Читать книгу Adlerholz - Irene Dorfner - Страница 8
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ОглавлениеAuf dem Weg zum Fundort der Leiche bei Burgkirchen dachte Werner Grössert über das seltsame Gespräch mit seiner Mutter nach. Sie hatte doch tatsächlich die Frechheit besessen und ihn gebeten, Bekannte mit Schmiergeld zu bestechen, um diese Steuerprüfung abzuwenden. So unverschämt dieser Vorschlag auch war, so verzweifelt musste seine Mutter sein, wenn sie solche Geschütze auffuhr. Und was war mit diesen Briefen? Warum hatte sie sie erwähnt und dann wieder darauf bestanden, dass sie nicht wichtig seien? Da steckte mehr dahinter, denn sie hatte immer ein leichtes Zucken in den Augen, wenn sie flunkerte, und dieses Zucken konnte er deutlich sehen. Und dann diese Steuerprüfung. Warum war sie so nervös deswegen? Er war sich sicher, dass in der Kanzlei alles zum Besten bestellt war, obwohl er seinen Eltern durchaus zutraute, dass sie es besonders in finanzieller Sicht mit dem Gesetz nicht ganz so genau nahmen. Lag darin der Grund für ihre Besorgnis? Egal, er musste auf jeden Fall nachforschen, denn so unsympathisch seine Eltern auch waren, es waren nun mal seine Eltern und er fühlte sich verpflichtet, ihnen zu helfen. Zumindest in diesem Punkt stimmte er mit seiner Mutter überein: Sie waren eine Familie und mussten zusammenhalten, obwohl seine Eltern sich bisher in diesem Punkt zurückhielten. Seit seiner Entscheidung, zur Polizei zu gehen, hatten sie ihn gemieden und hielten sich diesbezüglich mit ihrer Enttäuschung nicht zurück. Ganz schlimm war es seit seiner Heirat, denn mit der Wahl seiner Frau, die aus einfachen Verhältnissen stammte, und äußerlich nicht deren Vorstellung entsprech, waren sie bis heute nicht einverstanden. Werner ärgerte sich jetzt über seine Eltern und dachte einen Moment darüber nach, sie jetzt auch im Stich zu lassen – aber dann wäre er auch nicht besser als sie! Nein, er musste helfen und ihnen zur Seite stehen.
Werner Grössert bog von der Straße ab und fuhr direkt zur Kleingartenanlage Burgkirchen. Dort war der Treffpunkt mit den Kollegen der Mordkommission Mühldorf. Schon die ganze Fahrt über hatte er den roten Kleinwagen bemerkt, der immer im gleichen Abstand hinter ihm fuhr. Tatsächlich bog der Wagen ebenfalls ab und fuhr in die gleiche Richtung, wie er selbst. Zufall?
Da vorn stand sein Kollege Leo Schwartz, der ihn nun auch bemerkte und winkend auf ihn zuging. Werner parkte seinen Wagen auf dem geschotterten Parkplatz. Was war mit diesem roten Kleinwagen? War er immer noch hinter ihm? War er jetzt schon so paranoid, dass er überall Verbrechen sah? Er stieg aus und blickte sich noch einmal um und sah in die Richtung, wo er den roten Kleinwagen zuletzt gesehen hatte – er war nicht mehr da. Na also, nur Hirngespinste!
„Eine Leiche in der Alz, der Mann mit dem Hund dort hinten hat ihn gefunden. Ich flehe dich an, übernimm du den Mann. Der spricht so einen wilden bayrischen Dialekt - ich verstehe kein Wort.“ Leo sah Werner verzweifelt an. Der neunundvierzigjährige Schwabe war vor knapp einem Jahr von Ulm nach Mühldorf am Inn versetzt worden, nachdem es dort einen unschönen Vorfall gegeben hatte, über den er bisher noch nicht gesprochen hatte. Werner Grössert war von Natur aus nicht neugierig und interessierte sich auch nicht dafür. Er hatte sich an den neuen Kollegen schnell gewöhnt und mochte ihn sehr – bis auf sein unmögliches Outfit. Auch heute war Leo Schwartz wieder seltsam gekleidet: Jeans, alte Lederstiefel und ein dunkles T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die Werner nicht kannte.
„Du bist allein hier? Wo sind die anderen?“
„Unterwegs, sie dürften jeden Moment eintreffen.“
Werner ging zu dem Mann mit Hut, der nervös wartete. An seiner Seite saß ein Rauhaardackel, der immer aufsprang und an der Leine zog.
„Wia lang dauert denn des no? Mei Wasti muss doch Gassi, der hot sei Gschäftl no net gmacht.“
Werner verstand nun das Problem von Leo Schwartz, denn zu dem Dialekt nuschelte der Mann auch noch fürchterlich.
„Sie haben die Leiche gefunden?“
Er nickte.
„I hob glei gsegn, dass den dabreselt hot. Der war meisaltout.“
„Haben Sie die Leiche angefasst oder sonst irgendetwas berührt?“
„Na! I glang nix o. Ko i jetz geh?“
„Ich brauche nur noch Ihre Personalien.“
„Hinterberger,“ sagte er knapp und zog seinen Personalausweis hervor. Werner Grössert notierte sich die Daten.
„Dann können Sie jetzt gehen, vielen Dank Herr Hinterberger. Wenn wir noch Fragen haben, kommen wir auf Sie zurück.“
„Kimm Wasti, jetz derf ma Gassi geh. Pfüa God,“ grüßte er freundlich, wobei er leicht den Hut hob.
Nun traf auch der Kollege Hans Hiebler ein. Der 52-Jährige kam aufgrund der Temperaturen in hellen Jeans, Slippern und einem kurzärmeligen, weißen Hemd, das seine Bräune noch unterstrich. Dazu trug er eine moderne Sonnenbrille zum neuen Haarschnitt, der ihn um Jahre jünger aussehen ließ. Er sah einfach blendend aus und hatte immer gute Laune. Hans war vor allem bei Frauen sehr beliebt.
„Grüß euch, Kollegen. Wo ist die Leiche?“
„Unterstehen Sie sich, dort hinzugehen, bevor ich persönlich den Ort freigegeben habe,“ hörten sie hinter sich die Stimme von Friedrich Fuchs, dem Leiter der Spurensicherung. Der kleine, hagere fünfunddreißigjährige Mann ging mit rotem Kopf und energischen Schritten an den Kriminalbeamten vorbei und direkt auf die Leiche zu. Seine Kollegen konnten kaum folgen.
„Los, Tempo, Tempo,“ trieb Friedrich Fuchs seine Leute an. „Sofort absperren, bevor uns diese Stümper alles kaputt machen. Wir können von Glück reden, dass das gestern nur ein trockenes Gewitter war.“
Grössert, Hiebler und Schwartz standen wenige Meter abseits und mussten warten, bis Fuchs sie mit Informationen versorgte, was eine Ewigkeit zu dauern schien. Fuchs mochte niemand besonders gern, denn er war pedantisch, launisch und nicht wirklich freundlich – aber er machte hervorragende Arbeit.
„Hatte unser Chef nicht von einem neuen Vorgesetzten gesprochen? Wann kommt der? Wenn ich ehrlich bin, brauchen wir nicht zwingend eine Vertretung, wir kommen auch so gut zurecht.“
Ihre Vorgesetzte und Leos Lebensgefährtin Viktoria Untermaier war vor einigen Wochen schwer verletzt worden und musste gegen ihren Willen nun doch zur Reha, denn der Heilungsprozess verlief nicht so, wie es sich die Ärzte und vor allem Viktoria selbst erhofft hatten. Sie hatte starke Schmerzen und die Wunde heilte nur sehr langsam. Auch ihre Psyche hatte durch dieses Ereignis sehr gelitten; sie schlief schlecht, hatte Alpträume und wachte nachts mehrmals schweißgebadet auf. Leo, die Ärzte und auch die Kollegen hatten sie geradezu angefleht, diese Reha zu machen, bis sie schließlich klein bei gab. Sie war nach ihrem Krankenstand nun schon zwei Wochen auf Kur und ihr Posten musste dringend besetzt werden. Rudolf Krohmer, der Chef der Mühldorfer Polizei, drückte sich um diese Angelegenheit und hoffte, diese so lange hinausschieben zu können, bis Viktoria Untermaier wieder fit war und arbeiten konnte. Aber das Innenministerium lag ihm im Nacken, denn den Posten für so lange Zeit unbesetzt zu lassen, war ungewöhnlich und konnte nicht geduldet werden. Krohmer war nicht zu beneiden, denn er konnte diesen Posten nicht mit den eigenen Leuten besetzen. Leo Schwartz war für diesen Posten zu neu im Team, außerdem hing ihm immer noch die Sache in Ulm nach, weswegen er vor einem Jahr hierher nach Mühldorf am Inn versetzt wurde. Schade eigentlich, denn er hatte die richtigen Voraussetzungen. Werner Grössert war zu jung, obwohl er sich bestimmt sehr gefreut hätte, wenn man ihm diesen verantwortungsvollen Posten zumindest zeitweilig übertragen hätte. Hans Hiebler hatte sofort abgelehnt, als er ihn gefragt hatte, denn er befand sich dafür als ungeeignet und hatte keinerlei Ambitionen, dort jemals hinzugelangen - er war zufrieden mit seinem Job und seinem Rang und wollte daran nichts ändern. Dem Chef der Mühldorfer Polizei blieb somit nichts anderes übrig, als ein Gesuch nach München zu richten, was er auf Drängen auch getan hatte. Es hatte sich tatsächlich eine geeignete Person gefunden, wovon die Mühldorfer Kriminalbeamten noch nichts ahnten. Krohmer würde sie erst später davon unterrichten.
„Mensch, Fuchs, jetzt machen Sie es doch nicht so spannend! Was können Sie uns sagen?“ Hans Hiebler war ungeduldig, denn er wartete nicht gerne, vor allem nicht in dieser brütenden Hitze.
„Sie werden sich schon gedulden müssen, bis ich Ihnen Auskunft geben kann,“ antwortete Fuchs, ohne auch nur einen Moment aufzublicken. Er genoss diesen Moment der Macht und wollte jede Sekunde auskosten. Er fand, dass seine Arbeit und vor allem seine Person von den Kollegen nicht genug gewürdigt wurde und fühlte sich momentan sehr wichtig.
Plötzlich stieg eine ältere Frau in derben Wanderschuhen, Jeans und einer bunten Bluse über die Absperrung und ging direkt auf Friedrich Fuchs zu, noch bevor die Polizisten eingreifen und sie zurückhalten konnten. Natürlich hatten sie die Frau gesehen, nahmen aber an, dass sie eine Spaziergängerin war.
„Was fällt Ihnen ein?“, schrie Friedrich Fuchs aufgebracht, sprang auf und rannte auf die Frau zu. „Machen Sie sofort, dass Sie wegkommen. Sind Sie blind? Sehen Sie nicht, dass das ein abgesperrter Tatort ist?“
Ohne ein Wort zu sagen, zeigte die kleine, schlanke 58-jährige Frau mit den feuerroten Locken ihren Ausweis.
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe, aber die Sonnenbrille.... Mein Name ist Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung Mühldorf. Natürlich kenne ich Sie Frau Westenhuber, es ist mir eine Ehre.“
Friedrich Fuchs war sehr kleinlaut geworden, flüsterte nun fast. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und verbeugte sich leicht.
„Was haben wir?“, fragte die Frau knapp mit Blick auf die Leiche.
Die Polizisten Grössert, Hiebler und Schwartz hatten die Szene beobachtet und waren nun ebenfalls über die Absperrung getreten. Wer war die Frau? Und warum verhielt sich Fuchs so unterwürfig und gab bereitwillig Auskunft?
„Männliche Leiche, ca. 35-40 Jahre alt, südländischer Typ, er hat keinerlei Papiere, Handy oder Ähnliches bei sich. Im Rücken hat er zwei Einschüsse, außerdem waren die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder fixiert. Die Verletzung im Gesicht wurde ihm beigefügt, als er noch lebte.“
„Und dafür haben Sie so lange gebraucht? Na ja,“ sagte Frau Westenhuber mit tiefer Stimme.
„Das ist natürlich auch nur ein grober Erstbericht.“
„Natürlich.“
Sie ließ Fuchs stehen und gab den Polizisten einen Wink, ihr zu folgen.
„Ich möchte mich bei Ihnen vorstellen: Waltraud Westenhuber mein Name. Ich bin für die Zeit der Abwesenheit von Frau Untermaier deren Vertretung und hoffe auf eine gute, faire Zusammenarbeit. Ich bin kein Freund von Herumgequatsche, sondern liebe es, wenn Dinge beim Namen genannt werden. Für mich zählen hauptsächlich Fakten, wobei ich für jede Anregung oder auch für jede Phantasie durchaus zugänglich bin. Sie müssen Leo Schwartz sein,“ wandte sie sich an Leo. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört und bin beeindruckt. Allerdings können Sie sich solche Alleingänge wie bei Ihrem letzten Fall in Ulm bei mir abschminken. Wenn Sie vorhaben, auf eigene Faust fremde Personen in den Fall zu involvieren, bekommen Sie mächtig Ärger. Hier passiert nichts ohne mein Wissen und ohne meine Zustimmung, haben wir uns verstanden?“ Leo nickte nur und verstand sofort, worauf sie anspielte. Die Frau kannte seine Akte. Und sie hatte offensichtlich von seiner Freundin und Ulmer Pathologin Christine Künstle gehört, die ihm hier in Mühldorf in dem einen oder anderen Fall unbürokratisch schon mal zur Hand ging und unterstützt hatte. Christine war auch bei den Mühldorfer Kollegen sehr beliebt und bislang griff er gerne auf sie zurück, vor allem, wenn sie medizinische oder pathologische Hilfe benötigten.
„Sie sind Werner Grössert“, fuhr Frau Westenhuber fort, während sie Grössert von oben bis unten musterte. „Laufen Sie immer so geschniegelt wie aus dem Ei gepellt herum? Na ja, schließlich kommen Sie aus einer der angesehensten Familien Mühldorfs, die es bestimmt nicht gerne gesehen hat, dass ihr Erbprinz zur Polizei ging,“ Grössert nickte nun ebenfalls. „Laufen Sie herum wie Sie wollen, mir soll es recht sein. Ich bevorzuge bequeme, zweckmäßige Kleidung, gerne auch vom Flohmarkt. Ich verbitte mir jeglichen Kommentar dazu. Und Sie, schöner Mann, sind also Hans Hiebler.“ Sie musterte ihn nun ebenfalls von oben bis unten, was Hiebler sehr unangenehm war. „Von Ihren Weibergeschichten habe ich gehört. Halten Sie sich bitte während meiner Anwesenheit zurück – vor allem bei den Frauen, die uns im Laufe des Falles über den Weg laufen sollten. Ich möchte keine Gewissenskonflikte oder Störungen diesbezüglich. Wenn der Fall abgeschlossen ist, können Sie natürlich machen, was Sie wollen.“
„Zu gütig,“ entfuhr es Hiebler.
Den Polizisten hatte es die Sprache verschlagen, offenbar kannte diese Frau Westenhuber die Personalakten nicht nur auswendig, sondern hatte Informationen weit darüber hinaus.
„Und eins sollten wir sofort klarstellen: Meine Kollegen zeigen Rückgrat und lassen sich nicht einfach so von einem Mann wie diesem Fuchs hinhalten, verstanden?“ Sie sah auf ihre Uhr. „Wir treffen uns um 14.00 Uhr im Büro in Mühldorf. Jetzt ist es gleich 12.00 Uhr und ich würde gerne noch eine Runde joggen gehen. Die Fahrt hierher hat mich etwas geschlaucht und meine Glieder sind noch ganz steif. Bis später.“
Sie lachte, als sie in die verblüfften Gesichter der Kollegen blickte und dann zu ihrem Fahrzeug ging. Sie liebte solche Auftritte.
„Was war das denn?“ Leo sah der Frau hinterher.
„Das ist Ihre neue Vorgesetzte und Sie können sich glücklich schätzen, dass sich eine solche Kapazität bereiterklärt, in Mühldorf aushilfsweise zu arbeiten,“ sagte Friedrich Fuchs mit einem bewundernden Blick.
„Was wissen Sie von ihr?“
„Ich habe mehrere ihrer Vorträge besucht. Sie hat zwei Doktortitel und hasst es, wenn man diese verwendet. Außerdem hat sie viele Fortbildungen in Amerika absolviert und ist dort mit den einflussreichsten Männern auf Du und Du. So eine bescheidene, energische Frau. Und sie hat einen messerscharfen Verstand und kann sehr gut kombinieren. Was um alles in der Welt führt so eine Frau zu uns nach Mühldorf? Eins ist sicher: Frau Westenhuber ist für diesen Posten vollkommen überqualifiziert.“
„Was erzählen Sie denn da für eine gequirlte Scheiße, Fuchs? Wir sind hier doch nicht die tiefste Provinz. Auch hier haben die Menschen ein Recht darauf, personell vernünftig versorgt zu werden,“ schnaubte Hans, der wegen der Bemerkung von dieser Frau stinksauer war, in seinen Wagen stieg und davonbrauste. Was bildete sich diese Pute eigentlich ein? Er war unverheiratet und konnte sich schließlich mit so vielen Frauen treffen, wie er wollte. Das war seine Privatangelegenheit und ging sie überhaupt nichts an. Außerdem war es eine Grundregel von ihm, dass er sich mit Frauen, die er während eines Falles kennenlernte, niemals während des Falles verabreden würde. Hielt ihn diese Frau Westenhuber für einen Stümper oder einen Anfänger? Er war nicht nur wütend, sondern auch gekränkt.
Auch Werner war sauer auf die neue Vorgesetzte. Er brauchte sich für seine Familie nicht zu schämen. Außerdem konnte er sich anziehen, wie er wollte. Er machte niemandem diesbezüglich Vorschriften und verlangte das Gleiche auch von anderen. Als er losfuhr, hatte er den roten Kleinwagen von vorhin völlig vergessen. Er war in Gedanken und ärgerte sich, bis er entschied, seine Frau anzurufen und sich nach ihrem Befinden zu erkunden. Ihr ging es gut, sie hatte blendende Laune und hatte sogar das, was sie aß, bei sich behalten können. Eine gute Nachricht in ihrem Zustand, der ihn sehr glücklich machte. Kurz vor Mühldorf hatte er sich wieder beruhigt und bemerkte den roten Kleinwagen nicht, der ihm von Burgkirchen bis hierher in größerem Abstand gefolgt war.
Nur Leo Schwartz war amüsiert über Waltraud Westenhuber, denn sie war genau nach seinem Geschmack: Gerade heraus und nicht zickig. Sie sorgte sofort für klare Verhältnisse und war nicht auf den Mund gefallen. Ihm war es egal, wie viel Doktortitel und Fortbildungen sie hatte. Er freute sich auf die Zusammenarbeit und hoffte darauf, einiges von ihr zu lernen. Und was Christine Künstle anging: Das war doch nur eine Frage der jeweiligen Situation und natürlich der Absprache.
Voller Anspannung und mit gemischten Gefühlen saßen Hiebler, Grössert, Schwartz und Fuchs im Besprechungszimmer der Mühldorfer Polizei, denn sie wussten nicht, was die neue Vorgesetzte noch alles auf den Tisch brachte. Punkt 14.00 Uhr kam Rudolf Krohmer in Begleitung der neuen Kollegin dazu. Frau Westenhubers Haare waren klatschnass und sie trug ein Polizei-Shirt und eine Jogginghose. Es war offensichtlich, dass sie eben aus der Dusche kam.
„Das ist die Kollegin Westenhuber, die sich bereiterklärt hat, für Frau Untermaier während deren Abwesenheit einzuspringen.“
„Spar dir das Rudi, ich habe die Kollegen bereits kennengelernt.“
Die beiden kannten sich also und waren per Du – interessant.
„Dann ist das geklärt und wir können uns dem aktuellen Mordfall widmen,“ sagte Rudolf Krohmer mit einem amüsierten Blick auf die verblüfften Gesichter der Kollegen. Später würde er sie genauer informieren. Er wurde von dem Einsatz der Münchner Kollegin selbst überrascht und war nicht gerade begeistert über ihre Anwesenheit. Die Tür ging auf und die Sekretärin Hilde Gutbrod kam mit frischen Kaffee herein.
„Frau Gutbrod,“ rief Krohmer, „wie schön. Dann kann ich Ihnen auch gleich die Kollegin Westenhuber vorstellen. Sie wird unsere Frau Untermaier bis zu deren Genesung vertreten.“
Die beiden Frauen standen sich direkt gegenüber und musterten sich.
„Wie schön, endlich mal jemand in meinem Alter,“ sagte Frau Westenhuber amüsiert.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, denn ich bin doch bestimmt viele Jahre jünger als Sie,“ antwortete Frau Gutbrod, die heute wieder überaus jugendlich gekleidet war: kurzes, rosafarbenes Kleid, dazu hohe weiße Schuhe mit waffenscheinpflichtigen Absätzen, das blonde Haar war frisch gefärbt und mit vielen bunten Spangen kunstvoll aufgesteckt. Frau Gutbrod ärgerte sich über die abfällige Bemerkung der Frau, denn erst vor einer Woche hatte sie sich das Gesicht und die Lippen frisch aufspritzen lassen und sah jetzt trotz ihrer 61 Jahre wieder aus wie Mitte 40, was ihr die Angestellten des Beauty-Salons wiederholt bestätigt hatten. Was fiel dieser Fremden eigentlich ein?
„Sie irren sich, Frau Gutbrod. Aus ihrer Akte kenne ich Ihr Alter und weiß daher, dass ich von uns die jüngere bin. Ich bin noch nicht über 60 und stehe nicht kurz vor der Rente, leider. Nichts desto trotz sehen Sie für Ihr Alter immer noch blendend aus. Ich hoffe auf eine angenehme Zusammenarbeit. Allerdings ist mir Ihre Neugier bekannt und ich möchte Sie bitten, sich während meiner Anwesenheit zurückzuhalten. Sie haben mich verstanden?“
Frau Gutbrod starrte Frau Westenhuber mit offenem Mund an. Ohne ein weiteres Wort ging sie verärgert und verstört aus dem Zimmer. Niemand außer dem Chef kannte ihr wahres Alter – dachte sie zumindest. Außerdem war sie keineswegs neugierig! Interessiert ja, aber auf keinen Fall neugierig. Was fiel dieser unmöglichen Person ein, sie vor den Kollegen dermaßen bloßzustellen? Und was ging dieser ungepflegten Frau eigentlich ihr Alter an? So etwas Unverschämtes war ihr schon lange nicht mehr untergekommen. Aber gut, wenn diese Frau Krieg will, kann sie ihn haben!
„Traudl, ich bitte dich, reiß dich doch zusammen. Du kannst es dir doch nicht gleich am ersten Tag mit meiner Sekretärin verscherzen! – Aber zurück zu unserem Fall. Herr Fuchs, ich weiß, dass es fast unmöglich ist, in der kurzen Zeit etwas zu sagen. Haben Sie trotzdem schon etwas für uns?“
Friedrich Fuchs räusperte sich. Er war krebsrot im Gesicht. Erst vor wenigen Minuten kam er vom Fundort der Leiche zurück und hatte einen satten Sonnenbrand abbekommen. Auch aufgrund der Tatsache, dass Frau Westenhuber, die er sehr bewunderte, nun ein Mitglied des Teams war, hatte er sich besonders ins Zeug gelegt und sehr beeilt. Dabei hatte er seine Leute aufs Äußerste angetrieben, was bei denen verständlicherweise nicht sehr gut ankam. Dass er exakt arbeitete, war selbstverständlich.
„Es ist tatsächlich nicht viel. Die Leiche wurde in die Pathologie nach München gebracht. Ich bat darum, dass diese vorgezogen wird. Ich kenne dort den Fachbereichsleiter, er hat mit mir studiert.“ Fuchs strahlte übers ganze Gesicht.
„Was schätzen Sie: Wie lange lag die Leiche im Wasser?“
„Ich kann mir vorstellen, worauf Sie hinaus wollen, Frau Westenhuber: Ist der Fundort auch der Tatort, oder wurde die Leiche an anderer Stelle ins Wasser geworfen und trieb in der Alz, und wenn, dann wie lange…“
„Ich sehe, wir verstehen uns Herr Fuchs, sehr schön. Also, was meinen Sie?“
„Ich möchte den Kollegen in der Pathologie nur ungerne vorgreifen…“
„Raus mit der Sprache. Ich möchte Ihre persönliche Meinung hören, das war doch bestimmt nicht Ihre erste Wasserleiche.“
„Sicher nicht. Gut, wie Sie möchten: Meiner Meinung nach lag die Leiche grob geschätzt höchstens einen Tag im Wasser und wurde, wenn überhaupt, nicht weit getrieben. Das zeigen schon alleine die Spuren am Körper des Toten. Außerdem ist die Alz momentan sehr seicht, wodurch ein Transport über eine längere Strecke sehr unwahrscheinlich wäre. Ich vermute also, dass der Fundort nicht der Tatort ist, auch nicht die Stelle, an der die Leiche in die Alz geworfen wurde. Wir konnten nicht die kleinste Spur diesbezüglich finden. Ich vermute jedoch, dass die Stelle nicht weit entfernt ist. Die Kollegen suchen das Gebiet flussaufwärts Richtung Garching bereits ab und mit etwas Glück finden wir die Stelle, vielleicht stoßen wir sogar auf den Tatort. Aber bitte: Versprechen kann ich hier nichts, denn das Alzufer ist stellenweise sehr schwer zugänglich und riesengroß. Hinzu kommt, dass sich auch aufgrund des schönen Wetters wieder bereits sehr viele Personen dort einfinden und eventuelle Spuren zerstören könnten,“ er stöhnte, denn er konnte nicht verstehen, wie Menschen Vergnügen am Baden oder am Grillen haben können. Für ihn beides Dinge, die mit vielen Keimen, Bakterien und sonstigen Gefahren verbunden sind.
„Was wir bislang genau wissen: Der Mann wurde erschossen, die Geschosse müssen separat geprüft werden. Eine Schätzung hierzu kann ich nicht abgeben, da sich die Geschosse noch im Körper des Toten befinden. Allerdings kann ich mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass die Schüsse aus einer geringen Distanz abgegeben wurden, schätzungsweise zwei bis maximal vier Meter.“
„Eine Hinrichtung?“ Hans wurde blass.
„Ich gebe mich keinen Spekulationen hin, aber die geringe Distanz und dann auch noch die fixierten Arme mit Kabelbinder am Rücken lassen eine solche Annahme durchaus zu. Aber das herauszufinden, ist Ihre Arbeit. Kommen wir zu der Verletzung im Gesicht. Sie wurde dem Opfer mit ziemlicher Sicherheit kurz vor seinem Tod zugefügt. Ich vermute einen heftigen Schlag, entweder mit einem stumpfen Gegenstand oder ein kräftiger Faustschlag. Festlegen möchte ich mich hier nicht, es spricht aber alles für Letzteres. Zur Identität können wir bislang nur Vermutungen anstellen: Circa fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, sehr sportlich, kurze, schwarze Haare. Markant sind die vielen Tätowierungen am gesamten Oberkörper und an den Armen. Oberflächliche Fotos wurden gemacht, detailliertere Bilder kommen dann aus München zusammen mit dem Obduktionsbericht.“
Fuchs reichte die wenigen Bilder reihum und musste erst einmal Luft holen, denn er brachte die Ausführungen klar und deutlich und dazu noch mit sehr hohem Tempo vor, und das alles ohne Notizen. Die Kollegen betrachteten die Fotos.
„So außergewöhnlich wie noch vor 20 Jahren sind diese Tätowierungen nicht mehr, viele Normalbürger und beinahe jeder Sportler hat welche, das ist ganz modern. Wenn nicht eine ganz markante Arbeit von einem Künstler dabei ist, wird die Zuordnung zu einem unbescholtenen Bürger allein mit diesen Tattoos nicht leicht,“ sagte Leo, als er sich die Fotos ansah.
„Das mit diesen Körperbildern greift um sich,“ stöhnte Krohmer, der sich bereits mehrfach mit dem Problem befassen musste. „Selbst bei der Polizei sind Tätowierungen inzwischen erlaubt, soweit sie nicht sichtbar sind und durch Kleidung verdeckt werden können.“ Für Krohmer eine absolut überflüssige Regelung, denn ihm war es völlig egal, ob Polizisten Tätowierungen hatten oder nicht. Für ihn zählte nur die Arbeitsleistung. Über Äußerlichkeiten in der Art hatte er sich noch nie Gedanken gemacht, für ihn war das reine Privatsache.
„Was sagt die Vermisstenstelle?“
„Bislang negativ, keine Übereinstimmung. Allerdings hatten wir auch bisher nur eine vage Beschreibung, die auf sehr viele Menschen zutrifft. Da der Kollege Fuchs meinte, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte, haben wir Interpol eingeschaltet. Das mit den Tätowierungen hätten wir vorher wissen müssen, das hätte die Suche massiv eingeschränkt.“ Hans Hiebler war sauer, dass er diese wichtige Information nicht umgehend auf den Tisch bekam und warf Fuchs einen vorwurfsvollen Blick zu. Waltraud Westenhuber bemerkte nicht nur den Blick, sondern auch die Antipathie zwischen den beiden. Sie musste einschreiten, denn so eine Schlamperei konnte sie nicht zulassen.
„In Zukunft werden solche Details umgehend an die Kollegen weitergegeben, verstanden?“
Fuchs nickte und senkte den Kopf. Ja, die Information diesbezüglich hatte er zurückgehalten. Er wollte mit seiner Information warten, bis er sie persönlich in der Besprechung präsentieren konnte, denn sonst hatte er bisher nicht viel vorzuweisen.
„Aber ich habe nicht gesagt, dass das Opfer aus Südeuropa stammen könnte. Meine präzise Aussage war: südländischer Typ - das möchte ich ausdrücklich klarstellen,“ sagte er bestimmt.
„Wie dem auch sei. Sobald der Bericht aus München hier ist, treffen wir uns wieder.“
Krohmer hatte genug gehört, auf ihn wartete noch viel Arbeit.
Frau Westenhuber war aufgestanden und ging direkt in die Kantine. Nach der überstürzten Abfahrt aus München, der Fundortbegehung und dem Joggen war sie völlig ausgehungert. Zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass vom Mittagessen nicht mehr viel übrig war und sie sich mit den Resten begnügen musste. Sie wählte Leberkäse mit Kartoffelsalat und eine Apfelschorle, die sie in einem Zug austrank. Sie aß mit großem Appetit und gönnte sich dann noch zwei Stück Käsekuchen, die sie in die Hand nahm und davon abbiss, was von den wenigen anwesenden Kollegen amüsiert zur Kenntnis genommen wurde. Waltraud Westenhuber war zwar sehr sportlich, pfiff aber auf gesunde Ernährung und moderne Kleidung, was ihr schon immer Einiges an Hohn und Spott einbrachte. Dazu sprach sie bayrischen Dialekt und bemühte sich auch in Gesprächen nicht, Hochdeutsch zu sprechen. Sie war stolz auf ihre Herkunft und dachte nicht daran, sich auf irgendeine Art und Weise zu verbiegen. Sie wusste, dass sie intelligent war, prahlte aber nie damit. Im Gegenteil! Sie liebte es, sich dumm zu stellen und andere auflaufen zu lassen. Sie hasste nichts mehr als Prahlerei und Augenwischerei.
Sie dachte über den Fall nach, während sie einen Kaffee trank. Sie hatten die Leiche eines tätowierten Mannes aus der Alz gezogen, der durch zwei Schüsse in den Rücken getötet wurde – mit den fixierten Händen auf dem Rücken eine regelrechte Hinrichtung, darin war sie mit dem Kollegen Hiebler einig. In einer Großstadt hätte sie sofort auf ein Verbrechen im Milieu getippt. Aber hier in der Provinz? Ausgeschlossen! Oder lag sie vollkommen falsch und es gab hier auch so etwas Ähnliches? Sie musste sich dringend an die Arbeit machen und das herausfinden. Vor allem aber musste sie sich über diesen Fluss namens Alz informieren, von dem sie noch nie gehört hatte.
„Gibt es hier in der Gegend ein kriminelles Milieu?“, fragte sie mit vollem Mund, als sie in das Büro eintrat. „Sie wissen schon, was ich meine.“
„Hier bei uns auf dem Land? Nein, auf keinen Fall,“ sagte Werner Grössert und schüttelte energisch den Kopf. Das war doch absurd.
„Bist du dir da sicher? Ich denke ja, dass es nichts gibt, was es nicht gibt. Und natürlich können auch hier bei uns kriminelle Banden Fuß gefasst haben, ohne dass wir bisher davon Wind bekommen haben.“ Hans fand den Gedanken äußerst interessant.
„Jetzt spinn dich aus!“, rief Grössert. „Bei uns ist die Welt noch in Ordnung. Nein, so etwas wie eine organisierte Kriminalität gibt es hier nicht.“
„Warum denn nicht? Denkst du wirklich so blauäugig? Wir sind doch längst durch Internet, Zuwanderung und uneingeschränkte Reisemöglichkeit mit dem Rest der Welt nahtlos verknüpft. Und Grenzkontrollen gibt es so gut wie keine mehr. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass in jedem Menschen kriminelle Energie, Gier, Machtbesessenheit und so weiter schlummert, auch in unserer ländlichen Bevölkerung. Warum denkst du denn, dass wir alle hier in unserem Job so gut beschäftigt sind?“
„Das Argument ist zwar nicht schlecht. Trotzdem bleibe ich dabei: Bei uns hier auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung.“
„Interessant,“ kommentierte Frau Westenhuber die Diskussion, „wie erklärt sich dann die Art und Weise, wie das Opfer getötet wurde? Ich sehe das wie Hiebler: als Hinrichtung. Wir sollten trotzdem an dem Gedanken dranbleiben. Herr Hiebler, forschen Sie doch bitte in dieser Richtung nach. Habe ich inzwischen etwas verpasst? Nein? Na dann an die Arbeit, der Bericht von der Pathologie müsste heute Abend hier sein. Ist das dort mein Schreibtisch?“
Ohne auf eine Antwort zu warten setzte sie sich an den einzig freien Schreibtisch. Sie schaltete den Computer auf ihrem Schreibtisch nicht ein, sondern legte die Tastatur zur Seite und zog ihren eigenen Laptop aus der Tasche. Sie arbeitete lieber mit ihren eigenen Utensilien, was auch Stifte, Block und Telefon mit einschloss. Sie informierte sich zunächst über diesen Fluss Namens Alz. Die Alz entspringt also bei Seebruck aus dem Chiemsee und hat eine Länge von 63 km – nicht wirklich lang. Gut, dann führt der Fluss durch oder nahe an Ortschaften vorbei: Altenmarkt, Trostberg, Tacherting, Garching, Burgkirchen (dort hatten sie die Leiche gefunden), Emmerting und mündet dann bei Marktl in den Inn. Sie öffnete eine Karte auf ihrem Laptop und sah sich das Ganze in Ruhe an. Wenn der Kollege Fuchs Recht hat und die Leiche nicht lange im Wasser lag und auch nicht weit getrieben sein konnte, dann kann man die ersten Ortschaften getrost ausklammern.
So weit – so gut. Sie kam hier nicht weiter und musste auf die Berichte der Pathologie und der Spurensicherung warten. Bei Letzterem war sie sich sicher, dass Fuchs seine Arbeit gründlich machen würde, sie kannte solche Typen sehr gut: übereifrig, pedantisch, sehr korrekt und stur. Sie könnte darauf wetten, dass Fuchs die Stelle, an der die Leiche ins Wasser geworfen wurde, noch bis heute Abend fand – wenn nicht sogar den Tatort.
Der Bericht der Pathologie traf erst am späten Abend ein. Rudolf Krohmer und Werner Grössert waren längst zuhause, Hans Hiebler fuhr direkt vom Präsidium zu einer Verabredung, die er nicht verschieben wollte – die neue Kollegin konnte er immer noch nicht leiden und würde sich für sie nicht einschränken. Nach dem letzten großen Fall hatte er eine riesige, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, der er sich mit vollem Einsatz widmete, wodurch auch sein Privatleben erheblich litt: Er musste der Nichte von Frau Gutbrod, Karin, Fahrstunden erteilen. Er war ihr damals gefolgt und war geschockt von deren rücksichtslosem und kriminellem Fahrstil – so konnte er sie auf keinen Fall mit gutem Gewissen auf die Straßen lassen. Nach einem heftigen Vortrag hatte er Karin davon überzeugt, dass sie dringend Nachhilfe brauchte, und sie hatte sich schließlich dazu überreden lassen. Karin war von einfacher Natur: Nur an sich selbst und einem potentiellen Ehemann interessiert. Außerdem legte sie als Friseurin sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Hans hatte sehr lange dafür gebraucht, Karin davon zu überzeugen, beim Fahren keine Highheels zu tragen. Und noch länger hatte es gebraucht, um ihr klarzumachen, dass der Rückspiegel nicht fürs Schminken da war, sondern um den rückwärtigen Verkehr im Auge zu behalten.
Frau Gutbrod hatte es sich seit Jahren zur Aufgabe gemacht, ihrer Nichte, die inzwischen über 40 war, bei der Suche nach einem Ehemann zu helfen, was ihre Umgebung fürchterlich nervte. Bei jeder Gelegenheit bot Frau Gutbrod ihre Nichte Karin an wie sauer Bier; die beiden gab es quasi nur noch im Doppelpack. Hans Hiebler erteilte der Frau geduldig seit Wochen regelmäßig Fahrstunden, was wahrlich kein Vergnügen war, denn immer wieder brachte die Frau ihn zur Weißglut. Aber was sich Hans vornahm, das zog er auch durch. Langsam aber sicher wurden seine Bemühungen belohnt, denn in den letzten Tagen war Karins Fahrstil deutlich besser geworden. Sie fuhr nun umsichtiger und hörte auf ihn. Zwar kannte Karin die Verkehrszeichen und deren Bedeutung, aber jetzt fing sie sogar an, sich auch daran zu halten. Halleluja!
Leo hatte an diesem Abend nichts vor und blieb länger im Büro. Er hasste die ruhigen Abende, die er allein vor dem Fernsehgerät verbringen musste. Seit seine Viktoria auf Reha war und sie ihm das Versprechen abnahm, sie nicht zu besuchen, langweilte er sich beinahe zu Tode. Deshalb kam ihm der neue Fall wie gerufen.
„Nur noch wir beide, Herr Schwartz. Bewegen Sie Ihren Hintern hier rüber, dann können wir uns den Bericht gemeinsam ansehen.“
Leo nahm frischen Kaffee mit, den Frau Westenhuber dankend annahm. Er hatte beobachtet, wie die Frau beinahe literweise Kaffee in sich hineinschüttete und dabei jede Menge Schokoriegel aß - gesund war das sicher nicht.
„Wir haben es also mit einer russischen 9mm Makarow zu tun. Na super, das ist eine der weitverbreitetsten Waffen.“
„Wird die heute immer noch hergestellt?“
„Ganz sicher. Ich war vor gut 3 Jahren bei einem Vortrag in Russland,“ erzählte Frau Westenhuber mit glänzenden Augen. „Ich habe dort einen russischen Oberst kennengelernt, so einer mit viel Lametta auf der Brust, ein echt aufgeblasener Mensch der sich für sehr wichtig hielt. Von ihm habe ich erfahren, dass diese Waffe auch heute von den dortigen Streitkräften immer noch gerne benutzt wird. So wie in vielen anderen Ländern auch noch. Das Nachfolgemodell ist scheinbar nicht sehr beliebt, obwohl die Waffenlobby die Makarow sehr gerne ersetzen würde.“
„Das glaube ich gerne,“ sagte Leo, während er sich die Detailfotos der Tätowierungen genauer ansah. „Ich kann mir vorstellen, dass das ein Riesengeschäft ist.“
„Ertrunken ist unser Opfer auf jeden Fall nicht. Eines der beiden Geschosse traf ihn tödlich. Hier steht, dass er sofort tot gewesen sein muss. Ich finde es immer tröstlich, wenn jemand nicht unnötig leiden musste.“
Leo war nicht ganz ihrer Meinung, denn für ihn gab es Ausnahmen: Wenn es sich um besonders grausame Verbrecher handelte, die ihre Opfer mitunter schrecklich zurichteten oder extrem leiden ließen. Aber vor allem bei Fällen, in denen es sich bei den Opfern um Kinder handelte. Als Polizist würde er das jedoch niemals zugeben und stimmte Frau Westenhuber schließlich zu.
„Hier steht als Anmerkung, dass noch Labortests anstehen, die Ergebnisse stehen erst morgen zur Verfügung – um was es dabei wohl geht?“
„Keine Ahnung. Aber wenn die Kollegen Tests durchführen, dann muss es wichtig sein.“
Leo sah sich die Fotos nochmals genauer an. Er kannte sich mit Tattoos nicht aus, aber einige davon waren wirklich sehr schön, obwohl er kein Fan von solchen Dingen war. Für ihn würde ein Tattoo oder gar eines dieser fürchterlichen Piercings niemals in Frage kommen, denn schon der Gedanke an Nadeln und den damit verbundenen Schmerzen bereitete ihm eine Gänsehaut. Für ihn unvorstellbar, wie man sich so etwas freiwillig antun kann.
„Ist bei der Fahndung schon irgendetwas rausgekommen?“, riss ihn Frau Westenhuber aus seinen Gedanken.
„Nein. Aber ich werde die Fahndung durch die Fotos der Pathologie erweitern.“
„Tun Sie das. Gibt es noch Kaffee?“
Es klopfte zaghaft an der Tür und sofort sah Leo auf seine Uhr: 21.38 Uhr, ziemlich spät für Besuch.
„Herr Fuchs? Sagen Sie mir nicht, dass Sie immer noch arbeiten,“ empfing ihn Frau Westenhuber erfreut.
„Selbstverständlich, wie Sie ja auch. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass wir die fragliche Stelle gefunden haben. Und zwar die Stelle, an der das Opfer in die Alz geschleift wurde. Den Tatort haben wir auch. Die Spuren sind eindeutig,“ rief er freudestrahlend und stolz aus. Er breitete auf Frau Westenhubers Schreibtisch die entsprechenden Fotos aus. „Hier sehen Sie den Tatort unweit des Fundortes, nur etwa 150 m flussaufwärts entfernt. Eine Geschosshülse konnten wir sicherstellen, sie war im Unterholz – die andere ist verschwunden. Sehen Sie hier auf dem Foto die eindeutigen Schleifspuren bis hier zum Ufer der Alz?“
„Ja, klar und deutlich.“
„Ich bin mir sicher, dass wir Abriebspuren auf Steinen den Schuhen des Opfers zuordnen können, die entsprechenden Ergebnisse sind morgen fertig. Blutspuren konnten wir leider noch nicht finden, es ist einfach schon zu dunkel. Gleich morgen früh nach der Besprechung machen wir uns auf die Suche. Die Stelle wurde gesichert und abgeriegelt. Ihre Zustimmung vorausgesetzt, habe ich dort zur Sicherheit einen Polizisten postieren lassen.“
Friedrich Fuchs platzte beinahe vor Stolz.
„Sehr gute Arbeit Herr Fuchs, ich bin wirklich beeindruckt. Wenn eine der beiden Geschosshülsen fehlt, dann könnten wir es doch mit einem Profi zu tun haben, denn wer sonst würde sich die Mühe machen?“
„Sehr spekulativ, die könnte wer weiß wie von der Stelle entfernt worden sein. Aber wir sollten diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, da stimme ich Ihnen zu.“ Leo hatte sich an dem Gespräch mit dem kriminellen Milieu hier in der Provinz nicht beteiligt, schloss sich aber eher der Meinung Hieblers an: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und warum sollte es so etwas hier nicht geben? Die Bedingungen sind geradezu ideal: Jeder vertraut jedem und die Polizei ist kaum präsent. Trotzdem bereitete ihm die Vorstellung abermals eine Gänsehaut, denn wenn das so wäre, dann hätten sie ein Problem.
„Wisseen Sie was, Herr Fuchs? Weil Sie so fleißig waren und so viel gearbeitet haben, lade ich Sie jetzt auf ein Bier ein, das haben Sie sich redlich verdient. Haben Sie Zeit und Lust?“
„Aber gerne.“ Friedrich Fuchs konnte sein Glück kaum fassen, denn noch niemals vorher wurde er privat von einem Kollegen eingeladen, und dann gleich von der hochkarätigen Frau Westenhuber.
„Was ist mit Ihnen, Herr Schwartz?“
„Danke, ich verzichte.“
Die beiden zogen davon und Leo musste lachen, denn Frau Westenhuber wickelte Fuchs so richtig um den Finger – herrlich anzuschauen. Auch Leo machte sich nun auf den Heimweg, wobei er sich zwingen musste, nicht an den Fall zu denken, was gar nicht so leicht war. Am liebsten hätte er mit seiner Viktoria gesprochen und sich mit ihr ausgetauscht, aber um die Zeit wollte er sie nicht mehr stören, sie schlief hoffentlich tief und fest.
Er parkte seinen Wagen vor dem Hof von Tante Gerda, die eigentlich Hans Hieblers Tante war, die aber alle nur Tante Gerda nannten. Hier hatte er vor fast einem Jahr eine neu ausgebaute Wohnung bezogen, in der er sich sehr wohl fühlte. Der Hof lag bereits im Dunkeln und er bemühte sich, die Wagentür leise zu schließen, um Tante Gerda nicht zu stören. Aber zu spät: Felix begrüßte ihn mit lautem Gebell! Leo mahnte ihn, leise zu sein, aber der Hund dachte nicht daran. Er sprang an Leo hoch, sauste davon und holte schließlich einen Ball. Natürlich spielte er mit dem Hund, er konnte nicht anders – und war ganz schnell abgelenkt. Die Tür ging auf und Tante Gerda kam mit zwei Gläsern Rotwein in der Hand heraus, schaltete das Außenlicht an und setzte sich auf die Holzbank.
„Setz dich zu mir, du hattest bestimmt einen schweren Arbeitstag,“ sagte sie lächelnd und reichte ihm das Glas.
„Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber Felix…“
„Ist schon gut. Ich weiß, dass man dem kleinen Kerl kaum widerstehen kann. Außerdem kann ich bei der Hitze sowieso nicht schlafen.“
Leo setzte sich zu Tante Gerda und gab ihr einen Kuss auf die Wange, während Felix immer wieder von ihm einforderte, den Ball wieder und wieder zu werfen, bis er schließlich erschöpft auf die Bank sprang und sich zufrieden zwischen die beiden legte.
Leo hatte den Hund bei seinem ersten Fall bei der Polizei Mühldorf in einem erbärmlichen Zustand gerettet. Er war auf dem verwahrlosten Sinder-Hof in Tüßling der Hofhund und lebte angebunden an eine kurze Kette, die sich in sein Fleisch gearbeitet hatte. Das war ein schrecklicher Anblick, den keiner der Beteiligten so schnell vergaß. Tante Gerda hatte den Kleinen sofort in ihr Herz geschlossen und zu sich genommen. Von dem Zustand vor einem Jahr war nichts mehr zu sehen. Felix war gesund und munter und hatte alle, vor allem Tante Gerda, vollkommen im Griff.
Sie saßen schweigend auf der Bank und tranken in Ruhe ihren Rotwein, wobei Leo langsam abschalten und sich entspannen konnte. Die Sterne leuchteten am Himmel und es war kaum eine Wolke zu sehen. Nur ab und an erschien der Kondensstreifen eines Flugzeuges, sonst war alles ruhig und friedlich. Und wenn jetzt auch noch seine Viktoria hier wäre, wäre alles perfekt!