Читать книгу Adlerholz - Irene Dorfner - Страница 6
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ОглавлениеMit vorgehaltener Waffe wurde er dazu gezwungen, sich dem Ufer der Alz zu nähern. Was hatte der Mann vor?
Ihm war kotzübel, am liebsten hätte er sich übergeben. Aber er musste bei klarem Verstand bleiben und auf jede Kleinigkeit achten. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, irgendwie aus dieser verfluchten Situation rauszukommen. Denk nach! Und vor allem: Bleib verdammt nochmal ruhig!
„Wollen Sie Geld? Ich bezahle Ihnen jede Summe, die Sie verlangen! Ich bin reich,“ sagte er so ruhig wie möglich, obwohl das gelogen war. Er verfügte weder über Bargeld, noch über irgendwelche Wertgegenstände – im Gegenteil. Durch den Kauf einer Wohnung hatte er sich finanziell bis an seine Belastungsgrenze verschuldet. Aber das war im Moment zweitrangig. Jetzt musste er irgendwie aus dieser Situation rauskommen. Wenn ihm das mit Hilfe einer Lüge gelingen sollte, war das völlig egal.
Bisher hatte der Fremde kein Wort gesagt. Er hatte durch seine Körpersprache und Zeichen unmissverständlich klargemacht, was er von ihm verlangte.
Wie war es nur so weit gekommen? Der Tag war wie jeder andere verlaufen, nichts hatte auf das hier hingedeutet. War er unvorsichtig geworden? Hätte er besser aufpassen sollen? Es lief doch alles perfekt. Direkt vor seinem Zuhause in Kastl hatte der Mann ihn abgefangen und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, sich in den Wagen zu setzen. Natürlich war er den Anweisungen gefolgt, was hätte er auch sonst tun sollen? Die Umgebung war trotz der späten Stunde noch voller Menschen, die es sich in ihren Gärten gemütlich machten oder auf der Straße ein Schwätzchen hielten. Auch Hundebesitzer trieb es jetzt nach draußen, da die Temperaturen nun erträglich waren. Sogar auf dem nahen Spielplatz hatten sich einige Jugendliche eingefunden, die lachten und sich unterhielten. Nein, hier konnte er nichts riskieren, das war für Unbeteiligte viel zu gefährlich, Widerstand zu leisten. Diese Tatsache und auch die kalten Augen des Mannes, die ihm sofort Angst eingeflößt hatten, machten ihm klar, dass er sich fügen musste. Mit dem Typen war nicht zu spaßen. Im Wagen hatte der Mann ihm die Hände am Rücken mit Kabelbinder zusammengebunden. Natürlich hatte er sofort versucht, sich von den Fesseln zu befreien, aber es gelang ihm nicht – die Kabelbinder waren bis zur Schmerzgrenze fest zugezogen und ließen ihm keinen Spielraum. Die Fahrt begann und er versuchte, irgendwie aus dem Wagen zu kommen, aber der war verschlossen – er war gefangen. Jetzt versuchte er ununterbrochen, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, aber der reagierte nicht, blickte nur stur geradeaus.
Wo wollte der Mann hin? Sie fuhren nach Burgkirchen, am Werk Gendorf vorbei und bogen nun am Kreisverkehr nach rechts.
„Was wollen Sie von mir? Machen Sie endlich den Mund auf!“, schrie er nun panisch, worauf der Mann unvermittelt ausholte und ihm direkt ins Gesicht schlug. Der Schlag kam so plötzlich und mit solch einer Wucht, dass er zur Seite schleuderte und kurze Zeit benommen war. Das darf nicht passieren, reiß dich zusammen! Du musst jetzt bei klarem Verstand bleiben!
Der Wagen stoppte schließlich und sie warteten, sie warteten endlos lange. Der Mann sagte immer noch kein Wort, ging ab und zu aus dem Wagen, um eine Zigarette zu rauchen. Aber was tat er denn da? Bückte er sich tatsächlich, um die Zigarettenstummel aufzuheben? Das taten nur Profis! Oh mein Gott! Er schwitzte aus allen Poren und der Schweiß brannte in seinen Augen. Durch den Schlag blutete er am Auge, das nun rasend schnell auch noch zuschwolI, bis er auf dem Auge fast nichts mehr sah. Im Wagen herrschten inzwischen tropische Temperaturen. Dazu kam diese unermessliche Angst, denn er ahnte, was ihm bevorstand.
Der Mann ging einige Meter und beobachtete den Himmel, bevor er das Handy zur Hand nahm und nur wenige Worte sprach. Er kam zum Wagen zurück, öffnete die hintere Tür und zerrte ihn unsanft aus dem Wagen, wobei er ihm abermals seine Waffe direkt vors Gesicht hielt.
„Was wollen Sie von mir, verdammt nochmal? Was soll das alles? Wollen Sie Geld? Wertsachen? Nehmen Sie meine Brieftasche und meine Uhr!“, schrie er ihn verzweifelt an. „Hören Sie, wir sind doch erwachsene Menschen, wir können doch miteinander reden und finden bestimmt eine Lösung.“ Er redete einfach darauf los und wiederholte einige Sätze. Er musste dringend Zeit gewinnen, vielleicht spielte ihm das Schicksal doch noch in die Hände.
„Chiudi il becco!“, schrie ihn der Mann an und trieb ihn immer weiter vor sich her.
Er verstand ihn nicht.
„Was willst du von mir?“, jammerte er.
„Chiudi il becco!“, rief der erneut und es klang sehr bestimmt. „Dai!“, fügte er unmissverständlich hinzu und zeigte mit seiner Waffe in die Richtung, in die er gehen sollte. Das war eindeutig italienisch – oder irrte er sich? Konzentrier dich!
Er atmete tief durch und blickte verzweifelt um sich. Es war stockdunkel, es musste weit nach Mitternacht sein. Egal, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Am heutigen Augusttag war es schon den ganzen Tag über schwül und unglaublich heiß gewesen. In den letzten Stunden hatte sich ein Gewitter zusammengebraut, das sich nun demnächst zu entladen drohte. Weit entfernt konnte man bereits einige Blitze erahnen und er glaubte auch, Donner zu hören. Eins – zwei – drei -… zählte er automatisch mit, wie er es von seiner Großmutter gelernt hatte. So konnte man die Entfernung in Kilometern errechnen, wie weit das Gewitter noch entfernt war. An was für einen Schwachsinn denke ich denn jetzt? Wen interessiert das? Bleib ruhig und versuche, nicht durchzudrehen! Wieder hatte er das Bild seiner Großmutter vor Augen, wie sie in ihrer bunten Schürze am Herd stand, im Topf rührte und ihn anlächelte. Er konnte sein Lieblingsessen sogar riechen! War er jetzt völlig verrückt geworden? Reiß dich gefälligst zusammen!
Hier standen sie nun im Dickicht des Alzufers, das nur wenige Meter von ihm entfernt war. Er war sich sicher, dass das hier die Alz war, denn das Werk Gendorf war unverkennbar noch in Sichtweite. Er zwang sich, ruhig zu atmen, was ihm immer schwerer fiel. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo sind denn die Hundebesitzer und Nachtschwärmer, wenn man sie brauchte? Hier um Hilfe zu rufen war aussichtslos, trotzdem musste er es versuchen. Er schrie so laut er konnte und versuchte schließlich, vor diesem Irren wegzulaufen. Dabei war ihm jetzt vollkommen egal, wenn er schießen würde, denn er würde sowieso irgendwann schießen, das war ihm vollkommen klar. Er rannte um sein Leben, stolperte und der Mann zog ihn problemlos wieder auf die Füße. Sieh ihm in die Augen und lächle. Hatte er das nicht irgendwann mal gelernt? Egal, er versuchte es, aber der Mann sah ihn nicht einmal an, schubste ihn und deutete mit der Waffe, dass er weitergehen soll.
Dann hörte er nur noch zwei aufeinanderfolgende Schüsse und spürte einen heftigen, stechenden Schmerz.