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2.

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Leo Schwartz wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das ständige Läuten seines Handys versuchte er zu ignorieren, schließlich hatte er Urlaub und den hatte er sich redlich verdient. Seit dem letzten Fall war endlich Ruhe eingekehrt, wodurch er und seine Kollegen nicht nur aufgelaufene Überstunden, sondern auch den Resturlaub der letzten Jahre abbauen konnten. Leo hatte sich zuerst gemeldet und kam den anderen zuvor. Das war zwar nicht ganz fair, aber er war fix und fertig. Er freute sich auf die freien Tage, die er nur mit Schlafen, Lesen und ausgedehnten Spaziergängen verbringen wollte. Er zog die Bettdecke über den Kopf. Dieses verdammte Handy läutete fast ununterbrochen. Wütend sah er auf die Uhr: drei Uhr zweiundvierzig. Was sollte der Mist? Alle wussten, dass er Urlaub hatte. Dann stand er auf und suchte nach seinem Handy, das in der Küche neben der Spüle lag.

„Was?“, schrie er wütend.

„Komm sofort her, wir brauchen dich hier.“

„Christine? Was ist passiert?“ Leo hatte die Stimme sofort erkannt.

„Logisch bin ich es, hast du meine Nummer nicht erkannt?“

Sollte Leo zugeben, dass er nun auch eine Brille brauchte, da die Buchstaben und Zahlen immer kleiner wurden und seine Arme nicht mehr ausreichten, um alles entziffern zu können? Nein, das schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde ihn seine Freundin und frühere Ulmer Kollegin nicht um diese Uhrzeit anrufen. Die dreiundsechzigjährige Pathologin war im Ruhestand und die beiden sahen sich sporadisch, nachdem sie seit seiner Versetzung ins bayerische Mühldorf am Inn rund zweihundertfünfzig Kilometer trennten.

„Wann bist du hier?“ Für Christine war es keine Frage, ob Leo nach Ulm kommen würde, das stand für sie fest.

„Was ist passiert?“ Leo war hellwach.

„Ursula wurde verhaftet, sie sitzt in Stadelheim in U-Haft. Die Ulmer Kollegen und mein Bruder haben alles versucht, sie da rauszuholen, aber das ist nicht gelungen. Es wurde den Kollegen sogar verboten, sich in die Sache einzumischen. Dir wurde nichts verboten und nur du kannst ihr helfen.“

Christine klang verzweifelt. Leo kannte die Frau schon sehr lange und er hatte sie nur selten so reden hören.

„Willst du mir sagen, dass auch dein Bruder als Ulmer Polizeichef nichts tun kann?“

„Ja. Hast du mir nicht zugehört? Die arme Ursula sitzt hinter Gittern und uns sind die Hände gebunden. Du musst herkommen und ihr helfen. Hol sie da raus, Leo, und zwar so schnell wie möglich.“

„Was, zum Henker, hat Ursula angestellt?“

„Das weiß ich nicht, das weiß niemand. Uns ist lediglich bekannt, dass sie verhaftet wurde und in Stadelheim in U-Haft sitzt, mehr nicht.“

„Ihr kennt die Anklage nicht? Was sagt ihr Anwalt?“

„Es darf niemand zu ihr.“

„Bitte? Das ist gesetzwidrig, das geht nicht.“

„Das weiß ich auch. Mach dich auf den Weg, ich erwarte dich.“

Leo zog sich rasch an und rief seinen Kollegen Werner Grössert an, der als junger Familienvater über den nächtlichen Anruf nicht gerade erfreut war. Als Leo ihm erklärte, worum es ging, war der Ärger rasch verflogen. Auch der einundvierzigjährige Werner kannte Ursula Kußmaul und mochte sie.

„Ich rufe sofort meinen Vater an. Halt mich auf dem Laufenden.“

„Danke, Werner.“

Auch Werners Vater, der Mühldorfer Rechtsanwalt Doktor Wilhelm Grössert, war über den Anruf seines Sohnes erbost. Es dauerte sehr lange, bis er den Grund verstand.

„Du willst mir sagen, dass eine Kriminalbeamtin in U-Haft sitzt und niemand zu ihr darf? Noch nicht einmal ein Anwalt, auf den jeder Bürger ein Anrecht hat?“ Doktor Grössert war mit Leib und Seele Anwalt. Er hasste es, wenn Dinge nicht so abliefen, wie sie laufen sollten.

„Ja. Und niemand weiß, was ihr vorgeworfen wird, noch nicht einmal der Ulmer Polizeichef.“

„Das wollen wir doch mal sehen. Sie sitzt in Stadelheim?“

„Ja.“

„Ich kümmere mich darum und melde mich wieder bei dir. Grüße an deine Frau und meine reizende Enkeltochter.“

Leo fuhr durch die frische Augustnacht. Nach vielen Wochen waren die Temperaturen für Leo endlich wieder erträglich. Er mochte Hitze nicht, zumal er sich regelmäßig einen Sonnenbrand holte. Seit gestern hatte er Urlaub und gerade rechtzeitig hatte es angefangen, zu regnen. Dabei sanken die Temperaturen um über zehn Grad, was für ihn eine Wohltat war.

Es war nur wenig Verkehr und Leo kam rasch voran. Was hatte die verrückte Ursula Kußmaul angestellt? Sie war frech und ihr loses Mundwerk war gefürchtet, das wusste jeder. Aber sie war nicht boshaft und würde nie etwas Ungesetzliches machen, dafür liebte sie ihren Beruf als Polizistin viel zu sehr. Er hatte Ursula während seines letzten Falles in Ulm kennengelernt, bevor er strafversetzt und zurückgestuft wurde. Der Versetzung ging eine missglückte Falle voraus, was er als Leiter der Ulmer Mordkommission auf seine Kappe genommen hatte. Anfangs mochte er die laute, schrille und in seinen Augen verrückte Ursula Kußmaul nicht. Es dauerte nicht lange und er änderte seine Meinung, denn sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und er konnte sich voll und ganz auf sie verlassen. Der Gedanke, dass mit ihr etwas geschah, das er vielleicht auch nicht verhindern konnte, gefiel ihm nicht. Es musste etwas Gewichtiges vorgefallen sein, sonst hätte zumindest Zeitler als Ulmer Polizeichef seinen Einfluss geltend machen und sie da rausholen können. Und wenn ihm das nicht gelungen wäre, dann hätte er zumindest die Anklage längst auf dem Tisch.

Sonst freute sich Leo schon Tage vorher, wenn er wieder nach Ulm fahren konnte und Zeit mit Freunden und ehemaligen Kollegen verbringen konnte. Aber heute war es anders. Er registrierte kaum, dass er das Ortsschild Ulm hinter sich gebracht hatte, bei dem er sonst immer einen Freudenschrei ausstoß.

Kurz vor sieben Uhr war Leo vor Christines Haus angekommen. Noch bevor er klingelte, wurde die Tür geöffnet.

„Endlich bist du da“, sagte Christine erleichtert und drückte den zweiundfünfzigjährigen Freund an sich. „Komm rein, die anderen warten bereits.“

„Die anderen?“

„Denkst du, ich bin die einzige, die sich Sorgen macht? Selbstverständlich sind Anna, Stefan und mein Bruder auch hier. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns heimlich bei mir zu treffen. Eine Schande ist das!“

Leo betrat das Wohnzimmer. Dort saßen der Ulmer Polizeichef und Christines Bruder Michael Zeitler, die frühere Kollegin Anna Ravelli und Stefan Feldmann, Leiter der Ulmer Spurensicherung und Annas Lebenspartner. Die Begrüßung fiel heute sehr knapp aus, allen war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Die Stimmung war sehr gedrückt, sie machten sich Sorgen.

Leo ließ sich nochmals ausführlich die aktuelle Situation schildern, wobei er nichts Neues erfuhr.

„Die Staatsanwaltschaft hat der Polizei jegliche Einmischung und den Kontakt zu Ursula verboten?“

„Ja, das Innenministerium hat das abgesegnet. Und das ist es, was mir nicht gefällt. Ich zermartere mir das Hirn, was passiert sein könnte, komme aber auf keinen Nenner. Wir wissen alle, dass die Kollegin Kußmaul nicht gerade zurückhaltend ist, aber sie arbeitet immer korrekt.“ Michael Zeitler war am Ende. „Alle Stellen mauern. Offenbar wurde eine Informations- und Kontaktsperre verhängt, die ebenfalls direkt von der Staatsanwaltschaft Ulm kommen muss. Ich kenne den Oberstaatsanwalt Doktor Beilinger persönlich und habe ihn sofort angerufen, leider vergeblich. Er hat einen Termin in Frankreich und ist nicht zu sprechen, ich habe alles versucht.“

„Hat der Mann keine Vertretung?“

„Selbstverständlich. Ich habe mehrmals um ein persönliches Gespräch gebeten, wurde aber nur vertröstet. Man versprach mir, genauere Erkundigungen einzuziehen und sich wieder bei mir zu melden. Ich bin mir sicher, dass ich auf einen Rückruf ewig warten kann. In drei Tagen wird Doktor Beilinger zurückerwartet, dann knöpfe ich mir den Mann persönlich vor. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.“

„Wie kann ich helfen? Was habt ihr euch vorgestellt?“

„Uns sind die Hände gebunden, wir dürfen in der Sache nichts unternehmen. Man hat mir deutlich mitgeteilt, dass man der Ulmer Polizei auf die Finger schaut und jeden unserer Schritte beobachtet. Ich befürchte sogar, dass unsere Telefone abgehört werden.“

„Das glaube ich nicht, das kann ich mir nicht vorstellen“, rief Leo.

„Als ich die Anweisung bekam, konnte ich das auch nicht fassen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich das immer noch nicht glauben und werde wütend, wenn ich daran denke. Wir sollten diese Anweisung ernst nehmen. Wir müssen höllisch aufpassen, wenn wir uns unterhalten. Wir werden uns außerhalb des Polizeipräsidiums nur heimlich treffen können, was nur bei Christine möglich ist. Ich als ihr Bruder falle nicht auf, wenn ich meine Schwester besuche. Ich fahre meinen Wagen in die Garage und die Kollegen können erst dort aussteigen, so weit sind wir schon!“ Der Ärger war Zeitler anzumerken, er schäumte fast vor Wut. „Ich komme mir wie ein Schwerverbrecher vor, der sich vor der Polizei verstecken muss, dabei gehören wir selbst dazu. Wie krank ist das denn? Aber momentan bleibt uns nichts anderes übrig, als uns so zu verhalten, weshalb ich Christine bat, Sie anzurufen und um Hilfe zu bitten. Wir können nicht tätig werden, Sie aber schon. Wenn ich nur wüsste, in welchen Schlamassel die Kollegin Kußmaul geraten ist, was solch eine Reaktion verursacht.“

„Warum Stadelheim?“

„Keine Ahnung, das verstehen wir auch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat uns das ebenfalls nicht erklären können.“

„An welchem Fall arbeitet Ursula momentan?“

„Ich habe alle Fälle der letzten Jahre zusammengepackt und mitgebracht. Der Chef hat dafür gesorgt, dass niemand davon erfährt.“ Anna Ravelli zeigte auf einen Stapel Unterlagen, die auf der Anrichte lagen. Leo kamen diese bekannt vor. Die Farben und die Art der Einbände hatte er vor Jahren selbst eingeführt.

„Gut, die Unterlagen nehmen wir uns gleich vor. Wann habt ihr Ursula zuletzt gesehen?“

„Wir haben gestern einen Mordfall abgeschlossen, der wie im Lehrbuch ablief. Ein Mord aus Eifersucht, der Täter war geständig. Nach dem gestrigen Verhör haben wir den Schriftkram erledigt, gegen dreiundzwanzig Uhr war Feierabend. Ursula wollte noch auf eine Party, dort blieb sie bis kurz nach zwei. Sie hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass man sie verhaftet hat. Das Gespräch brach abrupt ab. Sie bat mich, den Chef zu informieren, was ich natürlich sofort gemacht habe.“

„Ich habe meine Kontakte spielen lassen und habe nach Stunden lediglich die Information bekommen, dass sie nach Stadelheim gebracht wurde und in U-Haft sitzt. Den Rest wissen Sie bereits.“

„Was schlagt ihr vor?“

„Die Party fand in der Goethestraße statt. Ursula ist direkt vom Polizeipräsidium aus dort hingefahren und blieb bis kurz nach zwei, das bestätigen die Handydaten und die Gespräche mit einigen Partygästen. Nach zwei Uhr war Ursulas Handy hier, hier und hier eingeloggt, woraus wir schließen können, dass sie direkt nach Hause wollte.“ Stefan Feldmann zeigte auf der Karte die markanten Punkte. „Sie fuhr auf der Neuen Straße. Zwischen Gänslände und Gideon-Bacher-Straße wurde das letzte Signal aufgenommen, danach nicht mehr. Der Anruf an Anna kam von hier. Vermutlich wurde ihr Handy dann ausgeschaltet.“

„Du meinst, dort muss sie verhaftet worden sein?“

„Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, wo ihr Handy zuletzt eingeloggt war.“

„Sonst noch etwas? Wenn nicht, fahre ich jetzt in die JVA Stadelheim und spreche mit Ursula.“

„Denken Sie, dass das so einfach geht? Die lassen niemanden zu ihr, vor allem keine Polizisten. Wenn selbst die Familie und ein Anwalt nicht zugelassen werden, dann stehen Ihre Chancen, mit ihr zu sprechen, denkbar schlecht.“ Zeitler schüttelte enttäuscht den Kopf. Hatte der Mann nicht zugehört?

„Warum sollten sie mich nicht zu ihr lassen? Ich arbeite nicht mehr bei der Kripo Ulm.“

„Trotzdem bist du ein Polizist, dein Name ist doch bekannt.“ Auch Christine war über die naive Art ihres Freundes enttäuscht.

„Sie hätten sich früher nicht so viele Eskapaden leisten dürfen, der vermeintliche Ruhm ist jetzt die Quittung dafür“, brummte Zeitler. „Wir haben Sie kontaktiert, damit Sie so diskret wie möglich die Ermittlungen aufnehmen. Es steht außer Frage, dass wir Sie darin tatkräftig unterstützen. Dabei müssen wir selbstverständlich sehr vorsichtig vorgehen. Und damit meine ich vor allem Sie, Schwartz. Sie haben mich früher den letzten Nerv gekostet und ich hoffe, dass Ihnen die bayerischen Kollegen wenigstens etwas die Flügel stutzen konnten. Scherz beiseite. Wenn von Seiten der Justiz so gemauert wird, ist die Sache mit der Kollegin Kußmaul sehr heikel. Ich finde Ihren Vorschlag, mit ihr zu sprechen zu wollen, unter den gegebenen Umständen äußerst dämlich. Dadurch erfährt man doch sofort, dass Sie in die Sache involviert sind und geraten auch auf die Liste derer, die für den Schlamassel verantwortlich sind. Ich vermute, dass an der Sache sehr viel mehr dran ist, wir müssen vorsichtig sein.“

„Gut, dann kein Gespräch mit Ursula. Ich verspreche, dass ich es nicht versuchen werde. Warten wir ab, was der Anwalt erreicht, den ich engagiert habe. Doktor Grössert ist ein harter Hund. Außerdem hat er sehr gute Beziehungen. Ich bin mir sicher, dass er etwas herausfinden wird.“

„Ich verlasse mich auf Sie. Wenn Sie sich nicht daran halten, garantiere ich für nichts. Wir dürfen Frau Kußmaul nicht gefährden. Ich schlage vor, dass wir private Handynummern austauschen und nur darüber kommunizieren. Verfügen alle über ein solches?“

„Ich habe nur ein Diensthandy“, sagte Stefan, der kein Freund der ständigen Erreichbarkeit war. Zeitler griff in die Tasche und übergab ihm ein Smartphone und die dazugehörige Nummer. Alle tauschten die Nummern aus.

„Nur Gespräche und Informationen ausschließlich über diese Nummern. Treffen und Gespräche den Fall betreffend nur unter strengster Geheimhaltung. Außerdem versteht es sich von selbst, dass außer uns niemand eingeweiht wird. Die Sache mit dem Anwalt lasse ich gerade noch durchgehen“, Zeitler sah Leo strafend an. „Wir müssen nach außen den Eindruck erwecken, dass wir uns alle an die Anweisungen halten und uns nicht um die Kollegin Kußmaul kümmern.“

„Ist diese ganze Geheimhaltung nicht völlig übertrieben?“, sagte Leo, woraufhin ihn alle anstarrten.

„Mag sein, dass das so ist. Solange wir nicht wissen, wo Ursula ist und was ihr vorgeworfen wird, werden wir alles tun, was von uns verlangt wird. Hast du verstanden?“ Christine sprach ruhig und sah Leo dabei an.

„Alles klar, ich habe verstanden. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Eine Frage habe ich noch: Von wem bekamen Sie Ihre Informationen, Herr Zeitler?“

„Direkt aus der Staatsanwaltschaft vom Stellvertreter Beilingers. Der Name ist Natascha Enzinger.“

„Kennen Sie die Frau?“

„Nicht persönlich. Wenn ich mit der Staatsanwaltschaft zu tun habe, wende ich mich direkt an Doktor Beilinger. Ich werde mich weiter um einen Termin bei Frau Enzinger bemühen. Wenn ich der Frau auf die Nerven gehe, macht sie vielleicht Druck.“

Ursulas Entführer waren nach einer schier endlos langen Fahrt offenbar an ihrem Ziel angekommen, denn der Wagen stoppte und sie hörte zwei Türen zuknallen. Dann wurde eine Tür geöffnet. Die frische Luft strömte bis zu ihr. Ursulas Glieder schmerzten und sie war am Ende. Endlich wurde ihr die Augenbinde abgenommen, als einer der Männer sie unsanft aus dem Wagen zerrte. Ihre Augen reagierten empfindlich auf den Sonnenaufgang. Sie musste sich jetzt zusammenreißen und sich jedes noch so kleine Detail merken. Die Männer trugen abermals Masken, unterschieden sich aber in Statur und Körperhaltung. Der eine war ziemlich groß und hielt sich aufrecht, der andere war klein und leger, auch die Kleidung. Den Lieferwagen sah sie nur aus dem Augenwinkel. Er war dunkel, ein neueres Modell. Mehr konnte sie nicht erkennen. Der kleinere Mann packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie wurde in ein Haus gebracht, das sie noch niemals vorher gesehen hatte. Es ähnelte einem Bauernhaus, zumindest war vor dem Haus eine Art Trog und ein verwilderter Gemüsegarten, der mit einem defekten Holzzaun umgeben war. Sie befand sich auf dem Land, um sie herum waren nur Felder und Wiesen. Die Gegend sagte ihr nichts. Das waren zu wenige Informationen. Sie drehte den Kopf und wollte das Nummernschild des Wagens lesen, wurde aber von dem zweiten Mann daran gehindert.

„Vergiss es“, zischte der, gab ihr einen heftigen Stoß und versperrte ihr die Sicht.

„Musst du so grob sein?“, murmelte der andere, der das Verhalten völlig überzogen fand. Ursula verlor das Gleichgewicht und er konnte sie gerade noch festhalten, sonst wäre sie vorn über gefallen.

„Halts Maul, das geht dich nichts an“, erwiderte der andere.

Das Zimmer, in das Ursula gebracht wurde, war schlicht und einfach eingerichtet. Sie fuhr mit dem Finger über den Tisch, den eine dicke Staubschicht bedeckte. Sie sah den größeren der beiden Männer an, der nicht darauf reagierte. Die Tür wurde geschlossen. Noch bevor sie sich umsehen konnte, ging die Tür wieder auf. Der Größere, vermutlich der Anführer, warf einen Schlafsack auf das Bett und zwei Handtücher auf den Tisch. Dann ging er wieder.

Jetzt war sie allein. Sie öffnete das kleine Fenster und sog die frische Luft tief ein. Ursula hatte freie Sicht auf ein Kornfeld, das sich leicht im Wind hin und her bewegte. Das Wetter würde heute nach zwei Regentagen wieder phantastisch werden, aber das tröstete sie nicht im Geringsten über ihre momentane Situation hinweg. Sie war völlig durcheinander und musste sich sammeln. Das Bett mit der schmutzigen Matratze sah zwar nicht sehr einladend aus, aber in ihrer jetzigen Situation mutete es himmlisch an. Der Schlafsack war neu, daran hing noch das Preisschild eines Ulmer Sportgeschäftes. Knapp hundert Euro hatte der Schlafsack gekostet. Ursula war erstaunt, dass man hier nicht gespart hatte. Sie öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks und breitete ihn auf der Matratze aus. Eines der Handtücher rollte sie zusammen, das musste als Kopfkissen reichen. Sie musste dringend aus den Schuhen raus, in denen sie schon viel zu lange steckte. Durch einen Unfall war sie auf orthopädische Schuhe angewiesen, in denen ihre Füße festen Halt fanden. Der kurze Moment der Erleichterung, als ihre Füße endlich frei waren, war rasch verflogen. Die Tür ging auf und einer ihrer Bewacher, der große, brachte Wasser, Brot und Käse, wobei er immer noch eine Maske trug. Wortlos stellte er das Tablett auf den kleinen Tisch am Fenster. Das war der, der sie geschubst hatte, er war ganz sicher der Anführer. Vor ihm musste sie sich in Acht nehmen.

„Ich muss auf die Toilette“, murrte sie, wobei sie sich zwingen musste, nicht auf das Tablett zu starren. Sie hatte keinen Hunger, aber großen Durst.

Der Mann deutete stumm auf die Tür neben dem Schrank und ging wieder. Ursula hörte den Schlüssel im Schloss. Sie stand auf und ging zu der ihr gezeigten Tür, vielleicht gab es aus diesem Raum eine Möglichkeit zu fliehen. Aber sie wurde enttäuscht. Der fensterlose Raum war sehr klein und beinhaltete nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken. Sie ging zurück, trank gierig fast die halbe Flasche Wasser und legte sich aufs Bett. Die Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was sollte das alles?

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