Читать книгу GEFANGEN - Irene Dorfner - Страница 11
6.
ОглавлениеMichael Zeitler und Anna Ravelli fuhren zu dem Halter eines cremefarbenen Sportwagens. Das Auto stand nicht vor dem Einfamilienhaus am Rande Ulms, eventuell parkte es in der geschlossenen Garage.
Sie klingelten an der Tür und ein Mann Ende fünfzig öffnete ohne Gruß. Es war offensichtlich, dass er schlecht gelaunt war.
„Kriminalpolizei Ulm. Mein Name ist Zeitler, das ist meine Kollegin Ravelli. Sie sind Ingo Sax?“
„Steht auf meinem Klingelschild. Was wollen Sie? Eine Spende für den Polizeiball? Ich muss Sie enttäuschen, bei mir ist nichts zu holen. Ich bin seit Jahren berufsunfähig und bekomme eine staatliche Zuwendung, mit der ich mir keine Extratouren leisten kann.“ Sax war drauf und dran, einfach die Tür wieder zu schließen.
„Haben Sie nicht verstanden, dass wir von der Kriminalpolizei sind?“, blaffte ihn Zeitler an.
„Und wenn Sie der Kaiser von China wären, wäre mir das auch wurscht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und möchte meine Ruhe haben, das wird mir im Grundgesetz garantiert.“
„Gut, wie Sie wollen. Wir können uns auch auf dem Polizeipräsidium unterhalten, wobei Sie davon ausgehen können, dass das sehr lange dauern wird.“ Zeitler war kurz davor, die Geduld zu verlieren. Wann hatte es eigentlich damit angefangen, dass Bürger jeglichen Respekt vor der Polizei verloren hatten?
„Sie haben gewonnen. Was wollen Sie?“ Sax verschränkte die Arme vor der Brust und machte keine Anstalten, die Beamten ins Haus zu bitten.
„Sie wurden letzte Nacht geblitzt. Sie waren bei erlaubten fünfzig km/h dreiundzwanzig zu schnell. Das ist doch Ihr Fahrzeug?“ Zeitler zeigte ihm das Foto, das zugegebenermaßen bezüglich des Fahrers unscharf war. Aber das Kennzeichen war deutlich zu erkennen.
„Ja, das ist mein Wagen. Deshalb kommt die Kriminalpolizei persönlich zu mir? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Warum stellen Sie mir den Strafzettel nicht einfach per Post zu, wie sonst auch? Moment“, sagte Sax und besah sich das Foto genauer, „darauf bin ich ja überhaupt nicht zu erkennen. Der Fahrer bin nicht ich. Wissen Sie was? Schicken Sie mir das alles schriftlich zu, damit ich etwas in der Hand habe. Heutzutage geht nichts ohne Beweise. Alles Weitere wird mein Anwalt klären.“
„Wir möchten den Wagen sehen“, sagte Anna, die kurz davor war, zu explodieren.
„Dürfen Sie das überhaupt? Brauchen Sie dafür nicht irgendetwas Schriftliches? Ich glaube, ich sollte meinen Anwalt anrufen. Man muss sich als unbescholtener Bürger vor jeder Art von Beamtenwillkür schützen.“
„Gerne, wie Sie wollen. Rufen Sie Ihren Anwalt an und wir besorgen uns einen Beschluss, womit wir nicht nur Ihren Wagen, sondern auch Ihre Privaträume durchsuchen dürfen.“
Ingo Sax war erschrocken. Mit dieser heftigen Reaktion der Kriminalbeamten hatte er nicht gerechnet. Was war hier los? Hier ging es sicher nicht nur um die Geschwindigkeitsübertretung. Sax entschied, mit der Polizei zu kooperieren.
„Beruhigen Sie sich. Sie brauchen mir nicht gleich zu drohen, ich füge mich der Gewalt. Kommen Sie mit.“ Sax zog die Tür hinter sich zu und ging in den Garten des kleinen, alten Einfamilienhauses, das nicht Sax gehörte, sondern seiner Mutter, die ebenfalls hier gemeldet war. Der Weg führte nicht zur Garage, sondern ans Ende des Grundstückes, wo sie hinter einer hohen Hecke einen nagelneuen Carport vorfanden, in dem ein blitzsauberer Sportwagen stand. Sax kratzte sich verlegen am Kopf.
„Das ist mein Wagen.“
„Donnerwetter! Dass Sie sich den leisten können, grenzt an ein Wunder.“
„Meine Mutter bezahlt die Unterhaltskosten, sonst könnte ich mir den Spaß nicht leisten. Eine Freude braucht der Mensch, und meine ist mein Wagen.“
„Warum steht der Wagen hier und nicht in der Garage?“
„Wegen der Nachbarn. Was denken Sie, wie schnell das Neider auf den Plan ruft. Die Welt ist schlecht, das können Sie mir glauben.“
„Und Sie sind eine ganz ehrliche Haut“, lachte Anna sarkastisch.
„Natürlich bin ich ehrlich, das bin ich schon immer gewesen.“
„Dann stellen Sie das unter Beweis. Wer hat heute Nacht den Wagen gefahren?“
„Ich kann mich einfach nicht daran erinnern. Ich war mit einem Freund unterwegs und wir fuhren abwechselnd. Wenn einer von uns gemerkt hätte, dass wir geblitzt wurden, hätten wir sicher darüber gesprochen. Aber wir haben es nicht bemerkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wer von uns gefahren ist, ehrlich.“
„Name und Adresse Ihres Freundes?“
„Da muss ich passen, so gut kennen wir uns nicht.“
„Telefonnummer?“
„Sorry, die weiß ich nicht. Wir haben uns gestern erst kennengelernt und sind gemeinsam durch die Bars gezogen. Dabei haben wir selbstverständlich keinen Alkohol getrunken, ich schwöre.“
„Sie lernen einen Mann kennen und lassen ihn sofort mit Ihrem Wagen fahren? Sie verarschen uns doch!“
„Nein, das würde ich nie im Leben machen. Wenn Sie mich besser kennen würden, wüssten Sie, dass ich immer die Wahrheit sage.“ Ingo Sax lächelte Anna an, aber die ließ sich nicht beirren. Sie war davon überzeugt, dass der Mann log, sobald er den Mund aufmachte.
Zeitler sah sich um. Nicht nur im Garten, sondern auch außerhalb des Grundstücks.
„Sie fahren mit Ihrem Wagen hier raus? Ist das erlaubt?“ Zeitler wusste aus eigener Erfahrung, dass man solche Zufahrten genehmigen lassen musste, was sehr viel Zeit und Geld kostete.
Ingo Sax druckste herum.
„Es könnte sein, dass man das nicht darf. Aber ich störe niemanden und es hat sich bis heute auch keiner darüber beklagt. Bekomme ich jetzt Ärger oder haben Sie ein Einsehen mit einem armen, vom Leben gezeichneten Mann, der sich diesen kleinen Luxus gönnt, da er sonst nichts hat?“
Zeitler zögerte. Was hätte er davon, wenn er den Mann anzeigte? Anna dachte anders. Der Typ war vorhin sehr unhöflich gewesen und machte ihrer Auffassung nach eine falsche Angabe nach der anderen. Und jetzt, da man sein Geheimnis kannte, wurde er charmant und freundlich. Sie mochte solche Charaktere nicht und schmollte, da sie bemerkte, dass Zeitler nicht abgeneigt war, Gnade vor Recht walten zu lassen.
Dann ging ein Fenster im Erdgeschoss des Hauses auf und eine alte Frau streckte den Kopf heraus.
„Ingoooooo“, rief sie laut, „der Richard ist am Telefon. Er fragt, wann du gedenkst, zur Arbeit zu kommen.“
„Arbeit? Sagten Sie nicht, dass Sie keine Arbeit haben?“ Zeitler wurde wütend.
„Ich verdiene mir gelegentlich ein paar Mark dazu. Allerdings nur sehr selten, ich schwöre.“
Anna hatte genug gehört, sie suchte das Gespräch mit der alten Frau, die sich als Mutter von Ingo Sax vorstellte. Sie plauderte munter darauf los und hatte kein Problem damit, von ihrem fleißigen Sohn zu schwärmen, der ihr immer wieder teure Geschenke machte. Sie selbst hatte nur eine kleine Rente und war auf ihren Sohn angewiesen.
„Das gibt eine fette Anzeige“, sagte Anna wütend, als sie wieder zu Sax und Zeitler ging.
Sax wollte sich rechtfertigen, aber darauf hatten die beiden Kriminalbeamten keine Lust. Sollte er sich doch äußern, wenn ihm die betreffende Post ins Haus flatterte.
Die Verabschiedung fiel weniger freundlich aus, denn nun kam sich Zeitler so richtig verarscht vor, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Der nächste Weg führte sie ans andere Ende von Ulm. Der zitronengelbe Sportwagen stach sofort ins Auge, als sie in die Straße einbogen. Er parkte vor einem frisch renovierten, modernen Mehrfamilienhaus, das von einem gepflegten Grundstück umgeben war. Alles war sehr sauber, sogar die verschiedenen Mülltonnen hatten einen eigenen Unterstellplatz und standen ordentlich aufgereiht nebeneinander.
Anna klingelte bei Gerhard Urban.
„Ja bitte?“, tönte es aus der Gegensprechanlage.
„Kriminalpolizei!“, rief Zeitler nur und sofort summte der Türöffner.
Das Treppenhaus war sauber, hell und freundlich. Für Annas Begriffe alles viel zu steril, Zeitler interessierte sich nicht dafür. Ein Mann Anfang vierzig stand vor der Wohnungstür im zweiten Obergeschoss. Er begrüßte die Kriminalbeamten mit Handschlag und bat sie ohne weitere Erklärung in die Wohnung. Anna war überrascht, denn das kam nicht oft vor.
„Bitte setzen Sie sich“, sagte Gerhard Urban freundlich, als er sie ins Wohnzimmer führte.
Anna sah sich in dem riesigen, teuer eingerichteten Raum um. Hier sah es aus wie in einem Möbelhaus. Alles stand auf seinem angestammten Platz und nirgends war ein Staubkörnchen zu sehen. Ton in Ton wurde alles perfekt aufeinander abgestimmt, sogar Gerhard Urban passte in seinem hellen Anzug und dem rosafarbenen Hemd genau dazu. Anna mochte es nicht, wenn alles perfekt war, das war ihr suspekt. Oder war es nur der Ärger darüber, dass sie es nie auch nur annähernd so weit bringen würde? Abgesehen von der fehlenden Kohle sah es in ihrer Wohnung immer chaotisch aus, was auch an Stefan lag, der, wie sie selbst, alles herumliegen ließ.
Zeitler waren die Wohnverhältnisse anderer völlig egal. Er registrierte sie zwar, bewertete sie aber nicht.
„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches? Darf ich Ihnen einen Cappuccino anbieten, oder einen Espresso?“
„Nein, danke. Sie wurden heute Nacht mit überhöhter Geschwindigkeit geblitzt“, sagte Zeitler und legte Urban das Foto vor. „Das sind doch Sie und das ist Ihr Wagen?“
„Ja sicher. War ich so schnell unterwegs, dass dafür sogar die Kriminalpolizei kommen muss?“ Urban wirkte erschrocken, aber das war nur aufgesetzt. Die Kriminalbeamten spürten, dass sie es mit einem sehr selbstsicheren Menschen zu tun hatten, der sich im Griff hatte.
„Was haben Sie heute Nacht gemacht? Wo kamen Sie her und wo wollten Sie hin?“
Es entstand eine längere Pause, für Zeitlers Gefühl zu lange.
„Ich bin einfach nur durch die Gegend gefahren. Ohne Grund und ohne Ziel. Ich liebe die Nacht, in der alles entschleunigt ist. Wenn ich herumfahre, kann ich so richtig abschalten. Die einen gehen zum Wellness, andere machen Sport und ich fahre mit meinem Wagen durch die Nacht.“
„Allein?“
„Leider ja. Mir würde es auch besser gefallen, wenn ich jemanden an meiner Seite hätte, aber das ist mir momentan leider nicht vergönnt. Ich bin unglücklicher Single und stets auf der Suche nach dem großen Glück.“ Urban lächelte Anna an, was bei ihr einen Würgereiz verursachte. Gerhard Urban war einer der Typen, die sie überhaupt nicht leiden konnte.
„Die Wohnung gehört Ihnen?“, wollte Zeitler wissen. Er ahnte, dass die ein Vermögen gekostet hatte.
„Ja, sie gehört mir. Eine Erbschaft hat diese Anschaffung ermöglicht, da bin ich ehrlich. Ich möchte aber betonen, dass ich als Außendienst-Mitarbeiter einer Großhandelsfirma sehr erfolgreich bin. Wir vertreiben Rasentraktoren und Mähroboter der neuesten Generation.“ Urban stand auf und zog mehrere Prospekte aus seiner Aktentasche. „Bitteschön, nehmen Sie. Das sind die zuverlässigsten und wartungsfreundlichsten Geräte, die es momentan auf dem Markt gibt. Ich könnte Ihnen einen guten Preis machen.“
Anna hatte genug gehört und stand auf, wobei sie die Prospekte an sich nahm. Zeitler hatte kein Interesse. Er hatte keinen Garten und machte sich auch keine Gedanken darüber, wie andere ihre Grundstücke pflegten.
„Was meinen Sie, Chef?“, fragte Anna, als sie im Wagen saßen. „Ist Ihnen aufgefallen, dass Urban nicht einmal wissen wollte, mit welcher Geschwindigkeit er geblitzt wurde?“
„Ja, das ist mir aufgefallen. Ich mag beide Männer nicht. Der eine ist ein Betrüger und Sozialschmarotzer, der andere steht dem in meinen Augen in nichts nach. Nehmen wir beide auseinander und zerpflücken sie.“
„Bekommen Sie das genehmigt? Wir haben nur die Geschwindigkeitsüberschreitungen, die eigentlich im normalen Rahmen liegen.“
„Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Sie hören sich schon an wie Schwartz. Ich befürchte, dass seine Anwesenheit einen schlechten Einfluss auf Sie hat.“