Читать книгу Adlerholz - Irene Dorfner - Страница 9
4.
ОглавлениеWerner Grössert hatte an das Gespräch mit seiner Mutter nicht mehr gedacht, als sie gegen 7.00 Uhr bei ihm zuhause anrief.
„Was hast du wegen der Steuerprüfung erreichen können?“
„Noch nichts, Mutter, ich bin leider noch nicht dazugekommen. Ich kümmere mich später darum.“
Seine Mutter sagte nichts darauf, sondern legte einfach auf.
Jetzt hatte Werner Grössert ein schlechtes Gewissen. Seine Mutter wusste genau, wie sie mit ihm umzugehen hatte. Er war sauer auf sie, aber vor allem ärgerte er sich über sich selbst – nicht, weil er das mit der Steuerprüfung vergessen hatte, sondern dass es seine Mutter immer wieder schaffte, dass er sich wie ein kleines Kind fühlte. Er trank rasch seinen Kaffee aus und warf einen Blick ins Schlafzimmer, wo seine Frau noch seelenruhig schlummerte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er schloss leise die Tür. Seine Frau war tatsächlich schwanger, obwohl die Ärzte nicht daran geglaubt hatten, dass sie aufgrund ihrer Hautkrankheit und den vielen Medikamenten überhaupt schwanger werden könnte. Erst vor wenigen Tagen hatten sie die Nachricht bekommen und seine Frau hatte sofort alle Medikamente abgesetzt. Werner war überglücklich und freute sich sehr auf das Kind. Und er war sehr stolz auf seine Frau, die sich tapfer hielt und niemals jammerte, obwohl sie mit Übelkeit und Kreislaufproblemen zu kämpfen hatte.
Er schrieb seiner Frau eine kurze Nachricht, legte den Zettel auf den Küchentisch und stieg in seinen Wagen. Sofort rief er seinen Freund beim Finanzamt Mühldorf an, der immer der erste im Büro war, dafür aber auch früher ging.
„Guten Morgen Bernd, hier Werner Grössert.“
„Der Werner! Servus, altes Haus. Lass mich raten: Du missbrauchst mal wieder meine Gutmütigkeit? Warum sonst würdest du mich in aller Herrgottsfrüh anrufen?“
„So ist es, du hast mich erwischt. Ich möchte dich auch nicht lange aufhalten und um den heißen Brei herumreden: Bei meinen Eltern steht offenbar demnächst eine Steuerprüfung an.“
„Verstehe. Einen Moment, ich rufe den Fall auf. – Oje ,das sieht nicht gut aus, Werner. Es steht tatsächlich eine Steuerprüfung an, und zwar, weil es bei deinen Eltern in der Kanzlei gravierende Unstimmigkeiten gibt.“
„Das muss ein Missverständnis sein. Wie kommt das Finanzamt darauf?“
„Du bringst mich echt in eine schwierige Lage, denn das ist ein laufendes Verfahren, von dem ich dir nicht viel, eigentlich überhaupt nichts sagen darf. Ich kann dir nur so viel verraten, dass dem Finanzamt Informationen vorliegen, die eine Prüfung unumgänglich machen.“
„Wie bitte? Welche Informationen?“
„Anonym.“
„Und deshalb wird gleich eine Steuerprüfung angesetzt? Das geht so einfach?“
„Normalerweise gehen wir solchen Hinweisen nicht nach, denn davon bekommen wir täglich jede Menge. Aber in dem Fall deiner Eltern müssen wir tätig werden, denn uns wurden Unterlagen zugespielt – und die kommen direkt aus der Kanzlei Grössert. Mehr kann ich dir aber nun wirklich nicht sagen, sonst komme ich in Teufels Küche.“
Werner Grössert war geschockt, damit hatte er nicht gerechnet.
„Und wann findet diese Prüfung statt?“
„Die Kollegen sind bereits unterwegs, sie müssten eigentlich schon in der Kanzlei sein. Der Fall wurde als dringend eingestuft. Jetzt möchte ich aber wissen, woher du deine Information hast, denn diese Prüfung wird unangekündigt durchgeführt.“
„Das kann ich dir leider nicht sagen. Trotzdem vielen Dank Bernd, du hast einen gut bei mir.“
„Ich komm darauf zurück, darauf kannst du Gift nehmen. Servus, alter Freund.“
Werner Grössert war klar, dass seine Eltern einen Tipp bekommen hatten. Aber ihm war auch klar, dass er hier nichts weiter machen konnte. Um welche Unterlagen ging es dabei? Was hatten seine Eltern zu verbergen? Er musste der Sache auf jeden Fall nachgehen und fuhr direkt zur Kanzlei seiner Eltern.
„Was machst du hier, Werner?“, empfing ihn sein Vater gereizt. „Wusstest du etwa davon?“
„Nein. Ich wollte einfach nur nach euch sehen.“
„Erzähl keinen Blödsinn! Du hast dich hier schon seit Jahren nicht mehr einfach nur so blicken lassen. Und gerade heute, wo wir die Steuerprüfung im Haus haben, erscheinst du auf der Bildfläche! Sei ehrlich: Hast du irgendetwas hiermit zu tun?“
Werner war sprachlos, denn diese Unterstellung war nicht nur lächerlich, sondern sehr beleidigend. Niemals würde er etwas tun, um seiner Familie zu schaden, egal, wie schlecht sie ihn auch behandelten. Er war wütend und verletzt.
„Das glaubst du wirklich?“, schrie er seinen Vater an.
Werners Mutter kam hinzu und stellte sich nun zwischen die beiden, die noch niemals gut miteinander auskamen. Zum endgültigen Bruch zwischen Vater und Sohn kam es, als Werner sich entschlossen hatte, nicht Jura zu studieren, sondern stattdessen zur Polizei zu gehen. Und dann hatte er noch obendrein kurz darauf diese nicht standesgemäße, inakzeptable Frau geheiratet, die ihnen ein Dorn im Auge war. Sie kam nicht nur aus einfachsten Verhältnissen. Ihre Eltern waren geschieden und sie war dazu auch noch evangelisch. Abgesehen von ihrer viel zu üppigen Figur hatte sie auch noch diese eklige Hautkrankheit, wegen der sie ständig in Spezialkliniken war und nicht arbeiten konnte. Werners Eltern waren beide davon überzeugt, dass ihr Sohn nur gegen sie als Eltern rebellieren und sie für irgendetwas bestrafen wollte, obwohl sie immer nur ihr Bestes gegeben hatten.
„Natürlich hat Werner nichts damit zu tun, wo denkst du denn hin. Mein Lieber, du wirst in der Buchhaltung gebraucht.“ Doktor Wilhelm Grössert ging brummend davon. Er war mit der Situation völlig überfordert, denn so eine Prüfung hatte es in seiner Kanzlei noch niemals gegeben, auch nicht bei seinen Eltern und Großeltern, die diese Kanzlei schon vor vielen Jahren gegründet hatten. Vor allem störte sich Doktor Grössert daran, wie die Finanzbeamten mit ihm umgingen und ihn wie einen Verbrecher behandelten – zumindest kam es ihm so vor, obwohl die Beamten nur ihre Arbeit machten und ihn nicht anders behandelten wie jeden anderen auch. Aber er war es nun mal nicht gewöhnt, Anweisungen entgegenzunehmen und Unterlagen rauszurücken, die er partout nicht hergeben wollte. Für seine Begriffe waren diese Leute unerlaubte Eindringlinge, die hier nichts zu suchen hatten. Zum Glück hatte er vor zwei Tagen von einem Freund während einer Golfpartie einen Tipp bekommen und konnte so entsprechende Unterlagen und pikante Dinge noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Nicht auszudenken, wenn er diese Möglichkeit nicht gehabt hätte!
„Du musst deinen Vater verstehen, er meint es nicht so,“ sagte seine Mutter und zog Werner zur Seite. „Warum konntest du das hier nicht verhindern? Du hast es mir versprochen und ich habe mich auf dich verlassen,“ sagte sie vorwurfsvoll.
„Ich habe nichts dergleichen versprochen und das weißt du auch. Ich habe zugesagt, bezüglich dieser Steuerprüfung nachzuhaken und das habe ich auch getan.“ Werner Grössert war sauer und gekränkt, dass sein Vater ihn beschuldigte, mit dieser Steuerprüfung etwas zu tun zu haben. Aber so oder so ähnlich behandelten sie ihn schon sein Leben lang und er fühlte sich in Gegenwart seiner Eltern stets unwohl und vermied die Treffen mit ihnen so oft er konnte. Auch jetzt wollte er so schnell wie möglich weg von hier und fragte sich, warum er überhaupt gekommen war, denn wie so oft war er nicht willkommen und seine Eltern behandelten ihn wieder sehr unfreundlich. Trotzdem beschloss er, die Information seines Schulfreundes weiterzugeben.
„Diese Steuerprüfung wurde aufgrund einer anonymen Anzeige angesetzt. Dem Finanzamt wurden Unterlagen zugespielt, die diese Prüfung offenbar dringend erforderlich machen. Was ist hier los? Was habt ihr zu verbergen? Um welche Unterlagen geht es?“
Der Mund seiner Mutter stand offen und für einen kleinen Moment schien sie die Fassung zu verlieren, fing sich aber schnell wieder.
„Was redest du da für dummes Zeug. Da musst du etwas falsch verstanden haben, du hast bestimmt wieder nicht richtig zugehört. Dein Vater und ich haben nichts zu verbergen, rein gar nichts. Und jetzt entschuldige mich, ich habe noch zu tun. Du findest ja alleine raus. Danken kann ich dir nicht, denn du hast im Grunde genommen nichts für uns getan. Schade eigentlich, ich hatte deine Position und deinen Einfluss wohl völlig überschätzt.“
Seine Mutter war enttäuscht und sauer, das war klar. Trotzdem steckte mehr hinter der ganzen Sache und der musste er nachgehen. Dass ihn seine Mutter eben beleidigte, war ihm völlig egal, daran war er gewohnt.
Auf der Fahrt ins Präsidium dachte er darüber nach, dass er eigentlich seinen Eltern bei der Gelegenheit die Neuigkeit mitteilen wollte, dass sie Großeltern werden, aber er hatte es sich anders überlegt. So, wie die beiden die letzten Jahre mit ihm und vor allem mit seiner Frau umgegangen waren, wollte er es ihnen wenigstens ein bisschen heimzahlen: Er würde ihnen davon überhaupt nichts sagen, über kurz oder lang erfuhren sie es von anderen. Und das traf die beiden bis ins Mark, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Seine Frau war bestimmt nicht damit einverstanden und wenn sie davon erfuhr, musste er sich todsicher eine Standpauke anhören. Sie war einfach zu gutmütig und wollte für alle immer nur das Beste. Sie nahm seinen Eltern ihr Verhalten nicht übel und ertrug die kleinen Demütigungen und Sticheleien mit einem Lächeln. Gerne wäre Werner oft für seine Frau in die Bresche gesprungen und hätte sie in Schutz genommen, aber seine Frau hatte es ihm verboten, sie wollte keinen Streit nur wegen ihr. Er liebte seine warmherzige, gutmütige Frau und war sehr stolz auf sie. Sie ertrug diese Demütigungen und ihre Krankheit tapfer und ohne zu klagen - diese Frau war das Beste, was ihm in seinem Leben widerfahren ist. Und jetzt wurde sein Glück auch noch durch dieses Baby, dieses Wunder übertroffen. Er war sehr glücklich und pfiff ein fröhliches Lied. Und er musste laut lachen, als er sich die Gesichter seiner Eltern vorstellte, wenn sie von Fremden erfuhren, dass seine Frau schwanger ist und sie Großeltern werden! Sein Vater und vor allem seine Mutter taten alles Erdenkliche dafür, dass sie in der Öffentlichkeit gut dastanden und spielten allen allzu gerne die heile Familie vor. Das würde wie ein Schlag ins Gesicht seiner Eltern werden. War das fies von ihm? Nein, das hatten sie beide verdient!
Pfeifend und gut gelaunt parkte er seinen Wagen vor dem Präsidium. Auch heute hatte er den roten Kleinwagen nicht bemerkt, der ihm gefolgt war und der unweit entfernt parkte. Er war spät dran und ging direkt in den Besprechungsraum, wo die anderen bereits ungeduldig auf ihn warteten.
Sein Chef Rudolf Krohmer sah demonstrativ auf seine Armbanduhr und warf ihm einen strengen Blick zu. Seine neue Vorgesetzte Waltraud Westenhuber rührte in ihrem Kaffee und war ebenfalls nicht erfreut über seine Verspätung, denn Geduld war nicht gerade ihre Stärke. Den anderen war es egal. Es handelte sich lediglich um zwanzig Minuten und sie machten keine große Sache daraus. Werner würde schon seine Gründe haben.
„Dann können wir ja endlich anfangen,“ begann Rudolf Krohmer. „Die Tatwaffe ist eine 9 mm Makarow. Die Waffe ist bei uns noch nie aufgetaucht. Die Bilder der Tätowierungen wurden bereits durch den Kollegen Schwartz der Vermisstenfahndung angefügt – irgendwelche Reaktionen hierauf?“
Leo Schwartz schüttelte den Kopf.
„Von der Pathologie München bekamen wir eine sehr wichtige Information. An dem Toten wurden jede Menge Spuren von Nadelholz gefunden, und zwar von Tannen.“
„Die gibt es am Alzufer nicht,“ rief Friedrich Fuchs, der von Frau Westenhuber zur Besprechung dazu gebeten wurde.
„Sind Sie sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher. An unseren Gewässern gibt es kein Nadelholz. In höheren Lagen, also in den Bergen durchaus, aber bei uns nicht.“
„Vielleicht hatte der Tote etwas mit Holzarbeiten zu tun? Waldarbeiter, Zimmermann, Schreiner oder Ähnliches,“ sagte Leo.
„Seinen Händen nach zu urteilen hatte er keine schweren, handwerklichen Arbeiten ausgeführt. Die Hände waren sauber und gepflegt. Ich tippe eher auf einen Bürojob.“
„Ein wichtiger Hinweis. Irgendwelche Informationen bezüglich organisiertem Verbrechen hier in der Gegend?“, fragte Frau Westenhuber den Kollegen Hiebler.
„Wie bitte?“, rief Krohmer. „Bei uns? Nein, das kannst du vergessen, das hätten wir mitbekommen.“
Werner fühlte sich durch seinen Chef in seiner Meinung bestätigt und lehnte sich demonstrativ mit verschränkten Armen zurück.
„Warum denn nicht?“, antwortete Waltraud Westenhuber patzig. „Im Milieu wird sehr gerne diese 9 mm Makarow verwendet und auch dieser Möglichkeit müssen wir nachgehen. Gestern Abend noch habe ich mit Kollegen in München telefoniert, ob es irgendeine Spur hier in diese Gegend gibt. Leider negativ, was aber nichts heißt. Ich möchte eurer Idylle nicht zu nahe treten, aber gerade hier, wo man nicht damit rechnet, wäre das doch geradezu genial.“
„Ich denke, dass da deine Phantasie mit dir durchgeht. Aber bitte, wie du meinst, ich möchte dir natürlich nicht vorschreiben, wie du vorzugehen hast. Herr Hiebler entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Haben Sie diesbezüglich irgendwelche Kenntnisse?“
„Noch nicht, ich bin aber noch dran. Im Übrigen möchte ich betonen, dass auch ich diese Möglichkeit nicht ausschließen möchte.“
„Meinetwegen. Denken Sie doch, was Sie wollen. Sonst noch irgendetwas, das uns weiterbringen könnte? Nein? Dann hoffen wir darauf, dass wir die Identität des Toten so schnell wie möglich herausfinden. Das Foto in der heutigen Tageszeitung ist übrigens exzellent.“
Friedrich Fuchs freute sich über das Lob, denn er hatte von dem Toten viele Bilder gemacht und das heute in der Zeitung war das Beste. Der Sonnenbrand in Fuchs‘ Gesicht hatte sich verschlimmert, auch die Kopfhaut hatte etwas abbekommen. Werner ging an ihm vorbei und verzog das Gesicht.
„Da haben Sie sich aber einen satten Sonnenbrand eingefangen. Ich an Ihrer Stelle würde mir das von einem Arzt ansehen lassen, das sieht gar nicht gut aus.“
Fuchs warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu. Was ging diesen Schnösel sein Sonnenbrand an? Er wusste schließlich selbst am besten, was er zu tun und zu lassen hatte. Er hasste es, gute Ratschläge zu bekommen. Natürlich hatte er selbst schon seinen Sonnenbrand bemerkt, schließlich hatte er zuhause einen Spiegel und seine Haut brannte wie Feuer. Aber er hatte bereits für Abhilfe gesorgt und seine Haut heute Nacht mehrfach mit Quark abgekühlt, außerdem nahm er selbstverständlich sofort Acetylsalicylsäure ein. Er war ja schließlich nicht blöd.
Hilde Gutbrod blickte nicht auf, als Rudolf Krohmer eintrat. Er sah sofort, dass sie beleidigt war und konnte sie durchaus verstehen, Waltraud war wirklich nicht nett zu ihr gewesen.
„Jetzt sind Sie doch nicht eingeschnappt, Frau Gutbrod, die Traudl meinte das nicht so.“
„Doch, diese Frau meinte es so. Sie hat mich vor allen Kollegen blamiert und bloßgestellt. Womit habe ich das verdient? Ich kann mich doch hier kaum mehr blicken lassen. Heute früh habe ich mir allen Ernstes überlegt, ob ich überhaupt zur Arbeit gehen kann, denn ich fühle mich schrecklich. Noch niemals hat mich jemand so behandelt.“
Sie war wirklich sehr verletzt, denn Krohmer bemerkte Tränen in ihren Augen. Allerdings neigte sie sehr zu Übertreibungen und auch zur Theatralik. Aber er musste unbedingt den Frieden wiederherstellen.
„Wenn Sie nicht mehr böse sind, verrate ich Ihnen ein Geheimnis.“
Jetzt wurde Frau Gutbrod hellhörig, wischte sich die Tränen ab und rückte ein Stückchen näher.
„Welches Geheimnis? Betrifft es Frau Westenhuber?“
Krohmer nickte.
„Eigentlich wollte ich Traudl nicht hierhaben und habe versucht, jemand anderen zu bekommen. Aber sie wollte unbedingt zu uns nach Mühldorf. Wahrscheinlich nur, um mich zu ärgern.“
„Ich verstehe nicht - wie meinen Sie das?“
Die Tränen und die Wut schienen nun vollkommen vergessen.
„Traudl ist meine Cousine, wir sind Tür an Tür aufgewachsen.“
„Ihre Cousine?“, rief Frau Gutbrod aus.
„Ja, leider, man kann sich seine Verwandten nun mal nicht aussuchen. Und weil Traudl meine Cousine ist, kann ich Ihnen versichern, dass sie Sie nur bloßgestellt hat, weil sie ganz bestimmt neidisch auf Sie ist. Es stimmt, dass Traudl nur einige Jahre jünger ist als Sie, Sie sehen dafür aber viel jugendlicher und hübscher aus. Traudl hat kein Geschick als Frau und hat keine Ahnung, wie sie sich vorteilhaft kleiden und stylen soll, das war früher schon so. Sie hat nie mit Puppen gespielt, sondern hat sich lieber mit Jungs herumgetrieben. Ich glaube, insgeheim wäre sie viel lieber ein Junge geworden. Aber bitte, das bleibt natürlich unter uns.“
„Selbstverständlich!“
„Stellen Sie sich vor, sie ist mit dem Wohnmobil angereist und lebt während ihrer Anwesenheit hier auf unserem Parkplatz.“
„Wie bitte? Das Wohnmobil da draußen ist das Ihrer Cousine? Ich hatte mich schon gewundert. Na, für mich wäre so etwas ja nichts, ich könnte mich darin nicht rühren. Man hat dort so wenig Platz und kann ja von allen Seiten begafft werden.“
„Ganz meine Meinung. Natürlich habe ich ihr angeboten, bei mir zu wohnen, wir sind schließlich eine Familie. Aber sie möchte nicht, sie hat nun mal ihren eigenen Kopf. Also, Frau Gutbrod, Sie haben jetzt einen tieferen Einblick. Seien Sie wieder gut und sehen meiner Cousine ihren Neid nach. Und ich bitte Sie, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.“
Das hatte gesessen und Frau Gutbrods Gesicht hellte sich umgehend auf.
„Sie können sich auf mich verlassen,“ flüsterte sie verschwörerisch, obwohl Rudolf Krohmer in dem Moment, als er den Mund zumachte, bereits wusste, dass Frau Gutbrod diese Information niemals für sich behalten könnte. In kürzester Zeit würde das die Runde machen. Bald wusste jeder über ihn und seine Cousine Traudl Bescheid. Was soll`s, irgendwann würde es sowieso rauskommen.
Rudolf Krohmer ging zufrieden in sein Büro und freute sich über seinen gelungenen Schachzug, mit dem er zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Seine Sekretärin war wieder bester Laune und würde diese auch noch eine Weile beibehalten, auch wenn seine Cousine nochmals zuschlagen sollte. Und er konnte seiner Cousine eins auswischen, die nun einer scheinbar überlegenen und gutmütigen Frau Gutbrod entgegentreten musste. Natürlich hatte er gezielt maßlos übertrieben und geflunkert. Er kannte seine Frau Gutbrod schon viele Jahre und wusste genau, wie er sie anpacken musste. Sie würde von nun an seiner Cousine wohlwollend gegenübertreten und ihr bei jeder Gelegenheit gute Ratschläge erteilen, und das brachte Traudl mit ziemlicher Sicherheit auf die Palme.
Rudolf Krohmer war wirklich nicht sehr begeistert davon gewesen, dass seine Cousine hier arbeiten wollte, er wurde davon völlig überrascht. Als er davon hörte, dass Traudl die Vertretung von Viktoria Untermaier antrat, setzte er alle Hebel in Bewegung, um das zu verhindern. Leider vergeblich, denn sie war bereits unterwegs und hatte vorgesorgt. Auch sie hatte ihre Verbindungen und machte es ihm unmöglich, das Unvermeidliche zu stoppen. Natürlich liebte er seine Cousine, aber wenn möglich nur aus der Ferne und bei den unvermeidlichen Familientreffen. Er fürchtete nicht nur ihr loses Mundwerk, sondern vor allem ihr ungehobeltes Benehmen, mit dem immer zu den unpassendsten und unmöglichsten Momenten zu rechnen war, was sie deutlich im Besprechungszimmer mit Frau Gutbrod demonstriert hatte. Traudl war wirklich unmöglich, denn sie genoss es, die Unangepasste, Unverschämte zu geben, wobei sie eine überaus intelligente und gebildete Frau war. Rudolf Krohmer hatte seine Cousine Traudl noch nie verstanden, die bereits von klein auf schon so war: unangepasst, wahrheitsliebend, direkt und auch durchaus beleidigend. Ihre Eltern hatten es sehr schwer mit ihr. Er und seine Cousine waren quasi gemeinsam aufgewachsen und anfangs war es auch prima, mit ihr durch die Wälder zu ziehen und die dümmsten Dinge anzustellen. Sie war unter den Nachbarjungen sehr beliebt, bis sie älter wurden. Von da an wollte niemand mehr etwas mit Traudl zu tun haben und sie ging ihre eigenen Wege, während er selbst in die Tanzstunden ging und sich mit Mädchen traf. Traudl war anders, hatte schon immer ihren eigenen Kopf und ließ sich davon auch nicht abbringen. Aber sie war immer für ihn dagewesen und er konnte sich auf sie verlassen, obwohl sie ihm nicht nur peinlich war, sondern auch nach kurzer Zeit auf die Nerven ging. Zum Glück war sie mit ihrem Wohnmobil angereist und hauste nun auf dem Parkplatz der Polizeiinspektion Mühldorf, obwohl er ihr selbstverständlich ein Gästezimmer und auch die Einfahrt seines Hauses angeboten hatte. Aber Traudl hatte abgelehnt, ihr war die Nähe zu Menschen unheimlich und sie liebte ihre Freiheit. Außerdem mochte sie keine Kinder und konnte mit ihnen nicht umgehen. Da Rudolf und Luise Krohmer seit einigen Wochen ein zehnjähriges Kind, das Stiefkind ihrer verstorbenen Nichte Silke, im Hause aufgenommen hatten, verzichtete Traudl großzügig auf das Angebot ihres Cousins.
Krohmer tröstete sich damit, dass die Kollegin Untermaier nach den neuesten Informationen in spätestens zwei Wochen ihren Dienst wieder antreten konnte, und dann hätte er seine Cousine wieder vom Hals.
„Sie sind wirklich die Cousine von unserem Chef?“, fragte Leo Schwartz während des gemeinsamen Mittagessens. Tatsächlich hatte sich die Information wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
„Ja,“ sagte sie knapp und biss in ihr Schnitzel, von dem sie ein großes Stück abgeschnitten hatte und es nun zurückgelehnt aus der Hand aß. „Irgendein Problem damit?“
„Keineswegs. Mich wundert nur, dass weder Sie noch der Chef ein Wort darüber verloren haben. Ich weiß gerne, mit wem ich es zu tun habe, das ist alles. So wie Sie liebe ich auch die Wahrheit. Aber dieses Verwandtschaftsverhältnis taucht nirgends in den Berichten über Sie auf.“
„Sie haben sich über mich erkundigt?“
„Das ist doch selbstverständlich. Wie gesagt, weiß ich gerne, mit wem ich es zu tun habe. Warum ist das zwischen Ihnen und Krohmer so ein Geheimnis? Er hat sie noch nie erwähnt und wir haben Sie auch noch nie bei ihm gesehen, obwohl wir unseren Chef auch privat ab und zu treffen.“
„Weil es nicht wichtig ist und niemanden etwas angeht,“ schnauzte sie Leo an. „Familie ist nun mal nicht mein Ding, das ist mir viel zu eng.“
Minutenlang herrschte Stillschweigen, bis Hans die Stille unterbrach.
„Und Sie wohnen wirklich in einem Wohnmobil hier auf dem Parkplatz?“
„Ja, warum denn nicht? Ich liebe die Ruhe und meine Unabhängigkeit. Irgendwelche Probleme damit?“
„Nein, aber ich wundere mich, denn ich kann mir vorstellen, dass das vor allem für eine Frau sehr unbequem und unkomfortabel ist. Wenn ich an die kleinen Nasszellen denke, da passen doch die Kosmetikartikel einer Frau niemals rein, das reicht nicht mal für meine.“
„Mit welchen Püppchen haben Sie es denn sonst zu tun? Sagen Sie nichts, ich kann es mir schon vorstellen – hübsche, leblose Hüllen ohne Verstand. Ich kann mir schon vorstellen, dass Sie sogar mehr Kosmetikartikel besitzen als ich, als Gockel muss man sich nun mal aufplustern – ich habe das nicht nötig. Außerdem ist es meine Sache, wie ich lebe, das geht Sie überhaupt nichts an.“
„Und es ist meine Sache, wie ich mich pflege und mit welchen Frauen ich zusammen bin. Und dass eins klar ist: Das sind liebe Frauen und keine dummen Püppchen, das verbitte ich mir! Sie trampeln mit ihrer plumpen, derben Art und ihrem losen Mundwerk über alles und jeden hinweg, aber reagieren empfindlich, wenn es um Sie selber geht. Es war nur eine persönliche Frage. Sie nehmen doch auch kein Blatt vor den Mund und brauchen sich jetzt nicht so künstlich aufzuregen. Schließlich haben Sie sich ja auch ausführlich über uns informiert und uns diese Informationen gleich bei unserem ersten Zusammentreffen um die Ohren gehauen. Persönliche Fragen unsererseits dürfen wohl erlaubt sein, ohne dass Sie sofort ausfallend werden.“
Hans Hiebler war sauer auf die Frau, die nur zu gerne austeilte, aber scheinbar nicht einstecken konnte. Leo Schwartz und Werner Grössert hatten dem Streitgespräch der beiden interessiert und auch amüsiert zugehört, denn Hans Hiebler ließ sich nur selten dazu hinreißen, unfreundlich und laut zu werden, vor allem nicht Frauen gegenüber. Aber Frau Westenhuber hatte Hans‘ Frauen beleidigt, und in dem Punkt war er sehr empfindlich. Jetzt starrten sie gebannt auf Frau Westenhuber, die erstaunlicherweise sehr ruhig geworden war.
„Respekt! Endlich sind Sie ehrlich und sagen, was Sie denken. Das mag ich sehr. Es tut mir leid, wenn ich Ihre Damen beleidigt haben sollte, das war nicht meine Absicht. Und ja, ich gebe zu, dass ich bei persönlichen Fragen vielleicht etwas empfindlich reagiere. Ich bin es nicht gewohnt, dass ich über mich spreche und mag es auch nicht. Ich weiß, dass ich nicht einfach bin und schieße ab und zu übers Ziel hinaus. Aber glauben Sie mir, ich meine das nicht so. - Ich bin die Traudl.“
Sie reichte Hiebler die Hand und zu Leos und Werners Verwunderung nahm er sie an.
„Hans,“ sagte er nur knapp und musste sich ein Lächeln verkneifen. Er war sich sicher, dass unter dieser rauen Schale ein weicher Kern war und vielleicht war es für ihn irgendwann interessant, herauszufinden, was der Grund für die Härte war, mit der sich die Frau umgab.
„Alles wieder gut?“
„Passt schon.“
„Bier? Heute Abend 20.00 Uhr bei mir im Wohnmobil?“
„In dieser Blechdose? Auf keinen Fall! Ich hole dich ab und wir gehen in eine urige Kneipe.“
Frau Westenhuber nickte und widmete sich wieder ihrem Essen. Jetzt schwiegen sie und die Kollegen Schwartz und Grössert konnten kaum glauben, was sich eben vor ihren Augen abgespielt hatte. Mit wenigen gezielten Worten hatte er die Fassade der harten Frau Westenhuber für einen Moment angekratzt und sie aus der Reserve gelockt. Sie sprachen nun nur noch über belanglose Dinge, wobei sich die Atmosphäre zwischen ihnen etwas gelockert hatte. Dann machten sie sich wieder an die Arbeit.
„Hört mal alle her: Ich habe eben mit einem Mann gesprochen, der offenbar unseren Toten kennt!“, rief Leo Schwartz, während er den Telefonhörer auflegte.
„Dann nichts wie los,“ sagte Frau Westenhuber mit einem Schokoriegel in der Hand. „Sie und ich, Schwartz!“
Die Fahrt nach Kastl bei Altötting verlief schweigend. Waltraud Westenhuber aß einen weiteren Schokoriegel und Leo wusste nicht, über was er mit der Frau reden sollte.
„Mein Gott! Überall sind diese dämlichen Rechts-vor-Links-Regelungen in diesen kleinen Käffern,“ stöhnte Waltraud Westenhuber genervt, als Leo den Wagen durch Kastl lenkte. „Warum kann man hier nicht einfach Vorfahrtsstraßen machen, wie in den Großstädten auch?“
„Kinder? Ältere Mitbürger? Daran schon mal gedacht? Außerdem gibt es in Dörfern nun mal keine Hauptstraßen. Ich liebe solche kleinen, idyllischen Orte, wo man aufeinander Rücksicht nimmt und sich noch kennt. Nur Geduld, Frau Kollegin,“ sagte Leo mit einem Lächeln, während er demonstrativ anhielt und die alte Dame mit der Gehhilfe über die Straße ließ, „vielleicht sind wir beide in wenigen Jahren schon genau so dran und sind für jede Rücksicht dankbar.“
„Du lieber Himmel! Sie sind einer dieser Weltverbesserer, die immer nur das Gute in allem sehen? Jetzt sagen Sie nur noch, dass sie die Natur lieben und alle möglichen Tiere sofort streicheln müssen, die Ihnen über den Weg laufen?“
Leo lachte nur, denn er fand sich und seine Einstellung völlig in Ordnung und würde niemals daran etwas ändern wollen, wobei er Frau Westenhuber bedauerte. Sie sah offenbar immer nur das Schlechte und ahnte überall Böses, während ihr die schönen Dinge des Lebens durch die Finger glitten, sie nichts damit zu tun haben wollte, von ihr sogar nicht einmal wahrgenommen wurden. Sie war ungeduldig, wirkte gehetzt und machte sich einen Spaß daraus, andere vor den Kopf zu stoßen und auflaufen zu lassen, während sie sich selbst die Chance nahm, sich mit wertvollen, interessanten Menschen auszutauschen. Das zumindest war Leos vorläufige Meinung von der neuen Kollegin und er hätte nicht übel Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen. In der momentanen Situation war dafür keine Zeit, aber er nahm sich vor, dies bei einem guten Glas Wein unbedingt irgendwann nachzuholen.
Sie fuhren an schmucken Einfamilienhäusern mit wunderschönen Vorgärten vorbei, bis sie schließlich ihr Ziel im Grenzweg 7 erreicht hatten. Sie standen vor einem Mehrfamilienhaus, das passend zur Umgebung gebaut wurde. Ein aufgeregter Mann Mitte 70 in Latzhose und Hut kam ihnen entgegen.
„Sind Sie von der Polizei? Max Schickl mein Name, ich habe Sie wegen dem Toten in der Zeitung angerufen,“ sagte er bemüht hochdeutsch mit einem tiefbayrischen Dialekt.
„Westenhuber, das ist mein Kollege Schwartz. Sie kennen den Toten?“
„Ja, ganz sicher. Das ist der Simon Rau, einer meiner Mieter. Ich habe ihn sofort erkannt. Mein Gott, was ist ihm denn zugestoßen?“
Herr Schickl war sehr aufgebracht und hielt den Akkuschrauber mit beiden Händen fest umklammert.
„An was arbeiten Sie denn?“ Leo warf einen Blick auf den Akkuschrauber, den er selbst gerne gehabt hätte und sich aber bislang nicht leistete – er kostete ein Vermögen. Er wollte die Situation entspannen, denn er hatte oft mit Menschen zu tun, die noch niemals mit der Polizei auch nur annähernd in Berührung gekommen waren. Für ihn war es selbstverständlich, das Gespräch mit dem aufgeregten alten Mann ruhig angehen zu lassen und ihn dadurch zu beruhigen.
„Ich repariere den Zaun da vorn an der Straße. Es gibt ja immer etwas zu tun, die Arbeit hört nicht auf.“
Was sollte das Geplänkel? Wen interessiert, was der Alte hier arbeitete? Welche Strategie verfolgt dieser Schwartz? Hoffte er so, an vertrauliche Informationen ranzukommen? Leo Schwartz und dieser alte Mann unterhielten sich noch einige Minuten, aber Waltraud Westenhuber ging das Geplauder fürchterlich auf die Nerven und kam auf den Kern der Sache zurück.
„Was können Sie uns über Herrn Rau sagen?“
„Ein sehr höflicher, freundlicher, ordentlicher und auch hilfsbereiter Mann, obwohl er mit seinen vielen Tätowierungen ziemlich wild aussah und sich die Nachbarn anfangs ganz schön erschreckt haben. Aber sie haben sich alle gut mit ihm verstanden. Er hat seine Miete immer pünktlich bezahlt und es gab nie Ärger mit ihm. Da habe ich schon ganz andere Dinge erlebt, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen…“
„Die interessieren uns nicht, wir sind nur wegen Herrn Rau hier,“ sagte Frau Westenhuber genervt. Was war los mit ihr? Leo ärgerte sich über die Frau, von der er eigentlich viel mehr Feingefühl erwartet hätte. Was war denn dabei, sich menschlich auf netter, ungezwungener Ebene mit dem Mann zu unterhalten?
„Der Simon hat mir günstig Brennholz besorgt, denn die Preise sind in den letzten Jahren dermaßen gestiegen, dass man sich das beinahe nicht mehr leisten kann. Außerdem ging er mir oft zur Hand, schließlich kann ich in meinem Alter nicht mehr alles alleine machen. Und wie gesagt, geht bei so einem Haus die Arbeit nie aus. Schon allein die Pflege des Gartens, des Grundstücks und dann auch noch die Hausmeisterarbeiten.“ Er sah den genervten Blick von Frau Westenhuber. „Der Simon war ein feiner Kerl und ich lasse nichts auf ihn kommen. Was ist ihm denn nun zugestoßen?“
„Wir können Ihnen leider lediglich mitteilen, dass er ermordet wurde. Details müssen wir aus ermittlungstechnischen Gründen noch zurückhalten.“
„Er wurde ermordet?“, rief er erschrocken und trat einen Schritt zurück. „Hier bei uns? Wer tut denn so was?“
„Um das herauszufinden, sind wir hier. Wo hatte Herr Rau gearbeitet?“
Leo mochte diesen alten Mann sofort, er erinnerte ihn an seinen Opa, der auch immer in diesen Latzhosen rumlief und immer irgendwo zu arbeiten hatte.
„Im Sägewerk Krug in Unterneukirchen. Er war ganz neu hier in der Gegend und hatte dort seine Arbeit gerade angefangen, als ich ihm vor einem halben Jahr die Wohnung hier vermietet habe. Das tut mir so leid mit dem Simon, ich kann das noch gar nicht glauben, so ein junger Mensch. Ich muss sofort meiner Ilse davon erzählen, die fällt aus allen Wolken.“
Leo machte sich eifrig Notizen, Frau Westenhuber tat nichts dergleichen.
„Haben Sie Zugang zu der Wohnung von Herrn Rau?“
„Selbstverständlich habe ich von allen 6 Wohnungen einen Schlüssel. Schon allein deshalb, falls sich mal jemand aussperrt, und das kommt öfters vor, als Sie denken. Sie können sich nicht vorstellen, was ein Schlüsseldienst in einer Notlage verlangt, das ist der reinste Wucher. Aber ich habe diese Schlüssel niemals gesetzwidrig eingesetzt und bin einfach in die Wohnungen reingegangen, das habe ich niemals gemacht, Ehrenwort.“
„Das glaube ich Ihnen sofort,“ sagte Frau Westenhuber sarkastisch, was der Zeuge Schickl zum Glück nicht zu bemerken schien, denn er ging ihnen voraus, wobei er immer noch den Akkuschrauber in einer Hand hielt. Sie folgten ihm.
„Das ganze Haus gehört Ihnen Herr Schickl?“
„Ja. Eine Geldanlage und auch Altersvorsorge. Meiner Frau und mir gehörte der Grund, als er Bauland wurde. Früher waren das hier alles Äcker und Wiesen. Können Sie sich das vorstellen? Davon ist jetzt nichts mehr zu sehen. Wegen dem Werk in Gendorf wurde Bauland gebraucht, die Arbeiter wollen ja schließlich auch irgendwo leben. Die Kastler Gemeindevertreter haben schnell reagiert und entsprechendes Bauland ausgewiesen, das günstig angeboten wurde. Aus unserem Kastl ist in den letzten 30 Jahren ein hübscher Ort geworden, früher standen hier nur wenige Häuser und es war hier nicht viel los. Aber jetzt haben wir schon weit über 2.000 Einwohner, dazu viele Vereine und Aktivitäten übers ganze Jahr verteilt.“ Max Schickl war sehr stolz auf Kastl und dessen Entwicklung. „Wir als Landwirte müssen später auch von etwas leben; mit dem bisschen Rente kommt man kaum über die Runden. Deshalb haben wir vor 12 Jahren das Haus hier auf unserem Grund gebaut und die Wohnungen vermietet. Unser Neffe hat uns dazu geraten, er arbeitet in Altötting bei der Bank. Wissen Sie, meine Frau und ich haben keine Kinder und er bekommt das später natürlich von uns, wenn wir nicht mehr sind. Nicht, dass Sie glauben, dass unser Neffe einer dieser Erbschleicher ist. Nein, er ist immer nur auf unser Wohl bedacht und besucht uns schon von klein auf regelmäßig, er ist ein guter Junge. Und er hatte absolut Recht mit dieser Geldanlage, von der wir nun in unserem Alter sehr gut leben können.“
Max Schickl sagte das nicht ohne einen gewissen Stolz und er konnte auch stolz darauf sein, denn solch ein Vorhaben war für ihn in seinem Alter bestimmt nicht leicht gewesen. Leo war schwer beeindruckt, denn die Verwaltung, Pflege und auch die Verantwortung waren nicht leicht für einen Mann Mitte 70. Waltraud Westenhuber sagte nichts dazu, ihr war das, was Herr Schickl von sich gab völlig egal, soweit es nicht ihren Fall betraf. Herr Schickl sperrte die Tür einer Wohnung im Erdgeschoss auf.
„Ich lasse Sie nun allein. Wenn Sie mich noch brauchen, finden Sie mich draußen am Zaun. Ich muss heute noch fertig werden, sonst schimpft meine Frau,“ sagte er mit einem Augenzwinkern.
Sie sahen sich in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung um und waren überrascht von der modernen Einrichtung und der Sauberkeit. Leo reichte seiner Kollegin ein paar Handschuhe, aber diese hatte ihre bereits übergezogen und machte sich an die erste Schublade im Wohnzimmerschrank.
„Ich habe nichts Besonderes gefunden, überlassen wir den Rest der Spurensicherung. Fuchs wird sich freuen,“ sagte Waltraud Westenhuber und Leo, der ebenfalls nichts gefunden hatte, stimmte ihr zu.
„Wissen Sie, was mich stutzig macht? Dieser Rau hatte alle möglichen technischen Geräte. Alles vom Feinsten, aber keinen Laptop oder Computer.“
„Vielleicht hatte er ihn dabei? Haben Sie Hinweise auf einen Wagen gefunden?“
„In einer Jackentasche habe ich einen Brief der Kfz-Versicherung gefunden. Ich habe eben mit Hans telefoniert, das Fahrzeug ist bereits in der Fahndung.“
„Ansonsten sind hier keine weiteren Unterlagen, ich habe keinen Aktenordner und nicht ein Schriftstück gefunden. Sie etwa?“
Frau Westenhuber schüttelte den Kopf. Auch ihr kam das alles hier viel zu sauber und ordentlich vor – die Sache stank und gefiel ihr überhaupt nicht. Sie versiegelten die Tür und suchten nach Herrn Schickl, der wahrscheinlich immer noch am Zaun arbeitete.
„Warten Sie Herr Schickl, ich helfe Ihnen,“ rief Leo, als er sah, dass der alte Mann ein schweres Brett alleine von einem Lieferwagen zog.
„Das ist aber wirklich nett von Ihnen,“ freute er sich. „Vielen Dank! Das Brett legen wir am besten einfach hier an die Seite.“
„Haben Sie den Wagen von Herrn Rau gesehen?“
„Normalerweise parkt er ihn direkt hier an der Straße, obwohl er eine Garage hat.“
„Eine Garage? Wo ist die?“, fragte Frau Westenhuber sofort, der das Gequatsche des alten Mannes allmählich zu viel wurde. Das war einer der Punkte, die sie am Landleben nicht mochte. Hier unterhielt man sich miteinander und interessierte sich für alles und jeden. Sie hingegen liebte die Anonymität der Großstadt und die Tatsache, dass sie niemanden kannte und sich auch niemand für sie interessierte.
„Gleich hier drüben, ich zeige sie Ihnen. Zu jeder Wohnung gehört eine Garage, darauf hat meine Frau sehr viel Wert gelegt, obwohl wir uns die Kosten auch hätten sparen können, denn gesetzlich wären wir dazu nicht verpflichtet gewesen. Aber meine Frau meint, Garagen gehören dazu. Und was soll ich sagen? Sie hatte natürlich wie immer Recht, denn meine Mieter sind sehr froh darüber. Hier sind wir schon, das ist die Garage vom Simon.“
„Lassen Sie mich raten: Auch hierfür haben Sie bestimmt einen Schlüssel, den Sie noch niemals benutzt haben?“ Frau Westenhuber war genervt. Herr Schickl antwortete nicht, sondern sah sie nur an und reichte ihr einen Schlüssel.
Leo sperrte auf und drehte an dem Knauf.
„Donnerwetter,“ rief Leo aus, „da hat Fuchs ja richtig viel zu tun.“
Die Garage war voller Kartons, bis unters Dach stapelten sich neuwertige Kartons in beinahe allen Größen.
„Was ist da drin?“, wollte Frau Westenhuber vom überraschten Herrn Schickl wissen.
„Das weiß ich doch nicht und das geht mich auch nichts an. Die Garage gehört zur Wohnung, was darin aufbewahrt wird, ist allein Sache des Mieters.“
„Kommen Sie schon, Sie wissen doch bestimmt, was da drin ist. In so einem kleinen Kaff wie Kastl weiß doch jeder alles von jedem. Und ich könnte mir vorstellen, dass Sie vielleicht schon den einen oder anderen Blick da reingeworfen haben,“ sagte sie mit einem sarkastischen Unterton.
„Hören Sie junge Frau,“ sagte Max Schickl nun aufgebracht, „ich habe die Polizei gerufen, weil ich den Toten in der Zeitung erkannt habe. Sie sind mir gegenüber von Anfang an feindselig eingestellt und glauben Sie ja nicht, dass ich Ihren unterschwelligen Ton nicht bemerke. Ich habe Ihnen nichts getan und verbitte mir, dass Sie in diesem Ton weiter mit mir sprechen und mir irgendetwas unterstellen wollen. Ich war niemals in Simons Wohnung ohne dessen Wissen und ich habe auch zu keiner Zeit einen Blick in seine Garage oder gar in die Kartons geworfen. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss mich wieder an die Arbeit machen.“
„Das ist ja ein Herzchen,“ sagte Frau Westenhuber nun deutlich freundlicher, „der ist vielleicht empfindlich, jetzt ist er auch noch beleidigt. Bin ich wirklich so schlimm, wie der Mann behauptet?“
„Noch viel schlimmer. Sie sind unfreundlich, patzig und haben einen Ton drauf, der einem die Arbeit wirklich nicht gerade erleichtert. Sie sind in Ihrer Art sehr direkt und ich glaube, dass Sie Spaß daran haben, andere vor den Kopf zu stoßen. Ich will nicht wissen, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist, denn ich finde Sie heute besonders unausstehlich. Können Sie denn nicht verstehen, wie sich dieser alte Mann fühlen muss? Er ist ein braver, unbescholtener, fleißiger und bestimmt auch rechtschaffener Mann, der durch die Situation völlig überfordert ist. Und Sie bombardieren ihn mit ihren Vorwürfen, reagieren genervt, sind unfreundlich und beleidigend. Ich verstehe Sie nicht und finde Sie echt unmöglich!“ Leo wollte sich eigentlich ihr gegenüber zurücknehmen, aber sie war heute besonders ätzend und er beschloss, ihr seine Meinung zu sagen, egal welche Konsequenzen er zu erwarten hätte. Anfangs fand er die Frau echt toll, aber seine Meinung hatte er inzwischen grundlegend geändert. Diese Frau Westenhuber war echt unmöglich.
„Ach was, das ist mir überhaupt nicht aufgefallen. In Zukunft möchte ich, dass Sie mich umgehend darauf hinweisen, verstanden?“
Jetzt musste Leo schmunzeln, denn diese Frau konnte offene Worte und Kritik wirklich sehr gut vertragen, das musste man ihr lassen. Er öffnete einen der Kartons und holte einige alte Zeitungen hervor, ansonsten war der Karton leer. Dann nahm er sich den nächsten, auch hier waren nur einige Zeitschriften enthalten.
„Was soll das?“ Leo öffnete weitere Kartons, und auch hier wieder das gleiche Spiel. „Warum zum Teufel sind in den Kartons nur ein paar Zeitungen drin?“
„Lassen Sie es gut sein Schwartz, das sind zu viele, denn das geht bis hinten durch, soweit ich das sehen kann. Überlassen wir das dem Fuchs, der wird sich freuen, wenn er sich da durchwühlen kann und vielleicht sogar herausbekommt, was Simon Rau damit bezwecken wollte.“
Auf dem Weg zum Wagen kamen sie an Herrn Schickl vorbei, der sie keines Blickes würdigte.
„Tut mir leid Herr Schickl, ich meinte das vorhin nicht persönlich. Das ist heute nicht mein Tag.“
„Passt scho!“, antwortete Herr Schickl, womit die Sache für ihn erledigt war.
Wenig später bogen die beiden auf das Firmengelände des Sägewerks Krug in Unterneukirchen ein. Es herrschte reges Treiben und sie mussten aufpassen, dass sie, nachdem sie den Wagen geparkt hatten und nun zu Fuß über das Gelände liefen, nicht vom Gabelstapler oder Transportern überfahren wurden. Sie betraten das Büro, wo sie von einer freundlichen Frau Mitte 40 empfangen wurden.
„Grüß Gott. Kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Name ist Westenhuber, das ist mein Kollege Schwartz, Kripo Mühldorf. Wir würden gerne den Geschäftsführer sprechen.“
„Das bin ich, Annemarie Krug mein Name, mir gehört das Sägewerk. Um was geht es?“
„Es geht um Ihren Mitarbeiter Simon Rau, wir haben ihn tot aufgefunden.“
„Der Simon ist tot?“ Sie war erschrocken. „Mein Gott, ich habe ihn heute bei der Arbeit vermisst und war stinksauer, denn wir haben Terminaufträge, die keinen Aufschub erlauben. Eigentlich ist der Simon immer pünktlich und zuverlässig. Ich dachte, er hat verschlafen oder macht einfach mal blau, aber wer rechnet denn damit?“
„Wir haben heute ein Foto des Toten in der Zeitung veröffentlicht, haben Sie ihn nicht erkannt?“
„Ich bin noch nicht dazugekommen, die Zeitung zu lesen, das mache ich immer mittags.“ Sie nahm die Zeitung von der Fensterbank, blätterte darin und starrte erschrocken auf das Foto. „Um Gottes Willen, wie sieht der denn aus? Was ist passiert?“
„Er wurde ermordet. Wir haben ihn in Burgkirchen aus der Alz gezogen.“
„Ermordet?“, schrie sich nun und setzte sich auf den alten Bürostuhl. Sie zitterte am ganzen Körper und Leo holte ihr aus der angrenzenden Küche ein Glas Wasser, das sie dankend annahm.
„Hatte er irgendwelche Feinde, gab es Ärger mit Kollegen oder Kunden?“
„Aber nein. Der Simon war immer freundlich, sehr fleißig, manchmal vielleicht etwas übereifrig. Aber Ärger hatte er nie. Er war immer ruhig und ausgeglichen, ging jedem Streit aus dem Weg. Wissen Sie, in unserer Branche geht es schon mal ein wenig ruppiger zu, aber der Simon war ein feiner Mensch, sehr gebildet und auch sehr gepflegt.“
„Was genau war seine Arbeit?“
„Hauptsächlich hat er mich hier im Büro unterstützt. Außerdem hat er Holzlieferungen angenommen und geprüft; das wollte er unbedingt machen. Er hat mich damals geradezu zu der Arbeit überredet, da er eine Forstausbildung hatte und sich mit Holz auskannte. Außerdem war er für die Auslieferungen zuständig. Er war sehr gut und auch gründlich in seiner Arbeit, wobei er immer persönlich alle Holzlieferungen an- und abgenommen hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit, das ließ er sich nicht nehmen. Der Simon ist seit knapp einem halben Jahr bei uns und hatte noch keinen Tag Urlaub. Er sprang sogar jederzeit für Kollegen ein, ohne zu murren. Immer wieder habe ich versucht, ihn dazu zu überreden, doch endlich Urlaub zu nehmen, was er aber stets abgelehnt hatte. Es ist eine Katastrophe für mich, dass der Simon tot ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr er mich entlastet hat. So einen Arbeiter bekomme ich nie wieder.“
Frau Krug weinte und kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche, das Ganze nahm sie sichtlich mit.
„Haben Sie je bei Herrn Rau einen Laptop, ein Handy oder dergleichen gesehen?“
„Er hatte ein Handy, das weiß ich ganz sicher. Ich habe mehrfach beobachtet, wie er telefoniert hat. Aber ob er einen Laptop hatte, weiß ich nicht.“
Bezüglich der vorgefundenen Kartons in Raus Garage wollten sie Frau Krug noch nicht befragen, denn schließlich kannten sie den Inhalt und Umfang selbst noch nicht.
„War Simon Rau mit irgendjemandem befreundet? Vielleicht sogar mit einem Ihrer Mitarbeiter? Hat ihn jemand hier besucht, abgeholt oder gab es irgendwelche privaten Telefonate?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich habe hier mit der Firma genug zu tun, private Dinge meiner Arbeiter interessieren mich nicht.“
„Hatte Herr Rau einen Spind?“
„Natürlich, wie alle hier, das ist Vorschrift. Kommen Sie mit.“
Sie nahm das Telefon mit und sie folgten ihr über den Hof in ein angrenzendes Gebäude, in dem neben verschiedenen Maschinen und Geräten auch der Aufenthaltsraum, ein Waschraum mit 2 Duschen und eine Umkleide untergebracht waren; alles sehr sauber, ordentlich und noch ziemlich neu.
„Bitte, der hier gehört dem Simon. Er ist nicht verschlossen, meine Jungs brauchen ihre Sachen nicht einzuschließen, hier kommt nichts weg.“
Frau Krugs Telefon klingelte und während sie sprach, durchsuchte Leo die wenigen Habseligkeiten in Raus Spind. Außer einer Jacke, ein paar Sicherheitsschuhen und einem Buch war nichts weiter darin. Leo klebte trotzdem ein Polizeisiegel auf die Tür, die Spurensicherung sollte sich den Spind ebenfalls vornehmen.
„Hatte Herr Rau einen Wagen?“
„Ja sicher. Aber der ist nicht hier auf dem Hof, Simon ist gestern damit nach Hause gefahren.“
„Wir hätten gerne die Personalakte von Herrn Rau. Und dann müssen wir uns natürlich mit Ihren Mitarbeitern unterhalten.“
„Es ist jetzt gleich Mittag. Wenn Sie wollen, können Sie hier im Aufenthaltsraum auf die Jungs warten, ich bringe Ihnen die Personalakte.“
Leo beobachtete, wie Frau Krug vor dem Büro mit einem ihrer Angestellten sprach.
Waltraud Westenhuber und Leo Schwartz mussten tatsächlich nicht lange warten, pünktlich um 12.00 Uhr kamen die fünf Mitarbeiter, die sie einen nach dem anderen befragten. Alle waren bestürzt über die Todesnachricht, aber keiner kannte Simon Rau näher oder hatte privat mit ihm zu tun.
„Der Simon war noch nicht lange bei uns, und er war ein Reingschmeckter,“ sagte Kurt Schmidt, der einen fürchterlichen Dialekt sprach und deshalb von Frau Westenhuber befragt wurde. „Der hat uns aber allen schon mal geholfen und eine Schicht übernommen, deshalb haben wir ihn akzeptiert und er gehörte schnell zu uns. Aber genauer gekannt habe ich ihn nicht, wir sind über das Geschäftliche nie drüber raus.“
„Herr Rau kam nicht von hier?“
„Nein, der hat sich zwar bemüht, bayrisch zu sprechen, aber an manchen Ausdrücken hat man gemerkt, dass der nicht von hier ist.“
„Haben Sie ihn nicht gefragt, woher er kommt? Was er vorher gemacht hat? Wie er lebt? Interessiert man sich nicht näher für Kollegen, mit denen man zusammenarbeitet?“
„Nein, warum auch? Es hat mich nicht interessiert. Beruflich sind wir gut zurechtgekommen. Der Simon hat eigentlich mehr im Büro gearbeitet, er verstand viel vom Papierkram, mit dem von uns keiner etwas zu tun haben möchte. Aber er war ein guter Kollege, der, wie gesagt, auch schon für mich eingesprungen ist. Aber privat hatte ich mit ihm nie etwas zu tun. Ich will Ihnen mal was erklären, Frau Kommissar: Wir arbeiten den ganzen Tag in einem Höllenlärm und dazu auch noch im Dreck, da ist man froh, wenn man zur Mittagspause seine Ruhe hat. Man isst, liest Zeitung oder legt sich auch mal hin, einen ruhigen Platz findet man hier schon irgendwo. Nehmen Sie meinen Kollegen den Sepp, wir kommen aus dem gleichen Ort und arbeiten auch noch zusammen. Trotzdem unterhalten wir uns nicht über irgendetwas Persönliches, es interessiert uns einfach nicht, auch wenn Sie sich das vor allem als Frau vielleicht nicht vorstellen können.“ Natürlich konnte sich Waltraud Westenhuber das vorstellen, denn sie interessierte sich auch nicht für die privaten Dinge ihrer Kollegen und vermied es, sich irgendwelchen Tratsch anzuhören. Trotzdem schnappt man doch das eine oder andere auf, ob man nun wollte, oder nicht. Aber hier war es doch eher so, dass sich jeder nur um sich selbst kümmerte; ob nun regional bedingt oder speziell in diesem Sägewerk.
Die Beamten ließen die Arbeiter in Ruhe, denn sie hatten sich ihre Mittagspause redlich verdient. Frau Krug hatte die Personalunterlagen noch nicht gebracht und deshalb gingen sie nochmals ins Büro, wo sie die Frau mit hochrotem Kopf bei der Manipulation der Personalakte Rau erwischten.
„Was zum Teufel machen Sie denn da? Sind Sie verrückt geworden?“ Frau Westenhuber war aufgebracht und entriss ihr die Akte.
„Ich wollte doch nur...“, stammelte sie.
„Was wollten Sie? Los, raus mit der Sprache. Und erzählen Sie ja keinen Blödsinn, ich will nur die reine Wahrheit hören, sonst nehme ich Sie umgehend fest und Sie werden mich von einer sehr unangenehmen Seite kennenlernen.“ Waltraud Westenhuber war stinksauer und die Drohung wirkte.
„Der Firma geht es nicht gut, die Osteuropäer machen mit ihren Preisen den Markt kaputt und wir müssen sparen, wo wir nur können. Was glauben Sie, was der Neubau drüben gekostet hat? Die Berufsgenossenschaft hat uns gezwungen, die Sozialräume zu bauen, sonst hätten die den Laden einfach zugemacht. Wo ich das Geld dafür hernehme, ist denen doch völlig egal. Und natürlich wird mir vorgeschrieben, dass ich meinen Leuten den Tariflohn bezahle, was ich aber nicht immer kann. Also haben wir die Arbeitsverträge ordnungsgemäß mit dem Tariflohn ausgestellt, bezahlt habe ich aber weniger. Alles habe ich bar bezahlt und meine Jungs haben quittiert. Die Sozialabgaben habe ich aber immer ordnungsgemäß abgeführt, das können Sie überprüfen.“ Sie sah hektisch von Traudl Westenhuber zu Leo Schwartz und schien auf eine Bestätigung oder irgendein Wort zu warten.
„Fahren Sie bitte fort, Frau Krug. Ganz ruhig, wir reißen Ihnen den Kopf schon nicht ab,“ sagte Leo mit einem Lächeln, worüber Frau Krug überaus dankbar war.
„Natürlich weiß ich, dass das nicht legal war und meine Leute schlechter bezahlt wurden, als ihnen zustand. Aber dafür durften die Jungs das Abschnittholz mitnehmen und als Brennholz weiterverkaufen, auch von dem angelieferten Brennholz, das von den Kunden nicht mitgenommen wurde, durften sie sich nehmen, so viel sie wollten. Natürlich ist das keine Entschuldigung und ich möchte mich auch nicht rausreden, aber meine Leute waren damit einverstanden und wir kamen prima über die Runden. Ich wollte doch nur die quittierten Auszahlungen an Simon korrigieren und dem Tariflohn anpassen, mehr nicht.“
„Wir sind hier doch nicht auf einem türkischen Basar, wo man einfach so bezahlen kann, wie man will. Hierfür gibt es Gesetze und Vorschriften, an die Sie sich zu halten haben,“ schnauzte Traudl Westenhuber. „Vor allem darf man nicht einfach so Unterlagen frisieren! Wo kommen wir denn da hin, wenn man sich alles so zurecht schneidert, wie es einem gerade passt.“
„Das weiß ich ja auch und es tut mir wirklich leid. Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, ich muss mit meinem kleinen Betrieb sehen, wo ich bleibe. Ich mache, was ich kann. Mein Mann hat mich vor zwei Jahren verlassen, bis dahin hatte ich mit der Firma nicht das Geringste zu tun, obwohl ich das Sägewerk von meinen Eltern geerbt hatte. Mein Mann hatte damals bei meinem Vater gelernt und als wir heirateten, war es klar, dass er die Führung des Betriebes übernimmt. Und vor zwei Jahren stand ich dann da: Allein mit einem Haus, das noch nicht abbezahlt ist und mit einer Firma, die nur wenig abwarf. Übrigens ein Zustand, an dem sich bis heute nicht viel geändert hat. Ich hatte keine Ahnung von der Firma und musste alles mühsam lernen. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich bis heute noch nicht viel von Holz und verlasse mich voll und ganz auf meine Mitarbeiter, die teilweise schon Jahrzehnte hier arbeiten, ohne sie wäre ich verloren oder hätte schon längst alles hingeschmissen. Als der Simon vor einem halben Jahr hier einfach auf der Matte stand und sich beworben hat, dachte ich, den schickt der Himmel. Er hat mir geduldig Nachhilfe in Büroarbeiten gegeben, da habe ich immer noch ganz schöne Defizite. Ich habe den Beruf nun mal nicht gelernt, ich bin gelernte Floristin und hatte noch nie viel für Büroarbeiten übrig.“
„Warum haben Sie den Betrieb nicht einfach verkauft?“
„Weil er zum einen nicht viel wert ist, und zum anderen habe ich eine Verantwortung meinen Mitarbeitern gegenüber. Was wird aus denen? Einige sind schon weit über Fünfzig, die stehen doch auf der Straße. Einer hat keinen Schulabschluss und ist auch nicht gerade der Hellste, aber er ist fleißig und zuverlässig; was wird aus ihm? Nein, zu verkaufen wäre zu einfach. Man übernimmt mit so einem Betrieb nicht nur die Möglichkeit, damit Geld zu verdienen. Man hat auch eine Verantwortung, der ich mich nicht entziehen kann und auch nicht möchte. Wissen Sie, ich möchte morgens in den Spiegel sehen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Natürlich würde ich meinen Leuten gerne zumindest den Tariflohn bezahlen, aber ich kann es nicht, sonst müsste ich Mitarbeiter entlassen und würde dann auch nicht mehr den Umsatz erzielen. Wer macht denn dann die Arbeit? Ich weiß, dass das mit den Arbeitsverträgen illegal ist, aber wir sind bis jetzt ganz gut damit gefahren und alle waren glücklich.“
Obwohl das Ganze tatsächlich illegal war und zur Anzeige gebracht werden musste, hatte Leo ein wenig Verständnis für sie und ihre Lage.
„Wir werden das prüfen,“ sagte Leo nur knapp und griff seiner Kollegin vor, die gerade Luft holte. Leo war sich sicher, dass sie gerade zu einer Standpauke ansetzen wollte, und das brachte jetzt auch nichts.
„Trotzdem werden wir die Akte mitnehmen. Gibt es bei Ihnen auf dem Firmengelände Überwachungskameras?“
„Nein. Wie gesagt, ist hier noch nie etwas wegekommen, wir leben auf dem Land und wir vertrauen einander. Früher hatten wir über Nacht einen Hund auf dem Gelände, aber der war so brav und ängstlich, der hätte niemandem etwas getan. Nach seinem Tod wollte ich mir keinen neuen mehr anschaffen, ich habe auch so schon genug Arbeit. Außerdem halte ich für die Lkw-Anlieferungen und auch für meine Männer das Firmengelände Tag und Nacht offen.“
„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Karte.“
„Sie haben sich von der Frau einfach um den Finger wickeln lassen. Wo gibt es denn so was, dass man vor unseren Augen die Personalakte frisiert? Glauben Sie wirklich, dass es der Firma nicht gut geht? Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn ich im Baumarkt ein Brett kaufe, kostet das ein Vermögen, bei Holz ist die Gewinnspanne enorm. Ich kenne diese Sorte Menschen, die den ganzen Tag über nur am Jammern sind und dabei jede Menge Geld scheffeln.“
Leo ließ sie reden, ging nicht darauf ein und hörte irgendwann auch nicht mehr zu. Er würde die Angaben von Frau Krug prüfen und war sich sicher, dass sie ihnen gegenüber ehrlich war. Was wussten sie als Beamte schon von den wirtschaftlichen Problemen von Unternehmen?
Die Mittagspause verbrachte Leo mit Hiebler allein, da Frau Westenhuber joggen war und Grössert etwas anderes vorhatte.
„Was ist eigentlich mit Werner los? Einerseits grinst er immer wieder vor sich hin, andererseits ist er völlig in Gedanken versunken,“ sagte Leo, als er in die fade Lasagne gabelte. „Mit dem stimmt doch etwas nicht.“
„Ist mir auch schon aufgefallen,“ sagte Hiebler mit vollem Mund, vor dem ein phantastisch duftendes Gulasch stand und er damit die deutlich bessere Wahl getroffen hatte. „Sollen wir mit ihm reden?“
„Nein. Der erzählt nicht viel von sich und würde es uns übel nehmen, wenn wir ihn darauf ansprechen.“
„Trotzdem interessiert es mich brennend, was ihn beschäftigt. Ich gebe ihm noch zwei Tage, dann werde ich mich an seine Fersen heften. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht rausbekomme, was mit ihm los ist.“ Hans Hiebler kannte seinen Kollegen Grössert schon viele Jahre und mochte ihn sehr. Er benahm sich anders als sonst. Hiebler machte sich Sorgen.
Frau Gutbrod saß nicht weit entfernt, ein dicker Kollege versperrte ihr zwar die Sicht, aber sie konnte die Unterhaltung klar und deutlich verfolgen. Sehr interessant, mit Werner Grössert war scheinbar etwas los und die Kollegen Schwartz und Hiebler interessierten sich dafür und machten sich Sorgen. Sie musste unbedingt helfen, denn Hans Hiebler war es zu verdanken, dass ihre Nichte Karin die letzten Wochen eisern Fahrstunden bekam und dadurch nicht nur vorsichtiger, sondern auch viel sicherer fuhr. Schon lange suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie sich bei Hans Hiebler für seine aufopfernde Hilfe revanchieren konnte. Und voilà: Hier bekam sie diese auf dem Silbertablett.
Sie aß auf und machte sich umgehend an die Arbeit, Grössert durfte sie fortan nicht mehr aus den Augen lassen! Sie würde binnen kürzester Zeit herausbekommen, was mit ihm los war und dann Hans Hiebler informieren.