Читать книгу GEFANGEN - Irene Dorfner - Страница 6

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Ursula Kußmaul hatte die Party verlassen, sie langweilte sich zu Tode. Nur oberflächliches Geplänkel und Dummköpfe mit Profilierungsneurosen, mit denen sie sich gerne gestritten hätte, es aus Rücksicht auf die Gastgeberin aber unterließ. Mit Alkohol wäre das alles vielleicht noch erträglich gewesen - aber ohne? Sie würde gerne ein Glas trinken, aber sie war müde, außerdem musste sie noch fahren. Nachdem Ursula wieder und wieder durch den riesigen Raum gegangen war und nach einem halbwegs normalen Gesprächspartner gesucht hatte, gab sie entnervt auf. Nein, das würde heute nichts mehr werden. Ob es an ihr selbst lag? Es mag möglich sein, dass sie heute schlecht drauf war. Vielleicht war der Tag für sie gelaufen und es war mühselig, sich hier auf Biegen und Brechen amüsieren zu müssen. Sie hatte genug und wollte einfach nur nach Hause.

Ursula suchte nach ihrer Freundin Dagmar, um sich von ihr zu verabschieden. Dagmar schmiss die Party anlässlich ihres vierzigsten Geburtstages, auch wenn die Dekoration eher einem Kindergeburtstag glich, was durch die schrecklich laute Schlagermusik unterstrichen wurde. Wie oft „Atemlos“ lief, konnte Ursula schon nicht mehr zählen. Was fanden alle nur an dem Song, dem sie überall ausgesetzt war?

Dagmar war bester Laune. Sie lachte und schien sich mit den Leuten um sich herum blendend zu unterhalten, was bei dem Lärm schier unmöglich war. Ursula brauchte lange, bis Dagmar endlich verstand. Sie reagierte enttäuscht, was zu erwarten war. Klar versuchte sie, Ursula zum Bleiben zu überreden, aber die blieb stur. Nachdem Dagmar wegen der lauten Musik fast ununterbrochen auf sie einschrie, drehte sich Ursula irgendwann um und ging einfach.

Draußen sog sie die frische Luft der Augustnacht ein, was nach dem heißen Tag und der stickigen Luft im Inneren des Partyraumes eine Wohltat war.

Die Fahrt quer durch Ulm war sehr angenehm, es war kaum Verkehr. Sie lehnte sich zurück und lauschte der ruhigen Musik im Radio, was nach dem fürchterlichen Krach für ihre Ohren wie eine Wellnesskur war. Der heutige Tag war stressig gewesen, auch wenn er perfekt gelaufen war. Die Vernehmung des Täters war reine Routine, der Mann hatte ohne Punkt und Komma geplappert; und zwar viel mehr, als nötig gewesen wäre. Auf die ausführlichen Beschreibungen der Gespräche zwischen Täter und Opfer, die nicht unmittelbar mit der Tat zu tun hatten, hätte sie gerne verzichten können. Trotzdem lief alles wie am Schnürchen. Zum Glück hatte sie Dagmars Geburtstagsparty hinter sich gebracht. Jetzt freute sie sich auf ein Gläschen Sekt und ein paar Pralinen, die im Kühlschrank auf sie warteten.

Sie fuhr auf der Neuen Straße. Schon von Weitem sah sie einen Wagen, der mit weit offenstehenden Türen schräg rechts neben der Fahrbahn stand. Davor stand noch ein Wagen, der ähnlich schief stand und an dem ebenfalls die Türen geöffnet waren. Was sollte das? Auch wenn um diese Uhrzeit nicht viel Verkehr war, war es nicht hinnehmbar, dass hier so chaotisch geparkt wurde. Früher war sie nicht so streng, aber je länger sie ihren Job bei der Polizei ausübte, desto pedantischer wurde sie. Oder lag es einfach nur daran, dass sie schon lange keinen Urlaub mehr gehabt hatte?

Ursula verminderte das Tempo und kam langsam näher. Sie entschied, sich das näher anzusehen und dafür zu sorgen, dass die Fahrzeuge weiterfuhren. Plötzlich tauchte eine Frau auf der Fahrbahn auf und sprang ihr vor den Wagen. Ursula bremste scharf und registrierte erleichtert, dass der Frau offenbar nichts passiert war, denn sie lief einfach weiter. Die Frau versuchte, über die Fahrbahn zu rennen. Konnte es sein, dass sie barfuß war? Was, zum Teufel, war hier los? War das eine Beziehungsgeschichte, wie sie viel zu oft vorkam? Irgendetwas sagte ihr, dass das hier etwas anderes war. Aber was?

Sie stellte ihren Wagen ab, stieg aus, schaltete die Warnblinkanlage ein und ging auf die beiden Fahrzeuge zu.

Bei dem einen handelte es sich um einen schwarzen Geländewagen, der andere war ein gelber Sportwagen, der sicher ein Vermögen gekostet hatte. Noch bevor sie sich die Kennzeichen näher ansehen konnte, stand plötzlich ein Mann vor ihr und versperrte ihr den Weg. Sie beobachtete im Augenwinkel, wie die flüchtende Frau auf der Gegenfahrbahn von zwei Männern eingefangen und gegen ihren Willen in den gelben Sportwagen gesetzt wurde.

Die ganze Situation war unwirklich und Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Vermutete sie richtig? Wurde hier eine Frau mit Gewalt festgehalten? Mitten in Ulm? Sie sammelte all ihren Mut zusammen und zog ihren Ausweis aus der Tasche, den sie dem riesigen Kerl vorhielt.

„Kriminalpolizei. Ihre Ausweispapiere bitte.“

Der Riese grinste sie nur an. Dann trat ein anderer an ihre Seite, während der dritte Mann telefonierte. Der Typ sprach nicht laut. Aber wie er sprach, klang überhaupt nicht gut. Der Mann war sicher der Fahrer des Sportwagens, denn rein optisch passte er mit dem dunklen, sportlichen Anzug und der Brille auf dem pomadigen Haar genau dazu.

„Ihre Ausweispapiere, und zwar von allen, wenn ich bitten darf“, wiederholte Ursula laut und versuchte, selbstbewusst aufzutreten.

Aber die Männer lachten nur. Nun kam der Sportwagen-Fuzzi ebenfalls hinzu. Er sah sie nur an, was ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Warum hatte sie überhaupt angehalten? Ihr Chef hatte verboten, irgendwelche Aktionen allein durchzuziehen, zumal sie nicht einmal bewaffnet war. Ihre Waffe lag verschlossen in ihrem Schreibtisch, schließlich konnte sie damit nicht auf der Party auftauchen.

Dann hielt ein Wagen neben ihr. Gott sei Dank – die Polizei! Ursula erkannte die Zivilfahrzeuge der Polizei sofort. Erleichtert versuchte sie, den Kollegen die Situation zu erklären, aber die interessierte das nicht. Sie wurde gepackt und unsanft in den Fond des Wagens gesetzt. Was sollte das? Während beide Kollegen mit dem Sportwagen-Typen sprachen, kramte sie hektisch in ihrer Tasche und suchte nach ihrem Handy. Warum war immer so viel Zeug in ihrer Tasche? Endlich hatte sie das Handy gefunden und wählte die Nummer ihrer Kollegin. Anna ging nach dem ersten Klingeln ran. Ursula konnte ihr gerade noch mitteilen, dass sie offensichtlich verhaftet wurde und dass sie den Chef informieren soll. Dann wurde die Wagentür aufgerissen und einer der Polizisten, der jetzt, wie sein Kollege auch, eine Maske trug, nahm ihr das Handy und die Tasche ab. Als wäre das nicht schon genug, bekam sie auch noch Handschellen und eine Augenbinde verpasst. Das geschah alles so schnell, dass Ursula kaum reagieren konnte. Und dann ging es auch schon los. Der Fahrer drückte aufs Gas.

„Könnt ihr mir erklären, was das soll? Ich verlange auf der Stelle mein Handy zurück. Ich arbeite bei der Ulmer Kriminalpolizei und kann euch so richtig Ärger machen. Glaubt mir, ihr werdet das noch bitter bereuen! Ihr stoppt sofort den Wagen und lasst mich raus!“ Ursula redete und redete, aber beide Männer sagten kein Wort. Sie versuchte es mit Provokationen und Beleidigungen, aber auch das funktionierte nicht. „Könnt ihr mich wenigstens von den Handschellen befreien? Die Dinger schmerzen, ich kann mich kaum bewegen.“ Das entsprach der Tatsache, aber auch hierauf reagierten die Männer nicht. Ursula gab nicht auf. Sie redete unvermittelt weiter, was den Männern immer mehr auf die Nerven ging. Wie lange würde sie brauchen, bis einer der beiden austickte? Und warum trugen die beiden Masken, obwohl sie sie vorhin ohne gesehen hatte? Sie zwang sich dazu, sich jedes Detail der beiden einzuprägen, um sie später identifizieren zu können. Die würden ihr blaues Wunder erleben, wenn sie wieder frei war und sich alles auflöste. Hatten die Männer nicht verstanden, dass sie von der Polizei war?

Nach über einer Stunde Fahrt stoppte der Wagen. Einer der Männer zog sie vom Sitz und schob sie unsanft auf einen harten Untergrund. Dann hörte sie, wie Türen geschlossen wurden. Das war das Heck eines Lieferwagens, ganz sicher. Das Geräusch des Motors, der gestartet wurde, passte genau dazu. Was sollte der Mist? Wo waren sie? Sie konnte wegen der Augenbinde nichts sehen, konnte aber deutlichen Verkehrslärm hören. Sie mussten sich in der Nähe einer vielbefahrenen Straße aufhalten. Wo genau, konnte sie nicht erahnen. Der Lieferwagen fuhr los und sie saß einsam auf dem nackten Boden eines Lieferwagens. Anfangs wurde sie unsanft hin und her geschleudert, dann ging es zum Glück nur noch geradeaus. Ursula bekam es mit der Angst zu tun. Der Wagen auf der Neuen Straße war eindeutig ein Zivilfahrzeug der Polizei – oder irrte sie sich? Waren die beiden Männer keine Polizisten? Waren das Mädchenhändler und sie war in deren Fänge geraten? Warum hatte sie angehalten und nicht Verstärkung gerufen, wie es Vorschrift gewesen wäre? Sie schrie und weinte, schließlich weinte sie nur noch. Die Fahrt ging unvermittelt weiter.

Der Wagen verminderte seine Geschwindigkeit und bog ab, wodurch Ursula erneut unsanft gegen die Wand geschleudert wurde. Wie lange waren sie unterwegs gewesen? Eine halbe Stunde? Zwei Stunden? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dann hielt der Wagen an und nichts geschah. Was war los? Ursula hörte, wie ein Mann telefonierte, und rückte näher, um irgendein Wort aufschnappen zu können. War das einer ihrer Entführer?

„Wir sind kurz vor unserem Ziel. Wir sind…“

„Ich möchte das überhaupt nicht wissen.“

„Wie du willst.“

„Hat euch jemand gesehen? Gab es Komplikationen?“

„Nein. Alles lief nach Plan.“

„Passt gut auf die Frau auf, damit sie keinen Unfug anstellen kann.“

„Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Die Frau ist eine Kollegin. Wir können sie nicht einfach festhalten.“

„Das weiß ich auch! Trotzdem hat sie nicht nur die Fahrzeuge, sondern auch die Männer gesehen. Polizisten haben ein geschultes Auge für Details. Wir müssen verhindern, dass sie plaudert. Und das geht nur, wenn sie aus dem Weg ist.“

„Kannst du mir nicht sagen, worum es geht?“

„Nein, du musst mir vertrauen. Du vertraust mir doch, oder?“

„Selbstverständlich. Du weißt, was du tust.“

„Ich danke dir. In zwei Tagen ist alles über die Bühne und die Gefahr ist vorbei. Dann setzt sie irgendwo in der Pampa aus. Habt ihr darauf geachtet, dass sie euch nicht erkannt hat?“

„Sicher, wir sind keine Anfänger. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen bei der Sache. Sie arbeitet bei der Kripo und wird vermisst werden.“

„Lass das mal meine Sorge sein. Ich streue das Gerücht, dass sie in Stadelheim einsitzt. Das wird diejenigen beschäftigen, die nach ihr suchen. Außerdem werde ich die Ulmer Kripo an die kurze Leine legen.“

„Gut. In zwei Tagen melde ich mich wieder.“ Der kurze Moment, in denen die Kollegin ihre Gesichter gesehen hatte, war nicht wichtig. Um eine Beschreibung abgeben zu können, war es zu dunkel gewesen, außerdem ging alles sehr schnell. Und dass die Kollegin telefoniert hat, verschwieg er auch. Was hatte die Frau in der kurzen Zeit schon groß weitergeben können?

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