Читать книгу Du kannst ihm nicht vertrauen... - Irene Dorfner - Страница 7
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ОглавлениеVier Wochen später.
Katharina Oberwinkler hielt den Druck nicht mehr aus. Sie sah keine andere Möglichkeit, als auf diesem Weg dem ganzen Wahnsinn zu entfliehen. Über das, was mit ihr geschah, hatte sie längst keine Kontrolle mehr – und gegen die, die ihr Leben bestimmten, konnte sie sich nicht wehren. In den letzten Wochen hatte sie aufgrund der Corona-Krise Ruhe gefunden, aber damit war es jetzt wieder vorbei. Die Lockerungen katapultierten sie wieder in das zurück, womit sie nichts mehr zu tun haben wollte. Je mehr Zeit verstrich, desto tiefer hatte sie sich in Dinge verstrickt, die sie nie für möglich gehalten hätte. Wenn sie sich doch nur jemandem anvertrauen könnte! Aber sie hatte niemanden, sie war völlig allein mit ihrer Schuld und ihrem schlechten Gewissen. Es gab nur Simone - und die war in derselben Situation wie sie. Katharina hatte schon vor Tagen realisiert, dass sie nur zwei Möglichkeiten hatte: Entweder ergab sie sich ihrem Schicksal und machte weiter, oder sie setzte dem Ganzen endlich ein Ende. So oder so, sie musste sich entscheiden, bevor sie noch wahnsinnig wurde. Und sie hatte sich für diesen Weg entschieden, von dem es kein Zurück mehr gab. Der Schlafentzug und die Tabletten taten ihr übriges. Diese verdammten Tabletten! Sie konnte nicht mehr ohne sie leben, sie war längst abhängig. Wenn sie die doch nur nie angenommen hätte!
Jetzt stand sie auf dem Gebäude ihrer Schule. Es war noch früh, alles war ruhig und friedlich. Sie hatte den frühen Morgen immer geliebt. Es war Mitte Juni und trotz der Trockenheit der letzten Wochen war es noch sehr frisch. Aber das störte sie nicht. Sie hatte sich sehr lange mit ihrer Situation auseinandergesetzt und hatte es sich mit ihrer Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie war ein anständiges Mädchen, das immer tiefer in einen Sog gezogen wurde, aus dem sie längst nicht mehr herauskam. Wie war es nur so weit gekommen? Es gab Warnsignale, die sie nicht beachtet hatte. Für eine Umkehr war es längst zu spät. Sie war am Ende und konnte nicht mehr. Was hätte aus ihr alles werden können? Sie war nicht dumm und hatte Pläne gehabt, an die sie schon lange nicht mehr glaubte. Ob sie einen Mann gefunden hätte? Hätte sie Kinder gehabt? Wäre sie eine gute Mutter, eine bessere als ihre eigene geworden? Sie würde es nie erfahren. Das war ihr in der Zeit, in der sie hier auf dem Dach stand, klargeworden. Den Weg, den sie vor Monaten irrtümlich eingeschlagen hatte und aus dem sie keinen Ausweg mehr fand, war nicht ihr Weg. Sie hatte ihre Wahl getroffen, hier war ihr Leben zu Ende. Nur ein kleiner Schritt und sie hatte endlich Ruhe. An die Schmerzen, die der Sturz verursachen würde, dachte sie nicht, sie waren ihr egal. Konnten sie schlimmer sein als das, was sie durchgemacht hatte und was noch auf sie zukäme, wenn sie jetzt weitermachte? Wohl kaum.
Katharina ging bis an die Kante des Daches. Es war hell genug, um alles Vertraute um sie herum noch ein einziges Mal zu betrachten. Mühldorf! Hier war sie geboren und aufgewachsen. Dort hinten konnte sie das Dach ihres Elternhauses sehen, auch wenn es von hier aus sehr klein aussah. Ihre Kindheit war nicht schön gewesen, denn ihre Eltern waren streng, vor allem ihr Vater. Er führte die Familie mit harter Hand und sie mussten gehorchen. Ihre Mutter war immer auf der Seite des Vaters und billigte jede Maßnahme, von denen die meisten völlig überzogen waren. Katharina dachte mit Wehmut an ihren Bruder Elias, den sie im letzten Jahr zurückgelassen hatte und der jetzt allein das Elternhaus ertragen musste. Ihm gegenüber hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie hätte ihn niemals alleinlassen dürfen. Aber daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. Sie wischte die düsteren Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf den letzten Blick über Mühldorf und auf die Stationen ihres jungen Lebens, das in wenigen Minuten vorbei war. Da war ihr Kindergarten, neben dem ihre Großeltern lebten, die sie sehr geliebt hatte. Aber die waren längst tot. Als die beiden noch lebten, war ihre Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen. Sie hörten ihr immer zu und verteidigten sie vor ihren Eltern, wenn es wieder Ärger gab. An ihre Eltern wollte Katharina jetzt nicht schon wieder denken, denn die beiden hatten sie nie geliebt und durften nicht Teil ihrer letzten Gedanken sein. Sie wischte die düsteren Gedanken beiseite, wobei sie den rechten Arm benutzte. Dadurch kam sie ins Straucheln. Nein! Noch durfte sie nicht in die Tiefe stürzen. Sie musste sich auf das konzentrieren, was sie gerade vor Augen hatte, denn auf dieses Abschiedsszenario wollte sie auf keinen Fall verzichten. Das waren ihre letzten Momente und die wollte sie wie geplant verbringen. Das Dach des großen Supermarktes war deutlich zu erkennen. Sie konnte sogar sehen, dass ein Lastwagen gerade darauf zufuhr. Dort hatte sie in den letzten drei Jahren während der Schulferien gejobbt und jetzt wurde ihr bewusst, dass das sehr schöne Stunden gewesen waren. Sie wurde von den Kollegen respektiert und von den Kunden geschätzt, was ihr sehr gutgetan hatte. Dass Tränen über ihr Gesicht liefen, merkte sie nicht. Mit den Augen suchte sie hektisch nach weiteren Gebäuden, an die sie sich gerne erinnern würde. Es blieb nur noch ihre Schule, die sie für ihren Selbstmord ausgesucht hatte. Das war der Ort, an dem sie am liebsten gewesen war, auch wenn es nicht nur schöne Erinnerungen gab. Trotzdem fühlte sie sich hier am wohlsten und deshalb war es für sie nur logisch, dass sie von hier aus in den Tod sprang. Sie sah sich das Schulgelände nochmals genau an. Dort hinten war der Platz der coolen Leute, zu denen sie nie gehört hatte. Sie erinnerte sich an ihren Übertritt ans Gymnasium. Was war sie stolz gewesen! Ihre Eltern waren nicht an ihrer Seite, dafür aber die Großeltern. Die beiden schenkten ihr einen neuen Schulranzen, den sie heute noch besaß und der ihr heilig gewesen war. So sehr sich Katharina auch bemühte, sich nochmals an alle guten Dinge ihres Lebens zu erinnern, es gelang ihr nicht. Immer wieder nahmen die düsteren Gedanken Besitz von ihr. Sie gab auf. Sie nahm die Tabletten aus ihrer Jackentasche und steckte sie alle in den Mund. Normalerweise musste man die mit Wasser herunterschlucken, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie zerkaute sie und wartete, bis der Mund leer war. Sie hätte eine Flasche Schnaps mitnehmen sollen, aber daran hatte sie nicht gedacht. Heute früh hatte sie sich aus dem Drecksloch, das in den letzten Monaten ihr Zuhause gewesen war, hinausgeschlichen. Niemand nahm Notiz von ihr. Jetzt stand sie hier und wartete auf die Wirkung der Beruhigungstabletten, auch wenn sie die nicht gebraucht hätte. Aber sicher war sicher. Sie wollte nicht riskieren, dass sie es sich doch noch anders überlegte.
Ob es ein Leben nach dem Tod gab? In wenigen Augenblicken würde sie es erfahren. Sie wurde ruhiger, die Tabletten wirkten. Jetzt war es so weit. Sie zog die frische Luft noch ein einziges Mal tief in ihre Lungen. Sie lächelte, als sie den entscheidenden Schritt tat.