicht daran, noch ein Wort mit seinem vermeintlichen Freund zu wechseln. Was erlaubte der sich?
Bernd war schlecht geworden. Ja, das mit Kathi damals war echt übel gewesen, er hatte sich von Adrian dazu anstiften lassen. Aber das war lange her und er hatte sich bei dem Mädchen entschuldigt, worauf vor allem seine Mutter großen Wert gelegt hatte. Trotzdem gab es kleinere Stänkereien, die aber niemals der Grund für einen Selbstmord sein könnten. Oder doch? Warum hatte er das Mädchen nicht einfach in Ruhe gelassen! Bernd war wütend auf sich selbst und auf Adrian. Ja, sie waren beide nicht nett zu Kathi gewesen, aber mit deren Tod hatte er nichts zu tun. Was war mit Adrian? Hatte er Dinge gemacht, die sie in den Tod getrieben hatten? Würde er seinem Freund das zutrauen? War Adrian überhaupt ein Freund? Unschlüssig saß Bernd auf der schmutzigen Mauer. Was sollte er jetzt machen? Es verging sehr viel Zeit, bis er sich endlich dazu entschloss, zu seiner Mutter zu gehen.
Von all dem ahnten Leo und Hans nichts. Das Gespräch mit dem Rektor der Schule war endlos lange, aber nicht ergiebig. Belzig lobte sein Gymnasium und betonte die Vorzüge, die nach seinen Schilderungen alle auf ihn zurückzuführen waren. Leo und Hans war klar, dass er von dem ablenken wollte, weshalb die Polizisten hier waren.
„Kommen wir auf das Opfer zurück. Wir haben gehört, dass die Schülerin gemobbt wurde?“
„Nein, nein, Mobbing gibt es bei uns nicht“, wiegelte Belzig sofort ab. „Wir haben diesen Punkt in unser Lehrprogramm aufgenommen und der wird von jedem Kollegen konsequent eingehalten. Darauf achte ich persönlich!“
„Trotzdem wurde die Schülerin Katharina Oberwinkler mit Fäkalien beschmiert, das hat uns eine Lehrerin bestätigt.“
„Welche Lehrerin? Das war sicher Frau Seizinger, oder? Die kann was erleben! Wie kommt sie nur darauf, solch einen Blödsinn zu verbreiten?“
„Sie behaupten, dass es den Vorfall nicht gab?“
„Nein, so habe ich das nicht gemeint. Es gab einen kleinen Streich zweier übermotivierter Schüler, mehr aber nicht. Wir konnten den zugegebenermaßen etwas aus dem Ruder gelaufenen Spaß mit Hilfe der Eltern klären. Das ist nichts, womit sich die Polizei beschäftigen muss, das ist längst Schnee von gestern.“ Belzig war sehr nervös geworden. Warum wurde diese Sache jetzt wieder aufgewärmt, nachdem längst Gras darüber gewachsen war?
„Sie können uns glauben, dass wir Spaß verstehen“, sagte Leo, der spürte, was in Belzig vorging. „Jemanden mit Fäkalien zu beschmieren finde ich nicht lustig. Du etwa?“, wandte er sich an Hans.
„Nein, auf keinen Fall! Das ist ganz klar Mobbing.“
„Mobbing ist das nicht, es war nur ein Spaß unter Kindern. Sie sollten sich nicht länger damit beschäftigen.“
„Hören Sie endlich auf, diesen Vorfall herunterzuspielen!“ Leo war sauer. „Eine Ihrer Schülerinnen ist auf dem Schulgelände ums Leben gekommen und es ist für uns selbstverständlich, dass wir die Todesumstände klären. Und dazu gehört auch das Umfeld und alle Vorkommnisse der letzten Jahre! Die Tote war ein Mobbing-Opfer! Je eher Sie das endlich kapieren, desto leichter wird unsere Arbeit. Machen Sie die Augen auf, Herr Belzig, und sehen sie die Tatsachen so, wie sie sind. Auf Ihrem Schulgelände ist eine Ihrer Schülerinnen gestorben und Sie sollten in Ihrer Position alles daransetzen, die Polizei zu unterstützen und damit die Umstände des Todes zu klären.“
„Sie haben ja Recht, ich möchte mich in aller Form entschuldigen.“ Belzig war leichenblass geworden. „Die Schülerin Katharina Oberwinkler hatte es nicht leicht in der Klasse, das war nicht nur mir, sondern auch den Kollegen bekannt“, entschied er sich für die Wahrheit, auch wenn er wusste, dass das riesigen Ärger vor allem von Seiten Doktor Neuwirths nach sich ziehen würde. „Ja, es gab diesen unschönen Vorfall, der in meinen Augen geklärt wurde. Katharina war eine Außenseiterin, die es nicht geschafft hat, sich in die Klasse einzufügen. Alles, was über den normalen Schulunterricht hinausging, wurde von Seiten der Eltern verboten. Wenn es galt, außer der Reihe etwas anzuschaffen, musste Katharina passen. Die Eltern sahen nicht ein, extra Geld auszugeben, was ich auf deren finanzielle Lage zurückführe. Nicht alle Eltern sind vermögend, was sich vor allem in den oberen Klassen herauskristallisiert. Die Mehrheit der Eltern besteht auf mindestens einen Auslandsaufenthalt, auch Ski-Ausflüge sind heute die Norm. Dass wir heute von Seiten der Schule davon ausgehen, dass jeder Schüler einen Laptop, PC oder ein Tablet besitzt, ist für viele normal, für einige wenige aber nicht. Auch einen Drucker und viele weitere Dinge setzen wir voraus. Es gibt Eltern, die das alles finanziell nicht tragen können, was ich gut verstehen kann. Aber mir sind die Hände gebunden und muss der Mehrzahl der Elternwünsche entsprechen. Für finanzschwache Eltern gibt es spezielle Hilfsprogramme, die hervorragend und zuverlässig greifen. Katharinas Eltern haben jede finanzielle Unterstützung abgelehnt. Auf Klassenfahrten durfte sie nicht mit, Hausaufgaben musste sie hier im Computerraum erledigen. Dass die Schülerin dem Hohn und Spott einiger Mitschüler ausgesetzt war, liegt auf der Hand. Und letztes Jahr ist die Sache durch diesen unschönen Vorfall eskaliert. Ich habe wiederholt um ein Gespräch mit Katharinas Eltern gebeten, was sich sehr schwierig gestaltete. Es ist nicht üblich, dass sich Eltern bei Problemen zurückziehen und eine Einladung der Schule ausschlagen. Bei der Gelegenheit hätte ich den beiden sehr gerne nochmals die finanziellen Möglichkeiten von Seiten des Staates erläutert, aber das Ehepaar Oberwinkler blockte alle Einladungen ab. Mir ging es nicht nur um die finanzielle Seite, sondern vor allem um diesen Vorfall, dem man nachzugehen hatte. Sie müssen mir glauben, dass ich alles versucht habe. Aber das Ehepaar Oberwinkler wollte offenbar kein klärendes Gespräch und verschob einen Termin nach dem anderen. Als sie sich endlich dazu bereiterklärten, war ich leider verhindert. Die Kollegin Seizinger hat mit den Eltern gesprochen und gemeinsam wurde eine Lösung erarbeitet. Von einer finanziellen Unterstützung wollten sie aber nichts hören und haben das Thema sofort unterbunden.“ Belzig atmete tief durch. „Hören Sie, meine Herren: Wir haben den damaligen Vorfall geklärt und die beiden Schüler wurden gebührend bestraft. Die Mutter einer der Schüler hatte darauf bestanden, dass sich beide bei Katharina entschuldigen, was auch geschehen ist. Das alles liegt lange zurück und ich glaube nicht, dass der Tod des Mädchens etwas damit zu tun hat.“
Leo und Hans hatten genug gehört und wollten gehen.
„Eine Bitte habe ich“, sagte Belzig, der sich per Handschlag verabschieden wollte, worauf Leo und Hans auch aufgrund der Pandemie keinen Wert legten. „Unsere Schule hat es in der momentanen Situation sowieso schon schwer. Wir sind froh, dass die Lockerungen wegen Corona auch uns erreicht haben und wir Stück für Stück wieder zur Normalität übergehen können. Darüber hinaus haben wir als Schule einen Ruf zu verlieren. Bitte hängen Sie das, worüber wir gesprochen haben, nicht an die große Glocke. Die beiden Schüler haben für ihre dumme Tat gebüßt und wir sollten das nicht aufbauschen. Der Selbstmord der Schülerin ist sehr tragisch und ein großes Unglück, das ich aufrichtig bedauere. Wäre es möglich, dass sie so diskret wie möglich ermitteln? Negativschlagzeilen können für uns als Schule zur Katastrophe werden.“
„Wie wir unsere Arbeit machen, dürfen Sie gerne uns überlassen“, sagte Leo, als er merkte, dass sich Belzig mehr Gedanken um den Ruf seiner Schule, als um die Aufklärung des Selbstmordes machte.
Ralf Belzig war froh darüber, als die Polizisten endlich gegangen waren. Der Tod der Schülerin war eine Katastrophe. Belzig vergewisserte sich, dass er allein war und griff zum Telefon.
„Katharina Oberwinkler ist tot! Sie hat sich heute Morgen vom Schulgebäude in den Tod gestürzt!“
„Von welcher Schule?“
„Ich spreche natürlich von meiner Schule! Hast du verstanden, was ich dir eben gesagt habe?“
„Die Kathi ist tot?“
„Ja! Sie ist tot! Hast du das endlich kapiert?“
„Ich bin echt geschockt, damit habe ich nicht gerechnet.“
„Vielleicht hat sie der Vater gefunden und sie sah keinen anderen Ausweg, als den Freitod zu wählen! Ich dachte, sie wäre bei dir sicher untergebracht!“
„Das mit dem Vater kann ich mir nicht vorstellen. Der Vater war nie hier, die Kathi war in meinem Haus absolut sicher. Ich kann nicht länger mit dir sprechen, ich habe gleich einen wichtigen Termin. Ich melde mich wieder bei dir. Und kein Wort zur Polizei, hast du verstanden?“
„Natürlich nicht! Ich habe mich dumm gestellt. Vielleicht werden sie herausfinden, dass sie bei dir gewohnt hat.“
„Wenn du die Klappe hältst, wird niemand davon erfahren.“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
„Das hoffe ich!“
Belzig war fix und fertig. Wenn er geahnt hätte, was da alles auf ihn zukäme, wäre er nie auf das Angebot seines Freundes eingegangen. Er nahm die Flasche Wodka und trank direkt aus der Flasche. Dann klopfte es. Ohne, dass er etwas sagte, trat der Hausmeister Hühnberg ein.
„Sie kann ich jetzt nicht auch noch brauchen!“, schnauzte Belzig den Mann an.
„Trotzdem müssen wir uns unterhalten. Die kleine Oberwinkler hat sich das Leben genommen.“
„Denken Sie, das weiß ich nicht?“
„Mein lukrativer Nebenjob ist jetzt weggebrochen. Oberwinkler wird hier nicht mehr auftauchen.“
„Das will ich hoffen! Sie haben ihn erfolgreich vom Schulgelände ferngehalten und ich habe Sie dafür gut bezahlt. Was wollen Sie noch?“
„Ich bin der Kleinen gefolgt und weiß daher, wo sie gewohnt hat.“ Hühnberg pokerte hoch, denn er hatte keinen blassen Schimmer, wo das Mädchen gewohnt hatte.
Belzig war leichenblass geworden.
„Sie wissen, wo Kathi….?“
„Ja, das weiß ich. Wenn ich gegenüber der Polizei den Mund halten soll, kostet das extra. Für fünfhundert Euro kann ich schweigen wie ein Grab.“
„Sie sind ein ...“
„Wir wollen doch ruhig bleiben und uns wie ganz normale Geschäftspartner benehmen, Herr Belzig.“
„Wir sind keine Geschäftspartner, Hühnberg! Sie sind bei mir angestellt und ich bin Ihr Chef. Sie wissen, dass ich Sie jederzeit rausschmeißen kann?“
„Ja, das weiß ich. Trotzdem sollten Sie sich mein Angebot überlegen. Lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Die Polizei ist noch im Haus und hätte nichts gegen ein Gespräch einzuwenden.“
Belzig war stinksauer. Er nahm seinen Geldbeutel und übergab Hühnberg dreihundert Euro.
„Mehr habe ich nicht, den Rest bekommen Sie morgen.“
„Einverstanden“, grinste Hühnberg.
„Gehen Sie der Polizei aus dem Weg, verstanden?“
„Sie können sich auf mich verlassen!“
Diana Nußbaumer und Toni Graumeier saßen auf der alten Couch in dem biederen Wohnzimmer des alten Einfamilienhauses in der Mühldorfer Innstraße bei der Familie Oberwinkler. Ihnen gegenüber saß das Ehepaar, das optisch aus längst vergangenen Tagen schien. Die Frau trug ein dünnes Kopftuch, das die graudurchzogenen Haare nur wenig bedeckte. Der Rock war lang, die Strickjacke über der weißen Rüschenbluse war vermutlich selbstgestrickt. Der Mann trug einen Anzug und eine Krawatte, beides schon sehr alt. Das Haar war nach hinten gekämmt und wurde durch irgendeine klebrige Masse streng zusammengehalten. Beide musterten vor allem Diana, die in ihrem hellblauen Kostüm, den passenden, hohen Schuhen und der üppigen, modernen Handtasche hier absolut nicht hergehörte. Der farblich abgestimmte Mundschutz rundete das Bild ab. Diana war sehr hübsch und legte großen Wert darauf, dass sie immer perfekt aussah. Das hatte ihr die Oma beigebracht und war ihr in Fleisch und Blut übergangen. Dass Diana missbilligend gemustert wurde, war ihr gleichgültig. Sie kannte das bereits und es war ihr egal, was andere über sie dachten. Sie musste sich selbst gefallen und nur das zählte.
„Wir haben noch einige Fragen bezüglich Ihrer Tochter. Sehen Sie sich dazu in der Lage?“, wandte sich Diana an die Eltern, die daraufhin nickten.
„Der Arzt und Doktor Braun haben sich rührend um uns gekümmert“, flüsterte Frau Oberwinkler und sah ihren Mann an, der daraufhin nickend zustimmte, auch wenn er froh darüber gewesen war, als beide endlich gegangen waren.
„Bevor wir anfangen, möchten wir Ihnen unser tiefempfundenes Beileid ausdrücken.“
„Danke“, murmelten beide gequält. Es war offensichtlich, dass die beiden sehr unter dem Verlust litten und sich im Augenblick sehr unwohl fühlten.
„Mit wem hatte Ihre Tochter Umgang?“
„Unsere Tochter war ein gutes Kind, sie hat uns nie Probleme gemacht.“
„Das glaube ich Ihnen gerne. Mit wem war sie befreundet? In welchen Vereinen war sie Mitglied? Welchen Hobbys ging sie nach?“
„Sie ging zur Schule und half meiner Frau bei der Hausarbeit. Sie ging einkaufen und erledigte Post- und Bankgänge. Als sie volljährig wurde ist sie einfach gegangen. Wir wissen nicht, wo sie wohnte und vor allem nicht mit wem. Unser kleines Mädchen ist uns entglitten und jetzt haben wir sie für immer verloren.“
Diana musste schwer schlucken und sich sammeln, um mit der Befragung fortfahren zu können.
„Katharina war kein Mitglied eines Vereines?“
„Nein.“
„Was hat sie in ihrer Freizeit gemacht?“
„Ich weiß nicht, was Sie von uns wollen“, sagte Greta Oberwinkler, die von ihrem Mann Jürgen dafür einen strengen Blick kassierte. „Unsere Katharina war ein anständiges Kind und hat uns nur Freude bereitet. Irgendjemand hat sie gegen uns aufgebracht – diese Person müssen Sie finden!“
„Um das herauszufinden sind wir hier. Mit wem hatte Katharina Umgang? Was waren ihre Hobbies? Was mochte sie besonders gern? Welche Talente hatte sie?“
Greta Oberwinkler und ihr Mann Jürgen starrten Diana an. Sie konnten ihr nicht eine Antwort geben.
„Wir möchten verstehen, was Ihre Tochter zu dieser Tat getrieben hat und dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Das verstehen Sie doch, oder?“
„Natürlich verstehen wir das, wir können uns den Selbstmord doch auch nicht erklären. Unsere Katharina hatte keine Freunde, zumindest haben wir nichts davon mitbekommen. Sie war immer fleißig und zuverlässig, wir konnten uns immer auf sie verlassen. Wir haben noch gemeinsam ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert und dann ist sie einfach verschwunden. Sie nahm nur eine Tasche mit, mehr nicht. Wir haben sie überall gesucht, aber nicht gefunden. Unsere Hoffnung war, sie nach den Sommerferien in der Schule anzutreffen. Mein Mann hat unsere Tochter abgepasst, aber sie wollte nicht mit ihm reden. Weitere Versuche, mit ihr zu sprechen, wurden vom Hausmeister vereitelt. Wir haben irgendwann aufgegeben und wollten sie nicht weiter bedrängen, darin waren wir uns einig. Wir waren froh, dass sie zur Schule ging und hofften darauf, dass sie irgendwann zur Vernunft kommt.“
Toni stöhnte auf, denn langsam ging es ihm auf die Nerven, dass die Eltern ihre Tochter offenbar nicht kannten. Wie war das möglich?
„Was machen Sie beruflich?“, wandte sich Diana an Jürgen Oberwinkler.
„Ich bin im Außendienst tätig“, war die knappe Erklärung, die Diana aber nicht zufriedenstellte.
„Welche Branche?“
„Möbel, genauer Polsterungen von Sofas, Couchgarnituren und Liegen.“ Dass Oberwinkler diesen Job schon sehr lange nicht mehr ausübte, behielt er für sich. Was ging das die Polizei an und was hatte seine Arbeitslosigkeit mit Katharinas Tod zu tun?
„Und was arbeiten Sie?“
„Meine Frau kümmert sich um den Haushalt und um die Familie, das ist genug Arbeit.“
Diana nickte und machte sich Notizen.
„Sie haben einen Sohn?“
„Ja. Elias ist sechzehn und geht noch zur Schule. Er soll Abitur machen und studieren, zumindest wünschen wir uns das. Für unsere Tochter hatten wir uns einen ähnlichen Weg gewünscht.“
„Wo ist Ihr Sohn jetzt?“
„In seinem Zimmer. Sie werden verstehen, dass er sich zurückgezogen hat, schließlich hat er seine Schwester verloren.“
„Kann ich mit ihm sprechen?“, mischte sich jetzt Toni ein, der sehr froh wäre, wenn er dieser drückenden Atmosphäre entfliehen könnte.
„Gerne“, sagte Greta Oberwinkler, „ich zeige Ihnen das Zimmer.“ Sie bemerkte nicht die Blicke ihres Mannes, die sehr vielsagend waren. Er hätte ein Gespräch mit seinem Sohn nicht erlaubt, das war Diana sofort klar. Mit diesem Mann war nicht zu spaßen. Hier gab er sich bieder und verständnisvoll, aber das war er sicher nicht immer. Sie war davon überzeugt, dass er der Chef des Hauses war und ein strenges Regiment führte. Er hätte protestieren können, was sein gutes Recht gewesen wäre, aber er tat es nicht.
„Sehr freundlich von Ihnen, dass Sie ein Gespräch mit Ihrem Sohn erlauben. Es ist für unsere Arbeit sehr wichtig, mit allen Beteiligten zu sprechen und so viele Informationen wie möglich zu sammeln“, sagte sie deshalb zu Oberwinkler, um ihn zu besänftigen. Diana wollte nicht wissen, wie er später reagierte, wenn sie und Toni das Haus verlassen hatten. Sie manövrierte Oberwinkler geschickt in ein Gespräch. Er erzählte von Urlauben und von seiner Tochter, als sie noch ein kleines Kind war. Am Leuchten in seinen Augen konnte Diana sehen, dass er sie sehr geliebt hatte. Allerdings fiel ihr auch auf, dass sich seine Geschichten nur um das Kleinkindalter drehten, obwohl Katharina achtzehn Jahre alt geworden war.
Greta Oberwinkler klopfte nicht an die Zimmertür ihres Sohnes, sondern trat einfach ein. Elias lag auf seinem Bett und starrte vor sich hin.
„Die Polizei möchte dich sprechen.“
„Ich will aber nicht!“
„Du musst, es geht um deine Schwester! Benimm dich bitte anständig! Und leg dich tagsüber nicht aufs Bett. Du weißt doch, dass Vati das nicht mag.“ Frau Oberwinkler sprach leise, aber Toni hatte trotzdem jedes Wort verstanden. Er sah sich um und war erschrocken. Das soll das Zimmer eines Sechzehnjährigen sein? Die Möbel waren altmodisch und die geblümte Bettwäsche gehörte eher zu einer alten Frau, als zu einem Jugendlichen. An den Wänden hingen keine Poster, sondern Familienbilder. Er schüttelte den Kopf, was Mutter und Sohn nicht sahen.
„Darf ich mit Ihrem Sohn allein sprechen?“
„Sehr gerne. Wenn Sie etwas brauchen, finden Sie mich im Wohnzimmer.“ Sie sah ihren Sohn an. „Du benimmst dich, ja? Ich verlasse mich auf dich.“
Elias Oberwinkler nickte nur, auch wenn man ihm ansah, dass er keine Lust auf ein Gespräch hatte, vor allem nicht mit der Polizei.
„Mein aufrichtiges Beileid, Elias.“
„Passt schon.“
„Hast du eine Ahnung, warum sich deine Schwester umgebracht hat?“
„Nein, die habe ich nicht. Sie hatte doch alles, zumindest sehr viel mehr als ich.“
„Wie muss ich das verstehen?“
„Kathi war das Musterkind. Sie hat immer alles richtig gemacht und meine Eltern waren stolz auf sie. Egal was ich gemacht habe, ich habe nie genügt. Immer wurde ich mit Kathi verglichen. Außerdem hatte sie den Absprung geschafft, während ich dazu verdammt bin, hierbleiben zu müssen. Sie hat mich einfach im Stich gelassen.“
Toni spürte die Bitterkeit und die Trauer.
„Hatte sie Probleme?“
„Es gab einige Vorfälle in der Schule, aber die sind lange her.“
„Wovon sprechen wir?“
„Keine Ahnung, Mann! Ich war nicht dabei und Kathi hat mir nichts erzählt.“
„Hatte sie Liebeskummer?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen! Kein vernünftiger Junge hätte an ihr Interesse gehabt, das können Sie mir glauben. Sie gehörte zu den uncoolen Strebern, die niemand mag.“
Toni musste schmunzeln, denn der Junge vor ihm machte auf ihn denselben Eindruck.
„Deine Schwester und du habt keine Handys oder Laptops?“
„Nein, unsere Eltern erlauben das nicht.“
Toni spürte, dass Elias nicht ganz die Wahrheit sagte. Er musste versuchen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und zu dem Jungen durchzudringen. Sie sprachen über Musik, Fernsehsendungen und alles, was junge Leute interessieren könnte. Toni gefiel das Interesse und die Begeisterung, aber Elias wurde von seinen Eltern von allem ferngehalten.
„Du warst noch nie in Tüßling bei einem Konzert? Das kann ich nicht glauben!“ Toni wusste von den dortigen Veranstaltungen, die jedes Jahr stattfanden und bei denen berühmte Sänger auftraten.
„Nein. Meine Eltern mögen diese Art Musik nicht.“
„Aber du schon, oder?“
„Ja. Aber ich darf dort nicht hin.“
„Sie müssen es ja nicht erfahren.“
„Wie soll das gehen? Ich darf nach achtzehn Uhr nicht mehr raus, die Konzerte fangen alle sehr viel später an. In diesem Jahr finden wegen diesem dämlichen Corona keine Konzerte statt. Das finde ich gut, denn dann muss ich mich über das Verbot meiner Eltern nicht ärgern.“
„Deine Eltern sind ganz schön streng, oder?“
„Streng ist gar kein Ausdruck. Das, was mein Vater sagt, ist in unserem Haus Gesetz – und meine Mutter stimmt ihm in allem zu. Sie hat keine eigene Meinung und findet jeden Schwachsinn, den er von sich gibt, immer ganz toll. Ich darf nichts tun, was meinem Vater nicht gefällt. Die Kathi war in seinen Augen immer perfekt. Sie wurde gelobt und an ihr wurde ich gemessen. Sie hat nur ein einziges Mal aufgemuckt. Im letzten Jahr wollte sie zu einer Geburtstagsfeier und mein Vater ist fast ausgerastet.“ Elias merkte nicht, dass er noch so von seiner Schwester sprach, als wäre sie noch am Leben. „Aber Kathi hat gebettelt und gebettelt. Mein Vater ist in solchen Dingen unerbittlich und hat ihr eine Strafe auferlegt, da sie es gewagt hatte, nicht einfach klein beizugeben, wie sie es sonst immer tat. Sie durfte vier Wochen lang täglich die Böden wischen und sich auch noch um den Müll kümmern. Mein Vater hat das kontrolliert und hatte immer etwas zu meckern. Nach diesem Vorfall war Kathi nicht mehr wie vorher. Kurz darauf wurde sie achtzehn und ist einfach gegangen. Wie jeden Morgen hatte sie ihre Tasche genommen und war für immer weg. Sie hat mich im Stich gelassen, das werde ich ihr nie verzeihen.“ Er weinte jetzt.
„Hast du eine Ahnung, wo sie seitdem lebte?“
Elias schüttelte den Kopf. Ob Toni ihm glauben konnte?
„Was ist deine Vermutung? Warum hat sich Kathi umgebracht?“
„Ich habe keine Ahnung! Wir hatten kaum Kontakt.“
„Auch nicht in der Schule?“
„Wenn wir uns gesehen haben, ging sie mir aus dem Weg. Außerdem war sie nicht so oft in der Schule. Keine Ahnung, was sie gemacht hat. Sie hat vermutlich das Leben genossen, während ich hier festhänge. Aber nicht mehr lange, dann hat das hier endlich ein Ende.“
„Was meinst du damit?“
„Ich werde ausziehen und irgendwo ein neues Leben beginnen – ohne meine Eltern. Ich werde die Schule schmeißen und eine Lehre beginnen. Es gibt für Leute wie mich Hilfen vom Staat, ich habe mich erkundigt.“
„Das ist richtig. Welche Pläne hast du?“
„Ich würde sehr gerne Schreiner werden, was meinen Eltern nicht gefällt. Sie wollen einen Akademiker aus mir machen, mit dem sie dann angeben können. Und wissen Sie, warum sie das wollen? Weil sie selbst nichts aus ihrem Leben gemacht haben! Meine Mutter hat nie gearbeitet und mein Vater nimmt jeden Job an, den er kriegen kann. Hat er ihnen gesagt, dass er seit Monaten arbeitslos ist?“
„Er sprach von einem Außendienstjob.“
„Ja, das erzählt er jedem, weil er sich dafür schämt, dass er arbeitslos ist. Und das immer wieder. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das so ist: Niemand kommt lange mit meinem Vater klar, weil er ein Arschloch ist! Ja, das ist er! Ein egoistischer Klugscheißer, der meint, jeden maßregeln zu müssen. Das lassen wir uns innerhalb der Familie gefallen, weil er hart durchgreift und die Macht hat, aber draußen macht das doch keiner lange mit! Er verarscht jeden, wenn er wieder einen seiner Jobs verloren hat. Jeden Tag trägt er Anzug und Krawatte, um den Eindruck zu erwecken, als würde er arbeiten. Dieser Trottel meint, dass sich alle für dumm verkaufen lassen!“
Toni musste schlucken. Elias hatte es sehr schwer. Gerade Jungs in seinem Alter sollten das Leben genießen und unbeschwert durch Leben gehen. Aber wegen ihm war er nicht hier, sondern wegen seiner Schwester.
„Du weißt gar nichts über deine Schwester, das uns helfen könnte?“
„Halten Sie sich an Adrian Neuwirth und Bernd Schmidt. Die beiden haben die Kathi ständig geärgert.“
„Und du hast ihr nicht geholfen?“
„Was sollte ich denn gegen die beiden ausrichten? Die beiden haben jede Menge Freunde, die ihnen beistehen und alles toll finden, was sie machen. Ich konnte Kathi nicht helfen, sonst hätte es mich selbst getroffen.“
„Als Bruder wäre es deine Pflicht gewesen, ihr zu helfen.“
Nachdem die Tränen getrocknet waren, liefen sie jetzt wieder.
„Denken Sie, dass weiß ich nicht? Ich mache mir die größten Vorwürfe! Aber jetzt ist es zu spät, die Kathi ist tot und kommt nie wieder.“
Toni verstrickte Elias in ein Gespräch über Bands und ihre Musik, wodurch sich Elias wieder beruhigte. Erst, als sich Toni sicher war, dass er den Jungen allein lassen konnte, konnte er sich verabschieden.
„Ich lass Dich jetzt allein. Hier ist meine Karte. Melde dich, wenn dir noch etwas einfällt. Auch wenn du behauptest, kein Handy zu haben, glaube ich dir das nicht. Du hast eins, oder?“
„Ja, habe ich.“
„Kann ich deine Nummer haben?“
Elias gab ihm zähneknirschend die Nummer, die nur sehr wenig Leute kannten.
„Vor drei Wochen ist mir etwas aufgefallen: Nach der Schule ist die Kathi in einen grünen Kombi gestiegen. Wem das Auto gehört, weiß ich nicht. Es hatte einen blauen Aufkleber auf der Seite. Das war ein Firmenaufkleber.“
„Hast du einen Namen erkannt oder ein Logo?“
„Nein, darauf habe ich nicht geachtet. Mehr weiß ich wirklich nicht.“
Toni spürte, dass das nicht die Wahrheit war, aber er wollte den Jungen nicht weiter unter Druck setzen.
„Melde dich, wenn dir noch etwas einfällt, okay? Ich bin Tag und Nacht erreichbar.“
„Verraten Sie mich jetzt bei meinen Eltern?“
„Nein, das werde ich nicht tun! Alles, was wir besprochen haben, bleibt unter uns, darauf gebe ich dir mein Wort.“
In der Zwischenzeit quälte sich Diana durch das Gespräch mit den Eltern. Dann bekam sie einen Anruf von Leo, der ihr von dem Vorfall in der Schule erzählte.
„Es gab einen unschönen Vorfall in der Schule, bei dem Ihre Tochter das Opfer war?“ wandte sie sich nach dem Telefonat an die Eltern.
„Das war doch nichts“, wiegelte der Vater ab. „Ein dummer Streich.“
„Soweit ich meinen Kollegen verstanden habe, wurde Ihre Tochter mit Fäkalien beschmiert. Außerdem soll es weitere Vorkommnisse gegen Ihre Tochter gegeben haben, die immer von denselben Jungs ausgingen. In meinen Augen ist das kein Streich, sondern Mobbing.“
„Aber nein, das ist kein Mobbing. Das waren dumme Streiche, wie sie überall vorkommen.“
„Wenn mich jemand als siebzehnjähriges Mädchen mit Fäkalien beschmiert hätte, wäre ich ausgerastet. Wiegeln Sie das nicht einfach als Streich ab, das ist gegenüber Ihrer Tochter nicht fair.“
„Die Sache wurde geklärt. Die Eltern haben sich vorbildlich verhalten, vor allem Frau Doktor Schmidt-Niersmann. Deren Sohn hat sich bei unserer Tochter und auch bei uns entschuldigt - der Vorfall ist damit für uns vom Tisch.“
„Für Sie möglicherweise, aber vielleicht war es das nicht für Ihre Tochter.“