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3.

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Mit dem Einverständnis von Alfred Winzl sah sich Krohmer in Jacobs Zimmer um. Es war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, aber es war sehr geschmackvoll mit teuren Möbeln und üppigen Gardinen, die fast den ganzen Raum beherrschten, eingerichtet. Das Bett war gemacht, es war nicht eine Falte zu sehen. Das war das Zimmer eines 28-jährigen Studenten? Der Kleiderschrank war ordentlich, darin befand sich nur Markenkleidung, deren Wert bestimmt Krohmers ganzes Jahresgehalt verschlingen würde. Auf dem Nachttisch lag ein Buch von Goethe, das relativ neu war. Krohmer blätterte darin und stellte fest, dass sich weder ein Einmerker, noch eine Notiz darin befand. Lag das nur zur Dekoration da? In der Schublade waren nur zwei Packungen Tempotaschentücher, sonst nichts. Vielleicht gab der Schreibtisch mehr her, denn noch konnte sich Krohmer von dem jungen Mann kein Bild machen. Wer waren seine Freunde? Wo waren Briefe, Karten, Zettel, irgendwas, das Aufschluss über Jacobs Leben geben könnte? Jacobs Handy war bereits bei der Spurensicherung und bald hatten sie dessen Kontakte in Händen. Vielleicht gab es sogar aufschlussreiche SMS-Nachrichten?

Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop. In der Schublade des Schreibtisches fand Krohmer hinter einem Heer von Stiften und Büromaterial ein kleines Notizbuch, das er rasch in seine Jackentasche steckte, denn er hörte Schritte auf dem Gang. Eine ältere Frau steckte neugierig den Kopf in die Tür.

„Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?“, fragte sie unfreundlich.

Krohmer zeigte ihr seinen Ausweis.

„Polizei? Was hat der Junge denn jetzt schon wieder angestellt? Ich habe mich schon gewundert, dass ich ihn gestern und auch heute nicht gesehen habe.“

„Wer bitte sind Sie?“

„Iris Daubner, ich bin die Putzfrau und Mädchen für alles,“ stellte sich die schlanke, 56-jährige Frau vor. Ihre wachen Augen musterten Krohmer von oben bis unten.

„Ich kenne Sie doch. Sie sind der Chef der Kriminalpolizei!“, rief sie erschrocken. „Was ist passiert? Ist Jacob etwas zugestoßen?“

„Laufende Ermittlungen, ich darf Ihnen leider nichts sagen. Wie lange arbeiten Sie schon hier? Wie gut kennen Sie Jacob?“

„Ich arbeite seit über fünf Jahren hier und ich bin angemeldet, wie sich das gehört. Das können Sie gerne überprüfen.“ Sie machte eine kurze Pause und Krohmer lächelte. Er glaubte ihr unbesehen, dass sie angemeldet war, sonst hätte sie es nicht erwähnt. „Bei den Winzls bleibt keiner lange. Jacob macht gerne seine Späße und ärgert jeden. Und der alte Winzl ist ein richtiger Kotzbrocken. Immer hat er etwas zu meckern, mit nichts ist er zufrieden. Frau Winzl ist eine feine Dame, für sie arbeite ich gerne, wegen ihr bin ich auch noch hier.“ Iris Daubner erzählte ausführlich einige Auseinandersetzungen mit Alfred Winzl, die sich ähnelten und Krohmer mehr und mehr langweilten. Diese Frau Daubner war eine sehr gesprächige Frau, die sehr viel Wert auf die genaue Darstellung ihrer Erzählungen legte, weshalb sich die Unterhaltung in die Länge zog. Ungeduldig sah er auf die Uhr.

„Was ist mit Jacob Winzl? Was können Sie mir von ihm erzählen?“, unterbrach Krohmer.

„Der Junge ist im Grunde genommen kein schlechter Mensch, obwohl auch ich unter seinen dummen Späßen und Beleidigungen zu leiden habe. Ich vermeide es, ihm zu begegnen. Frau Winzl hat ihren Sohn nach Strich und Faden verzogen. Der alte Winzl schimpft oft mit seinem Sohn, der Alte ist sehr hartherzig und oft auch grob. Aber man muss ihm hoch anrechnen, was er geschaffen hat. Ich kann mich noch gut an den kleinen Schrottplatz erinnern. Dort haben wir oft gespielt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ja, das waren noch Zeiten damals…“

„Haben Sie Freunde oder Bekannte von Jacob kennengelernt? Oder wissen Sie, wo er sich in seiner Freizeit aufhält?“

Iris Daubner kam einen Schritt näher und sah sich verschwörerisch um.

„Hier ins Haus dürfen keine Fremden, das hat der alte Winzl strikt verboten. Ich möchte niemanden anschwärzen,“ flüsterte sie. „Abgesehen davon, dass Jacob eigentlich nur Freizeit hatte, pflegte er nicht den Umgang, den seine Eltern sich für ihr einziges Kind gewünscht haben. Keine Rowdies oder Asoziale, sondern versnobte Taugenichtse, die sich auf den Lorbeeren ihrer Eltern und Großeltern ausruhen und deren Geld mit vollen Händen rauswerfen. Ich habe Jacob in einer Gruppe dieser unsympathischen jungen Leute gesehen, als ich meine Tochter in München besucht habe. Ich mag Jacob eigentlich sehr gerne, aber inmitten dieser Leute war er peinlich und ich habe mich für ihn geschämt. Sie haben einem Obdachlosen 100 Euro hingehalten und er musste dafür für sie tanzen. Als er tanzte, haben sich die jungen Leute über ihn lustig gemacht. Das macht man doch nicht, das geht nicht.“

„Kennen Sie diese jungen Leute?“

„Von mir erfahren Sie keine Namen, ich bin doch nicht blöd. Nachher erfährt einer, dass die Polizei den Namen von mir hat und dann werden sie mir einen Killer auf den Hals schicken.“ Krohmer musste lachen, die Phantasie und das einfache Gemüt dieser Frau waren erfrischend komisch. „Lachen Sie nicht, das machen die Reichen so, das habe ich oft genug im Fernsehen gesehen. Aber,“ und nun kam sie noch näher. „Sie brauchen sich nur eine Klatschzeitung kaufen oder eines der sündhaft teuren Münchner Lokale aufsuchen, dort finden Sie diese Leute. Ich weiß aus verlässlicher Quelle, die ich Ihnen nicht nenne, dass sie sich regelmäßig in der Münchner Nobeldisco Point X aufhalten. Sie kennen die Disco?“

„Nicht persönlich. Ist Ihnen in letzter Zeit irgendjemand aufgefallen, der nicht hierhergehört?“

Sollte sie es der Polizei sagen? Sollte sie erzählen, dass sie schon mehrfach einen jungen Mann hier gesehen hat, der Frau Winzl besucht? Sie kannte sogar seinen Namen: Miguel! Ein hübscher Mann, ohne Zweifel. Aber sie mochte keine Ausländer, die waren ihr suspekt und machte daher einen großen Bogen um sie. Sollte sie Frau Winzl verraten? Nein! Wenn es sich um den Chef gehandelt hätte, hätte sie geplaudert, denn sie mochte den Mann nicht und sah ihn zum Glück nicht sehr oft. Aber die Chefin war immer gut zu ihr gewesen und war ihr gegenüber auch immer sehr großzügig. Nicht selten steckte sie ihr heimlich einen Schein mehr zu. Seit sie diesen Miguel kannte, war sie wie ausgewechselt und blühte regelrecht auf. Sollte sie ihr das nehmen? Nein, sie würde die Chefin nicht verraten. Warum auch? Der Kriminaler war wegen Jacob hier und nicht wegen der Chefin. Also schüttelte sie den Kopf.

Krohmer hatte gemerkt, dass die Putzfrau nicht reden wollte, aber er konnte sie nicht dazu zwingen.

„Was ist denn nun passiert? Ist Jacob in Ordnung?“

„Liebe Frau Daubner. Ich würde Ihnen gerne etwas erzählen, darf ich aber nicht. Verstehen Sie das bitte. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, melden Sie sich bitte.“ Krohmer gab ihr seine Karte. „Ich möchte mich einstweilen bei Ihnen bedanken. Der Hinweis auf die Diskothek hilft uns weiter.“

„Sie können sich auf mich verlassen, Herr Kommissar. Ich halte Augen und Ohren auf,“ blinzelte sie ihm zu, steckte die Karte in die Schürze und ging davon.

Krohmer nahm den Laptop von Netzteil und ging wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sich auch Lotte Winzl inzwischen wieder eingefunden hatte. Schon von weitem hörte er, dass Alfred Winzl seine Frau anbrüllte und ihr heftige Vorwürfe machte. Konnte sich der Trottel nicht benehmen?

„Entschuldigen Sie mein Benehmen von vorhin,“ sagte Frau Winzl mit einem aufgesetzten Lächeln, als sie Krohmer bemerkte. „Ich habe für einen Moment die Fassung verloren. Es ist sonst nicht meine Art, einfach wegzulaufen.“

Krohmer winkte ab, er verstand die Frau nur zu gut.

„Sie müssen wissen, dass meine Frau meint, etwas Besseres zu sein,“ grinste Winzl. „Und jetzt wieder zu Jacob: Haben Sie etwas von Ihren Leuten gehört? Ich hoffe nicht, dass sie am falschen Turm stehen.“

Frau Winzl sah Krohmer und ihren Mann abwechselnd an. Von welchem Turm sprach ihr Mann? Krohmer gab ihr das Schreiben und während sie las, schüttelte sie immer wieder den Kopf. Was sollte der Schwachsinn?

„Das ist aus Rapunzel,“ flüsterte sie.

„Das wissen wir doch längst. Die Polizisten sind schon bei der Arbeit. Denkst du, die sind dumm und warten nur auf deine Hilfe?“ Winzl war echt fies zu seiner Frau und Krohmer hätte nicht übel Lust, ihn mal so richtig zurechtzuweisen. Aber das war eine Ausnahmesituation und Krohmer war sich sicher, dass sich Winzl große Sorgen um seinen Sohn machte.

In den nächsten zehn Minuten herrschte Stille, bis das Klingeln von Krohmers Handy diese unterbrach und Frau Winzl erschrocken zusammenzuckte.

„Chef?“, rief Leo laut, da um ihn herum sehr viel Verkehr war. „Burghausen war nichts, alle Türme wurden abgesucht. Aber mit Graming hatte Hans Recht.“

„Haben Sie den Jungen?“

„Leider nein. Wir haben nur einen neuen Hinweis gefunden. Wieder eine Passage aus irgendeinem Märchen, wir haben keine Ahnung, aus welchem. Wir brauchen entweder eine gute Internetseite, oder jemanden, der sich mit Märchen auskennt.“

„Ich kenne jemanden, der uns ganz sicher weiterhelfen kann. Wir treffen uns im Büro.“

Krohmer verabschiedete sich und hatte alle Mühe, den aufgebrachten Alfred Winzl davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Er brauchte Ruhe bei der Arbeit und dabei störte ein Angehöriger, so hart das auch war. Krohmer hatte Alfred Winzl in die Hand versprechen müssen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Frau Winzl war immer ruhiger geworden und Krohmer vermutete, dass sie ein Medikament eingenommen hatte. Sollte er einen Arzt rufen? Warum? Alfred Winzl war der Ehemann, soll er sich doch endlich um seine Frau kümmern. Es musste dem Trottel doch auch auffallen, in welchem Zustand sich seine Frau befand.

Im Rückspiegel bemerkte Krohmer Iris Daubner am oberen Fenster. War das nicht Jacobs Zimmer? Schon an der Wohnzimmertür lungerte die neugierige Frau herum und er war kurz davor, sie anzusprechen. Aber die Stimmung im Haus war sowieso schon auf dem Gefrierpunkt, da musste er nicht auch noch die Putzfrau hineinziehen. Außerdem kannte Frau Daubner den Sohnemann und sie machte sich ganz bestimmt ebenfalls Sorgen um ihn.

Im Wagen wählte Krohmer die Nummer seiner ehemaligen, inzwischen pensionierten Sekretärin Hilde Gutbrod.

„Chef? Das ist aber schön, dass Sie sich bei mir melden. Wo brennt’s?“

Krohmer verzichtete auf Floskeln und lange Erklärungen. Die 63-jährige Hilde Gutbrod arbeitete viele Jahre für ihn und kannte ihn sehr gut.

„Hätten Sie Zeit und Lust, der Polizei zu helfen?“

„Gerne. Worum geht es?“

„Um Märchen. Erklärungen gibt es später.“

„Alles klar. Ich bin quasi unterwegs.“

Hilde Gutbrod freute sich riesig, dass der Chef an sie dachte. Seit ihrer Pensionierung hatte sie die Pflegschaft für einen besonderen Jungen übernommen, und zwar für Martin. Sie lernte ihn während eines Falles kennen, als sie noch bei der Polizei Mühldorf arbeitete. Martins Mutter kam damals ums Leben und der arme Junge war völlig auf sich allein gestellt. Frau Gutbrod sah es als alleinstehende Frau als ihre Pflicht an, Martin unter ihre Fittiche zu nehmen und sich um ihn zu kümmern, zumal sie sowieso vor der Pension stand und nicht wusste, was sie mit der freien Zeit anfangen sollte. Zeit ihres Lebens war sie kinderlos geblieben und hatte nur noch ihre Nichte Karin, die ihr mit ihrem Egoismus und ihrer Gleichgültigkeit auf die Nerven ging. Martin entwickelte sich prächtig. Frau Gutbrod hatte sich um einen Platz für ihn in einer Einrichtung bemüht, die sich um die Fähigkeiten von Behinderten kümmerte. Sie war sich sicher, dass auch in ihrem Martin eine ganz besondere Fähigkeit schlummerte, die man nur herauskitzeln und an die Oberfläche tragen musste. Dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Beziehungen, die sie vor allem während ihrer Zeit bei der Polizei aufgebaut hatte, kam Martin vor zwei Wochen in dieser tollen Einrichtung unter. Frau Gutbrod war sich sicher, dass sich auch ihr ehemaliger Chef eingemischt hatte. Krohmer war einfach ein Schatz! Es war richtig von ihr gewesen, ihn darauf anzusprechen und auch ihn um Hilfe zu bitten. Diese Einrichtung, die den Namen Haus Schwanenberg trug, befand sich in der Nähe des Starnberger Sees und Martin würde für die nächsten fünf Monate dortbleiben. Während dieser Zeit kam er nur an den Wochenenden nach Hause und daher langweilte sich Frau Gutbrod unter der Woche fast zu Tode.

Es ging um Märchen. Das Warum interessierte sie jetzt nicht. Sie packte ihre alten Bücher in einen Koffer, zog sich mehrfach um, bis sie endlich zufrieden war, und ging ins Bad. Sie warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Die ehemaligen Kollegen kannten sie nur als gestylte, gepflegte Frau – konnte sie denen diesen Anblick zumuten? Sie schminkte sich ausgiebig und war mit dem Resultat zufrieden. Dann toupierte sie die zum Glück frisch gefärbten Haare und türmte sie zu einem Ungetüm an Frisur auf. Fertig! Nachdem sie jede Menge Schmuck angelegt hatte, drehte sie sich vor dem großen Spiegel in alle Richtungen. Sie sah für ihr Alter immer noch blendend aus!

„Aus Jacobs Zimmer habe ich dessen Laptop und ein Notizbuch mitgenommen; um beides kümmert sich Fuchs. Das ist die Liste von Jacobs Freunden. Fuchs hat es geschafft, den PIN-Code des Handys zu knacken und hat die Liste daraus angefertigt. Ich habe erfahren, dass sich die Freunde regelmäßig in der Münchner Disco Point X aufhalten sollen. Nehmen Sie sich die Freunde so bald als möglich vor,“ sagte Krohmer, der die Liste durchgegangen war. Tatsächlich waren ihm einige Personen persönlich bekannt. Noch bevor er auf den erneuten Zettel zu sprechen kommen konnte, trat Frau Gutbrod ins Besprechungszimmer ein. Alle sahen sie überrascht an. Vor allem der pinkfarbene Koffer, den sie hinter sich herzog, zog alle Blicke auf sich.

„Frau Gutbrod? Welch Glanz in unserer Hütte!“, rief Hans Hiebler aus und umarmte die ehemalige Kollegin. Das mit dem Glanz meinte er wörtlich, denn Frau Gutbrod hatte es mit ihrem hellgrünen Paillettenkleid, den hochhackigen Lackstiefeln und dem üppigen Schmuck völlig übertrieben. Bei jeder Bewegung glitzerte und klimperte es. Auch die anderen begrüßten sie herzlich. Sie wurde trotz ihrer nervigen Neugier, mit der sie viele fast um den Verstand brachte, schmerzlich vermisst.

„Ich habe Frau Gutbrod gebeten, uns als Expertin in Sachen Märchen zu unterstützen,“ erklärte Krohmer. „Ich weiß, dass sie sich sehr gut darin auskennt und alle gängigen Märchenbücher besitzt.“ Krohmer stellte seiner ehemaligen Sekretärin die neue Mitarbeiterin Tatjana Struck vor, da sich die beiden noch nicht über den Weg gelaufen waren.

Frau Gutbrod sah abschätzend an der neuen Kollegin auf und ab. DAS war die Neue? Klein, pummelig, um nicht zu sagen dick. Und dann noch diese fürchterliche, unvorteilhafte Kurzhaarfrisur. Wie alt sie wohl ist? Bestimmt noch keine 40, das sah man an ihrer Haut. Aber warum ließ sie sich so gehen? Aus ihr könnte man etwas machen, wenn man sich Mühe gab. Ein wenig Make-up und eine neue Frisur würden Wunder bewirken. Und diese Kleidung ging gar nicht! Der dicke, womöglich auch noch selbstgestrickte, farbenfrohe Pullover trug viel zu sehr auf. Die bequemen Schuhe waren nicht geputzt und die Hose saß nicht richtig. Außerdem roch die Frau fürchterlich nach Zigaretten.

„Was ist? Wollen Sie ein Passfoto?“, sagte Tatjana frech, der die Musterung der in ihren Augen überkandidelten Frau missfiel. Ihr ging die Frau jetzt schon auf die Nerven. Warum war sie hier? Waren sie nicht in der Lage, das Rätsel selbst zu lösen? Gegen ihre Anwesenheit zu protestieren würde nichts bringen. Krohmer hatte sie herzitiert und er war nun mal der Chef.

Frau Gutbrod rümpfte die Nase über die tiefe Stimme und die Ausdrucksweise von Frau Struck, die keinen Deut besser zu sein schien als ihre Vorgängerin Viktoria Untermaier. Tatjana Struck hieß die Frau also. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Wo kam sie her? Was hatte sie vorzuweisen? Die Neue stand plötzlich auf, kam einen Schritt auf Frau Gutbrod zu und sah ihr direkt in die Augen. Tatjana hasste es, wenn sie angestarrt wurde. Das war doch kein Benehmen! Sekundenlang war es mucksmäuschenstill. Alle waren gespannt, was zwischen den beiden Frauen passieren würde. Nur Krohmer bemerkte nichts. Hilde Gutbrod setzte sich schließlich, und auch Tatjana gab nach. Eins stand fest: Die beiden würden keine Freunde werden.

„Geben Sie Frau Gutbrod das Rätsel. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat,“ drängelte Krohmer.

Frau Gutbrod erschrak, als sie die wenigen Worte überflog. Ängstlich sah sie Krohmer an.

„Was ist los?“

„Das wird Ihnen nicht gefallen Chef, lesen Sie selbst.“

„Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze!“ 20865169

Krohmer war blass geworden, die Sache war offensichtlich ernster, als er angenommen hatte.

„Verstehe ich das richtig? Jacob soll morgen erschossen werden?“

„Nun mal ganz langsam,“ unterbrach Leo, der nicht an einen vorhergesagten Mord glauben wollte. „Bisher haben wir nur einen Satz, mehr nicht. Wie sieht es aus Frau Gutbrod, könnte dieser Satz aus einem Märchen stammen?“ Leo hatte die ehemalige Sekretärin beobachtet, die sofort zu einem Buch griff und hektisch darin blätterte.

„Ich bin mir sicher, dass die Stelle zu dem Märchen Der alte Sultan gehört,“ sagte sie und fand endlich die richtige Zeile. „Hier habe ich es. Ich lag richtig mit meiner Vermutung: Eine Textzeile aus dem Märchen Der alte Sultan. Es ist von den Gebrüdern Grimm und steht an 48. Stelle.“

„Klären Sie uns mit wenigen Worten über den Inhalt auf,“ sprach Krohmer den anderen aus der Seele, die ebenfalls keine Ahnung hatten, worum es in dem Märchen ging.

„Sultan ist ein alter Hofhund, der aufgrund seines Alters erschossen werden soll, da er den Bauern keine Dienste mehr leisten konnte. Sultan hatte die Worte des Bauern gehört und klagte dem Wolf gegenüber sein Leid. Der Wolf hatte Mitleid und heckte mit Sultan einen Plan aus. Dieser bestand darin, dass der Wolf den unbeaufsichtigten Säugling der Bauern stehlen soll. Sultan sollte ihm bellend hinterher und den Säugling retten. Der Plan ging auf und Sultan bekam aus Dankbarkeit sein Gnadenbrot auf dem Hof. Der Wolf kam eines Tages und bat Sultan wegzusehen, wenn er sich ab und zu ein fettes Schaf holen wollte. Aber Sultan dachte nicht daran, er stand loyal zu seinem Herrn und verriet den Wolf. Daraufhin forderte der Wolf ihn zusammen mit einem Wildschwein heraus, wohl wissend, dass der zahnlose, alte Sultan keine Chance hatte. Sultan fand nur in einer dreibeinigen Katze Beistand und ging zum vereinbarten Treffpunkt. Durch den von Schmerzen geplagten Gang der Katze streckte diese den Schwanz nach oben, dadurch vermuteten der Wolf und das Wildschwein, die beiden führen einen Säbel mit sich. Die Katze sah durch den Gang der drei Beine so aus, als sammelte sie auch noch jede Menge Steine auf, die sie dann auf die beiden werfen wollte. Das Wildschwein versteckte sich im Laub und der Wolf sprang auf einen Baum. Das Wildschwein hatte sich nicht ganz verstecken können, ein Ohr ragte heraus. Es bewegte sich und die kurzsichtige Katze dachte, das sei eine Maus. Sie sprang darauf zu und biss herzhaft hinein, worauf sich das Wildschwein erschrak und davonrannte. Als Sultan und die Katze den Wolf auf dem Baum entdeckten, schämte sich der Wolf und bot Frieden für alle Zeit an.“

„Ich muss zugeben, dass das Märchen nicht nur lehrreich, sondern auch sehr amüsant ist,“ sagte Krohmer überrascht, der sich aber trotzdem nicht mit Märchen anfreunden konnte. „Könnte mit dem Märchen auch ein Tierheim, ein Gnadenhof oder etwas Ähnliches gemeint sein?“

„Könnte sein. Warum nicht?“

„In unserem Zuständigkeitsbereich haben wir fünf Tierheime und zwei Gnadenhöfe,“ sagte Werner, der die Informationen hierüber im Internet fand. Werner hatte immer ein Tablet bei sich, ohne dies schien er nicht lebensfähig. „Ein Gnadenhof ist bei Winhöring, der andere ist in Landshut.“ Er notierte die beiden Adressen.

„Teilen Sie sich auf und nehmen Sie sich zuerst die Gnadenhöfe vor. Danach sind die Tierheime dran.“

„Was ist mit den Freunden? Sollten wir uns die nicht zuerst vornehmen?“ Tatjana befand, dass das mit den Gnadenhöfen und Tierheimen in eine völlig falsche Richtung führte und sie dadurch nur unnötig Zeit vertrödelten. Aber Krohmer war nun mal der Chef.

„Die Freunde können noch warten, der Hinweis geht vor. Bevor Sie aufbrechen, möchte ich noch über diese Zahlen sprechen. Was haben sie zu bedeuten?“ Krohmer war erschrocken, dass auch auf dem neuen Zettel abermals Zahlen notiert wurden. Und wieder handelte es sich um eine 7-stellige Zahl.

Auch die anderen hatten sich bereits Gedanken darüber gemacht und konnten sich keinen Reim darauf machen. Tatjana hatte sich mit Fuchs darüber unterhalten, der ebenfalls nichts damit anfangen konnte. Er versprach ihr, sich darum zu kümmern.

Krohmer blieb nichts anderes übrig, als das Ehepaar Winzl zu informieren, er hatte sein Wort gegeben. Das würde nicht leicht werden, denn er hatte nichts als den neuen Hinweis, von dem er noch nicht einmal wusste, ob sie damit richtig lagen. Aber das würde sich in Kürze herausstellen. Zuerst wollte er Alfred Winzl anrufen, entscheid dann aber spontan, das Ehepaar Winzl zuhause aufzusuchen, da er in der Gegend noch einen Termin hatte, den er sehr gut damit verbinden konnte.

Krohmer hatte seinen Besuch nicht angemeldet und musste lange klingeln, bis Frau Winzl öffnete. Er war sich sicher, dass jemand zuhause war, denn im oberen Stock hatte sich die Gardine bewegt.

„Herr Krohmer? Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, ich hatte mich hingelegt. Ich habe Iris nach Hause geschickt, mein Mann ist auch weg. Ich bin hier allein...“

„Verständlich,“ sagte Krohmer freundlich, obwohl ihm die Nervosität der Frau sehr merkwürdig vorkam. Frau Winzl machte keine Anstalten, ihn ins Haus zu bitten, was ihn zusätzlich irritierte. Er informierte Frau Winzl an der Haustür über die wenigen Worte des Schreibens, das seine Leute am Wasserturm in Graming gefunden haben. Auch Frau Winzl sagten die Worte nichts. Sie kannte zwar das Märchen vom alten Sultan, verstand aber den Zusammenhang mit ihrem entführten Sohn nicht. Lotte Winzl war sehr unkonzentriert und zupfte ständig an ihrem eleganten Bademantel. Krohmer spürte, dass sie nicht mit ihm sprechen wollte, und entschied, wieder zu gehen.

„Wo finde ich Ihren Mann?“

„Wo soll er schon sein? In der Firma natürlich!“, sagte sie schroff. Sie war erleichtert, als sie die Haustür hinter ihm endlich schließen konnte. Zur Sicherheit legte sie die Kette vor.

„Ist er weg?“, fragte der junge Mann, der nackt die Treppen herabstieg.

„Ja.“

„Etwas Wichtiges?“

Sie wollte ihm nicht antworten. Warum sollte sie ihn damit belasten?

Krohmer stieg in seinen Wagen und notierte sich das Kennzeichen des Motorrollers, der hinter dem Gebüsch parkte. Es war offensichtlich, dass der Roller versteckt wurde, ihm aber wegen der auffälligen Farbe nicht entging. Frau Winzl war nie und nimmer allein im Haus.

Alfred Winzl las wieder und wieder den Zettel, dem Krohmer ihm übergeben hatte. Der Firmenchef schien um Jahre gealtert.

„Märchen haben mich noch nie interessiert, dafür hatte ich auch keine Zeit. Können Sie sich vorstellen, wieviel Zeit und Kraft man in eine Firma stecken muss, die man aus dem Nichts aufbaut? Da darf man keine Hobbys haben und sich nicht vergnügen, da muss man Kräfte sammeln und das Augenmerk nur auf die Firma legen. Märchen! Wer hat denn so einen Faible dafür, dass er Spuren legt, nachdem er meinen Sohn entführt hat?“

„Das frage ich Sie, Herr Winzl.“

„Ich kenne niemanden, der sich mit Märchen beschäftigt, dazu bin ich in der falschen Branche. Ich handle mit Schrott und Eisenwaren, und das inzwischen weltweit.“

„Das ist sehr beachtlich. Kommen wir auf die Märchen zurück. Sie gehen von einem Mann als Täter aus?“

„Wenn es um die Entführung geht: Ja. Aber die Märchen sind doch eher etwas für Frauen. Vielleicht ein Pärchen?“

„Mag sein. Haben Sie sich nochmals Gedanken darüber gemacht, wer Jacob entführt haben könnte?“

„Ich denke an nichts anderes, aber mir fällt niemand ein.“

Krohmer überlegte einen Moment, ob er Winzl auf ein eventuelles Verhältnis seiner Frau ansprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Die beiden mussten mit dem Verschwinden ihres Sohnes klarkommen, dazu brauchten sie nicht auch noch einen Ehestreit.

Als Krohmer gegangen war, gingen ihm tausend Gedanken durch den Kopf. Es ging ihm schlecht, und er fühlte sich außerstande zu arbeiten, was bis dato noch niemals passiert war. Er gab Anweisung, keine Telefonate durchzustellen und ihn nicht zu stören. Wo war sein Sohn? Wer hatte ihn entführt? Er überlegte lange und war sich sicher: Es ging nicht um Jacob, es ging um seine Frau, auch wenn er den Schwachsinn mit dem Märchen nicht verstand. Die alte, längst vergessene Geschichte war mit einem Schlag wieder da. Seinem Sohn konnte er im Moment nicht helfen, darum kümmerte sich die Polizei. Aber er konnte seine Frau beschützen. Zuerst brauchte er Gewissheit, ob es auch so war, wie er vermutete.

Er stand auf und drehte den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür, er konnte keine Zeugen brauchen. Mit zitternden Händen wählte er die tschechische Telefonnummer, die er auswendig konnte.

„Hier Winzl. Diesmal geht es nicht um Medikamente. Ich brauche in einem speziellen Fall Ihre Hilfe.“

„Um was geht es?“

„Um Matej Horak. Der Mann ist Ihnen ein Begriff?“

„Natürlich.“

„Es sieht so aus, als wäre er in Deutschland aufgetaucht. Ich brauche Informationen.“

„Verstehe. Das wird nicht billig.“

„Geld spielt keine Rolle.“

„Das höre ich gern. Ich kümmere mich darum und melde mich wieder.“

Winzl legte auf. Wenn es wirklich so war, dass Horak sie aufgespürt hatte und sich hier in der Gegend aufhielt, dann würde er es sehr bald erfahren.

JACOB

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