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[15]I. TEIL: VON DER THEORIE ZUM KONZEPT

1 Aktualität, Relevanz, Bedeutung

1.1 Durchs Nadelöhr in die Zukunft

„Stell dir vor, du entdeckst eines Tages auf deinem Gartenteich eine Seerose. Du freust dich an ihrer wunderbaren Blütenpracht, weißt andererseits, dass diese Pflanze stark wuchert und ihre Blattfläche jeden Tag verdoppelt. Wenn sie ungehindert wächst, werden ihre Schwimmblätter eines Tages den gesamten Teich bedecken. Dann werden sie in kurzer Zeit alle anderen Lebensformen ersticken. Die Seerose scheint freilich in den folgenden Tagen und Wochen ziemlich zierlich und harmlos zu bleiben. Du machst dir keine großen Sorgen. Im Gegenteil, du freust dich an ihrer wachsenden Pracht. Am 29. Tag stellst du plötzlich fest, dass ihre Blätter die Wasserfläche des Teiches zur Hälfte bedecken. Wie viel Zeit bleibt dir noch, um den Teich zu retten?“

Mit dieser Metapher veranschaulicht Dennis Meadows in seinem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der für weltweite Furore sorgte, das Dilemma unserer ressourcen- und emissionsintensiven Industriegesellschaft: Unsere Wachstumsgetriebenheit gleicht einer tickenden Zeitbombe. Ein Tag bleibt noch, bis die Seerosenblätter den Teich ersticken. Das Problem ist nicht eine lineare Entwicklung. Das Problem ist eine Entwicklung, die exponentiell oder gar superexponentiell ist.

Szenenwechsel. Am 31. Oktober 2011 durchbricht die Weltbevölkerung die Sieben-Milliarde-Menschen-Marke. Im Jahr 1700 waren es noch 500 Millionen, 1900 um die eine Milliarde Erdenbewohner.

[16]HighTech, Low Carb, neuseeländische Kiwis im Winter – der Wohlstand wird zelebriert, importiert, perpetuiert. Zwischen 1950 und 2000 verzehnfacht sich die Weltwirtschaft. Nie war die Menschheit reicher.

Die Erde ist ein Juwel auf schwarzem Samt (zeitweilig beherbergte sie so viele Atomwaffen, dass sie davon fünfmal hätte in die Luft gesprengt werden können). Das System stößt an seine Grenzen, die biophysikalische Tragfähigkeit schwindet, der jahrtausendewährende natürliche Reichtum verengt sich zur Zwangsjacke, sind in der Geschlossenheit des Systems Erde Ressourcen doch endlich. Kampf um Wasser, Boden, Rohstoffe, Luft; Krieg um Wohlstand. Das Ökosystem stirbt leise. Und mit ihm seine Zivilisation, ohne es zu merken.


Abb. 1: Kennzeichen komplexer Systeme

[17]Nachhaltigkeit ist ein ressourcenökonomisches Prinzip, das gewährleistet, ein System in seiner Funktionsweise dauerhaft aufrechtzuerhalten. Das Bild des Nachhaltigkeitstrichters zeigt, dass uns zwei Entwicklungen zur Anwendung des Prinzips „zwingen“, wenn die Menschheit es durch das Nadelöhr zu ihrem Fortbestand schaffen will.


Abb. 2: Metapher des Nachhaltigkeitstrichters

Bevölkerungswachstum und Ressourcenerschöpfung repräsentieren das obere und untere Ende des Trichters. Die beiden Entwicklungen befeuern sich wechselseitig. Der Spielraum, um zu handeln, schrumpft. Will die Menschheit unter den verschärften Rahmenbedingungen überleben, braucht sie ein strukturiertes, integriertes Vorgehen. Die Lösung gleicht einem wohl durchdachten Experiment: einen Gummi am Rande des Filters anbringen, einen Stein spannen, gerade ansetzen und ihn gezielt durch den Tunnel schießen. Es braucht weder Willkür noch „Trial and Error“, sondern Ganzheitlichkeit bei der Problemerfassung. Es braucht eine neue Systematik, Intelligenz, aber auch Ethik, um durch den Tunnel ans Licht zu gelangen. Es braucht Nachhaltigkeit als Leitstern.

Szenenwechsel. Fukushima und BP – zwei Beispiele, die das Thema Nachhaltigkeit in seiner Tragweite veranschaulichen. Bei der Kernreaktorexplosion in Fukushima handelte es sich um die größte atomare Katastrophe in der Geschichte Japans. Der Skandal um die [18]Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko war die bislang schwerste Ölverseuchung. Mussten bei Ersterem hundertausende Menschen evakuiert werden (und die Region wird für die nächsten Jahrzehnte unbewohnbar bleiben), so sorgte BP mit einer gerissenen Schutzvorrichtung an einer Pipeline dafür, dass über mehr als zwei Monate hinweg insgesamt ca. 800 Millionen Liter Öl ins Meer strömten.

Die beiden Beispiele sind eng miteinander verwoben. Effizient und kostengünstig Energie, Strom und Öl zu gewinnen, ist das Motiv, bis die Überraschung eintritt: langfristige Verstrahlung und Verseuchung. Der Eingriff in die Natur zerstört die Ressource, den Lebens- und Arbeitsraum von Menschen und reißt Wohlstand und Wirtschaftlichkeit mit sich.

Die Erde ist ein komplexes System mit vielen Teilsystemen, die untereinander vernetzt sind. Eingriffe von Menschen haben vielfältige, oft unvorhergesehene und unerwünschte (Neben-)Wirkungen. Um das empfindliche Gleichgewicht nicht zu stören, ist ein integrativer Ansatz notwendig. Umweltprobleme sind keine isolierten Einzelereignisse; sie sind Herausforderungen für das gesamte Mensch-Umwelt-System.

Insgesamt lassen sich die Ziele von Nachhaltigkeit grundlegend wie folgt umreißen:

Sicherung der menschlichen Existenz
Bewahrung der globalen ökologischen Ressourcen als physische Lebensgrundlage
Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivpotenzials
Gewährleistung der Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten heutiger wie künftiger Generationen weltweit.

[19]1.2 Die aktuelle Popularität von Nachhaltigkeit


ProblemNachhaltigkeit everywhere. Warum ist der Begriff populär und in aller Munde? In welchen Zusammenhängen ist er zu lesen und zu hören? Was erhofft man sich davon?
Maßnahmenaktuelle Schlagzeilen & Pressemeldungen, Assoziationen, Push- & Pull-Faktoren, Studien, Berichte, Prognosen, globale Herausforderungen, Earth Overshoot Day, Wandel & Widerstände
ErgebnisseStudierende werden „abgeholt“ und gewinnen eine erste Vorstellung, warum der Begriff der Nachhaltigkeit aktuell, relevant und omnipräsent ist. Sie überblicken das weite Feld der Nachhaltigkeit in seinen wichtigsten Zügen.

[20] Nachhaltigkeit? – Ach, ich bleib da lieber flexibel. (Passant bei Straßenumfrage)

Ob in Wirtschaft, Wissenschaft oder Medien – Nachhaltigkeit ist das Schlagwort der Stunde. Als Begriff zunächst positiv besetzt, da mit Langfristigem, Dauerhaftem assoziiert, klingt er aber auch abstrakt und verschwommen. Zu zahlreich sind die Schauplätze, als dass von einem einheitlichen Verständnis gesprochen werden könnte. Nachhaltigkeit wird im Zusammenhang mit Energie, Mobilität, Gebäudesanierung, Ernährung, Bevölkerungsentwicklung, betrieblichem Umweltmanagement und Klimaschutz gebraucht, ebenso wie in Kunst, Kultur, Design und Werbung. Und der Begriff wird von einer Vielzahl von Akteuren benutzt: von Greenpeace über die Deutsche Bank bis zur Brauerei Krombacher, von Professoren über Minister und Manager bis hin zum Endkonsumenten.

Vor dem Hintergrund sowohl sich verschärfender Umweltgesetze als auch ethisch-sozialer Vorschriften sind Nationen, Organisationen, Firmen und Haushalte, die Nachhaltigkeitsprinzipien anwenden, im Vorteil. Auf Regierungen gemünzt, sorgen diese für eine dauerhafte gesicherte Ressourcenbasis in ökologischer wie menschlicher Hinsicht. Was Unternehmen angeht, so unterliegen diese einem sich globalisierenden wie verstärkenden Wettbewerbsdruck in Sachen Rohstoffe, Kosten, Mitarbeiter und Innovation. Um mittel- wie langfristig erfolgreich zu operieren, bedarf es der Erneuerung ihrer Geschäftsmodelle und -strategien unter dem Vorzeichen globaler Gerechtigkeit.

Nachhaltigkeit ist eine Innovationsspritze – wobei im Sinne von Hauff und Kleine vorwegzuschicken wäre: „Aus der Perspektive Nachhaltiger Entwicklung werden Innovationen nur dann positiv bewertet, wenn alle drei Dimensionen, d.h. Ökologie, Ökonomie und Soziales bei der Entstehung von Innovationen berücksichtigt werden”.1 Diese Ansicht teilt auch Bertram Brossardt, Geschäftsführer des bayerischen Unternehmensverbandes Metall und Elektro e.V., der 2.000 Firmen vertritt. Er ist überzeugt, dass nachhaltige Unternehmen erfolgreicher sind: „Für unsere Mitgliedsunternehmen [21]spielt das Thema Nachhaltigkeit seit jeher eine große Rolle. Die Betriebe im Freistaat wissen, dass es wichtig ist, langfristig orientiert zu wirtschaften und sich mit innovativen Produkten und Dienstleistungen dauerhaft im Wettbewerb zu behaupten.“2

Nachhaltigkeit sei aber auch alter Wein in neuen Schläuchen, meint Ulrich Merkes, Nachhaltigkeitsberater bei Vineta Group. „Vieles davon entspricht dem Common-Sense. In unserer hochkomplexen, dynamischen und globalisierenden Weltwirtschaft haben wir den leider verloren“.

Unser ursprünglichstes Weltkulturerbe

„Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe“, meint Grober zum Ursprung der ebenso traditionellen wie progressiven Leitidee Nachhaltigkeit (Grober (2010), S. 13).

In unserer immer komplexeren Lebens- und Arbeitswelt ist die Auseinandersetzung mit dem Leitbild Nachhaltigkeit unerlässlich. Als Querschnittsthema durchdringt es sämtliche Bereiche, hat unendlich viele Anknüpfungspunkte. Der Facettenreichtum bringt mit sich, dass sich unterschiedlichste Branchen, funktionale Unternehmensbereiche sowie wissenschaftliche Disziplinen damit befassen.

Die Crux: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung trifft, ob seiner positiven Aufladung mit Werten wie Umweltschutz und Gesundheit, auf Akzeptanz. Doch sobald es daran geht, diese handlungsleitend zu konkretisieren und in Schlussfolgerungen für das (eigene) Verhalten zu überführen, kollidieren die Interessen. Jeder will sich seine Pfründe sichern.

[22]Das hängt auch damit zusammen, dass es (noch) kein klar umrissenes und einheitliches Verständnis bezüglich Handlungserfordernissen und Maßnahmen gibt. Der Begriff eröffnet vielmehr eine kontroverse interdisziplinäre Debatte, bei der es Strategien und Maßnahmen erst festzulegen gilt.

Nachhaltigkeit – global, langfristig, umstritten

Nachhaltigkeit ist somit ein erst noch an Kontur gewinnendes, unterschiedlich interpretiertes Leitbild, das voneinander abweichende, wenn nicht gegensätzliche Natur-, Mensch- und Weltbilder ebenso wie Anliegen, Bedürfnisse und Modelle einer „guten Gesellschaft“ unter sich vereint. Viele sind sich im Klaren, dass neuartige, komplexe und globale Probleme vor uns liegen und diese nur langfristig und gemeinsam zu lösen sind. Doch darüber, welche Schrauben im Weltapparat wann und wie fest anzuziehen sind, wird gezankt.

Nachhaltigkeit – Liebling und Stiefkind der Medien

Die Medien greifen das Thema dankbar auf, liefert es doch einen neuen Blick auf alte Probleme. Schwerpunktsetzung und Zusammenhang variieren dabei. Die Auswahl an Schlagzeilen veranschaulicht die Vielseitigkeit des Themas:

Agrarförderung der EU soll ökologisch werden.
Deutsche Windindustrie legt im ersten Halbjahr 2011 um rund 20 % zu.
Erneuerbare-Energie-Aktien mit kräftigem Gewinn: +8,4 Punkte.
94 % der Bürger bereit, mehr für Ökostrom zu bezahlen.
Studie WWF: Wasserkrise in den Megastädten der Welt.
Europcar und Opel starten E-Mobilitäts-Kooperation.
Mehr Jobs, weniger Arbeitslose und viel Niedriglohn.

[23]1.3 Push- und Pull-Faktoren

Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Victor Hugo

Die Motivation staatlicher, privatwirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Akteure, sich nachhaltig auszurichten, speist sich aus zwei Quellen. Push-Faktoren sind jene Gründe, die sie veranlassen, von nicht-nachhaltigen Aktivitäten aufgrund deren schädlicher Wirkung abzusehen; hierbei spielen soziale Aspekte wie z.B. Menschenrechtsverletzungen, Arbeitsunfälle und Kinderarbeit eine große Rolle. Der wichtigste Grund aber ist der Umweltschutz, was allein im starken Ressourcenbedarf der modernen, hochtechnologischen Industrie- und Wissensgesellschaft begründet liegt. Pull-Faktoren sind die Motive und Gründe, die es für Akteure attraktiv machen, das Thema Nachhaltigkeit ernst zu nehmen und umzusetzen.3

Push-Faktoren: Weg von Nicht-Nachhaltigkeit

Umweltprobleme sind aktuell die stärksten Push-Faktoren. Dies nicht zuletzt, weil sie sich immer verlässlicher sowie auf zunehmend längeren Zeitreihen bewerten lassen. Auf der Liste der Faktoren, die das planetare Ökosystem existenziell bedrohen, stehen Klimawandel, Desertifikation, Gletscherschmelze und Biodiversitätsverlust ganz oben. Die damit einhergehenden sozialen Probleme umfassen Ressourcenflucht, Wassermangel und umweltbedingten Welthunger. Für Unternehmen sind dabei Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung, Kinderarbeit, Bespitzelung oder Dumpinglöhne die entscheidenden Größen.

Einen Überblick über die unterschiedlichen Problemfelder gibt folgende nach Kategorien gefasste Grafik. Anhand von sechs [24]Oberkategorien wird versucht, das Spektrum an Problemlagen aufzuzeigen.


Abb. 3: Globale Herausforderungen

Um die oben genannten globalen Probleme greifbarer zu machen, seien folgende Zahlen genannt:

Im Jahr 1980 wurden den globalen Ökosystemen 40 Milliarden Tonnen entnommen. Der weltweite Verbrauch stieg bis 2002 auf 53 Milliarden Tonnen.
Der vom Weltklimarat vorausgesagte Anstieg der Erdmitteltemperatur wird sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf zwischen 1,5° und 5,8° Celsius belaufen; der jährliche Meeresspiegelanstieg liegt bei 3 Millimeter.
[25]■Bereits 70 % aller Wälder weltweit sind heute gerodet; alle zwei Sekunden wird ein Waldgebiet von der Größe eines Fußballfeldes zerstört bzw. täglich die Fläche New Yorks.
Täglich sterben weltweit 10.000 Kinder an Unterernährung.
Pro Tag werden 130 Tier- und Pflanzenarten – teils pharmazeutisch hochrelevant – ausgerottet. Die jetzige Geschwindigkeit des Aussterbens verläuft tausendmal höher als in früheren geologischen Perioden.
Die Armen werden ärmer. Rund drei Milliarden Menschen leben von weniger als einem USD pro Tag. Zwischen 1981 und 2001 hat sich die Zahl der Menschen südlich der Sahara, die von weniger als einem USD pro Tag leben, von 164 auf 312 Millionen Menschen erhöht.
Der globale Besitz konzentriert sich in den Händen von weniger als einem Prozent der Bevölkerung; laut der Universität Zürich kontrollieren 147 Großkonzerne, die miteinander eng verbunden sind, 80 % des gesamten Weltumsatzes und 40 % des Weltvermögens; d.h. weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung beherrscht die Weltwirtschaft. Diese „Super-Gruppe“ besteht hauptsächlich aus Banken und großen Finanzinstituten, wie JP Morgan Chase, Goldman Sachs, Morgan Stanley und Bank of America.
Eine Studie des Economic Policy Institute zeigt auf, dass das Einkommen des obersten Prozent der Bevölkerung zwischen 1997 und 2007 um 224 % stieg, das der unteren 90 % aber nur um 5 %.
2007 ist das Jahr in der Menschheitsgeschichte, in dem mehr als 50 % der Weltbevölkerung in Städten lebt. Bis 2030 wird dieser Anteil nach Prognosen der UNO auf zwei Drittel anwachsen.
Das 20:80-Dilemma: 20 % der Weltbevölkerung verbrauchen 80 % der Rohstoffe für Energie- und Materialwirtschaft (Industrieländer), während 80 % der Menschen 20 % der Ressourcen beanspruchen, gleichzeitig aber überwiegend die Auswirkungen zu spüren bekommen (z.B. Wüstenbildung, Meeresspiegelanstieg in den Entwicklungsländern).

[26]Zudem stellt sich Unternehmen gegenwärtig wie künftig das drängende Problem, Nachwuchs zu finden. Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft fehlen der Wirtschaft im Jahr 2020 rund 230.000 Ingenieure, Naturwissenschaftler und Techniker. Die Bundesregierung geht sogar von bis zu 500.000 Arbeitnehmern aus. Bereits heute sind es 144.000 Fachkräfte zu wenig, darunter 37.000 Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure, 25.000 Maschinenbautechniker und 22.000 EDV-Spezialisten. Laut Bundesregierung verursacht dieser Mangel einen Wertschöpfungsverlust von 28 Milliarden Euro pro Jahr.

Umweltprobleme wie Gesundheitsrisiken lassen sich exemplarisch an der Branche Elektronik und Elektrotechnik aufzeigen. So gab es laut dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien im Jahr 2003 erstmalig mehr Handys als Einwohner in Deutschland. Die Innovationszyklen für neue Geräte und Systeme werden dabei immer kürzer. Alleine in Deutschland fallen etwa zwei Millionen Tonnen pro Jahr an, was einem Güterzug von 1.200 Kilometer Länge entspricht. Darunter sind Materialien mit teils erheblichem Belastungspotenzial für Umwelt und Gesundheit wie z.B. giftige Schwermetalle oder Flammschutzmittel.

Earth Overshoot Day – das Konto überziehen

Der 20. August 2013 war ein trauriger Meilenstein: Er markierte den Tag des Jahres 2013, von dem an der Bedarf der Weltbevölkerung nach natürlichen Ressourcen das für das gesamte Jahr zur Verfügung stehende Angebot überschritt. „Das ist so, als wäre bereits jetzt unser Jahreseinkommen aufgebraucht und wir müssten den Rest des Jahres von unseren Ersparnissen leben“, so Mathis Wackernagel, Präsident des internationalen Think Tanks Global Footprint Network (siehe www.footprintnetwork.org). Berechnet wird der Earth Overshoot Day durch einen Biokapazitäten-Vergleich: Dem Angebot der Natur wird die Nachfrage der Weltbevölkerung nach Ressourcen gegenübergestellt, genauer jener Naturleistungen, die gebraucht werden, um den Appetit nach Produkten und Dienstleistungen zu stillen.

[27]Vereinfacht gesagt, zeigt er, wann unser totaler ökologischer Fußabdruck (gemessen in globalen Hektar) der totalen Biokapazität (ebenfalls in globalen Hektar gemessen), die die Natur in einem Jahr produzieren kann, entspricht. Nach diesem Tag, für den Rest des Jahres, häufen wir Abfall und ökologische Schulden an, indem wir am Grundstock des Naturkapitals zehren.4

Pull-Faktoren: Hin zu mehr Nachhaltigkeit

Dagegen finden sich Pull-Faktoren, die Anreize darstellen, sich nachhaltiger zu verhalten. In dem Maße, wie die Nachfrage durch aufgeklärte und umweltbewusste Konsumenten steigt, kann sich der bisherige Push-Ansatz künftig verstärkt in eine Pull-Wirkung verwandeln. Letztere steht im Zusammenhang mit dem häufig gehörten Ruf, Nachhaltigkeit müsse sich erst noch seinen Business Case schaffen, also sein Modell zur Gewinnerwirtschaftung und damit zur ökonomischen Legitimierung.

Während für politische Akteure meist die Sicherung der nationalen Ressourcen- und Existenzbasis im Vordergrund steht, sich Nichtregierungsorganisationen für von der Politik nicht abgedeckte Themenbereiche einsetzen, sehen wirtschaftliche Akteure den größten Nutzen von Nachhaltigkeit in Aspekten wie Innovation, Wettbewerbsvorteil und Differenzierung.

[28]Das soziale und ökologische Handeln großer Unternehmen wird zunehmend gesellschaftlich und global beobachtet. Diese Außenwirkung beeinflusst den Erfolg des Unternehmens. Nicht nur die Akzeptanz der Kunden hängt von dieser Außenwirkung ab, auch der Börsenkurs ist dadurch mitbestimmt. So zeigt die Einführung des Dow Jones Sustainability Group Index (DJSI) (→QR), dass Wertemanagement in seiner 30-jährigen Geschichte aktueller ist denn je. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts emnid unter 250 Führungskräften glauben 90 % der Befragten, nachhaltig ausgerichtete Unternehmen hätten langfristig einen größeren wirtschaftlichen Erfolg als ausschließlich profitorientierte. Nachhaltigkeit kommt dabei vor allem in sechs Kernbereichen zum Einsatz: Umwelt- und Klimaschutz, Unternehmenskultur und -ethik, Qualitätsmanagement, Human Resources, Führung und Corporate Citizenship (→QR).

Weltweites Geschäftspotenzial: 10 Bio. USD bis 2050

Besonders reizvoll sind in diesem Zusammenhang Meldungen und Einschätzungen von Experten wie die folgende: Eine bislang abwartend-skeptische Grundhaltung in Unternehmen wandelt sich immer stärker in eine positiv-erwartungsfreudige Einstellung. Im Rahmen des Projektes „Vision 2050“ (→QR) haben PricewaterhouseCoopers, die International Energy Agency, die OECD und die Weltbank Schätzungen der globalen Größenordnung möglicher weiterer Nachhaltigkeits-Geschäftschancen in wichtigen Sektoren im Jahr 2050 abgegeben. Ihre Prognosen zu den künftigen nachhaltigkeitsbezogenen Geschäftsmöglichkeiten belaufen sich bis 2050 auf drei bis zehn Billionen USD jährlich bzw. auf 1,5 bis 4,5 % des Weltbruttosozialproduktes. Insbesondere profitieren davon Sektoren und Wirtschaftsbereiche wie Energie, Landwirtschaft, Wasser, Metalle sowie Gesundheit und Bildung (siehe Abb. 4).

[29]

Abb. 4: Schätzung globaler Nachhaltigkeits-Geschäftschancen bis 2050 (Schätzungen von PwC auf Basis von Daten von IEA, OECD und Weltbank)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Nutzenpotenziale vor allem aus Einsparungen bei Ressourcen und Prozessen ergeben, die häufig gleichzusetzen sind mit Kosteneinsparungen. Wettbewerbsvorteile ergeben sich dabei etwa aus der Steigerung der Energie- und Materialeffizienz.

Insgesamt verweisen die vorangehenden Ausführungen darauf, dass das aktuell hohe Interesse am Thema Nachhaltigkeit in den aussichtsreichen Prognosen, dem hohen erwarteten Geschäftspotenzial und der Abwehr negativer Begleiterscheinungen bei der industriellen Produktion, kurz Umweltverschmutzung, begründet liegt. Dadurch ergibt sich zugleich ein Innovationsschub. Auf den Punkt gebracht: Sowohl Push- als auch Pull-Faktoren gewinnen auf Anbieter- und Nachfragerseite an Gewicht. Dies lässt sich mit einer Aufwärtsspirale vergleichen, die sich langsam gegen eine jahrzehntelange Stagnation des Themas durchsetzt.

[30]1.4 Widerstände gegen Wandel

Sei der Wandel, den du in der Welt sehen willst.

Mahatma Gandhi

Kein Wandel ohne Widerstand. Trotz Argumenten, die auf einen Innovationsschub, Erneuerung und Wachstum durch Nachhaltigkeit schließen lassen, legen sich die Widerstände nur langsam. Zweifel an Nutzen und Zukunftsfähigkeit von Nachhaltigkeit liegen in den befürchteten Trade-Offs begründet: Umweltverträglichkeit sei nur durch Umsatzeinbußen zu erreichen.

Eine besondere Herausforderung bildet der Umgang mit den Widerständen der Betroffenen. Veränderungen werden persönlich und beruflich oft als bedrohlich empfunden: Lediglich 5 %, die sogenannten Promotoren, unterstützen Veränderungsprozesse, die Hauptgruppen bilden die Skeptiker und Bremser mit jeweils 40 %. 15 % sind klare Gegner von Wandel (Mohr 1998).


Abb. 5: Einstellungen zum Wandel (Mohr (1998))

Obige Zahlen lassen sich auch auf den Umgang mit Nachhaltigkeit übertragen. Nachhaltigkeit ist zwar seit mehr als 40 Jahren ein Thema, konnte sich aber bislang nicht flächendeckend durchsetzen. Nachfolgend einige Gründe hierfür:

Befürchtung der Unvereinbarkeit wirtschaftlicher und ökologischer Ziele und Interessen
Angst, deshalb Trade-Offs in Kauf nehmen zu müssen, die zulasten des Profits gehen
mangelnde Operationalisierbarkeit aufgrund der Komplexität (Wechselwirkungen, Integrativität etc.)
mangelndes Wissen und Personal
Mangel an Rückhalt in Politik und Gesellschaft
[31]Verklärung, Gutmenschen-, Heile-Welt- und Pseudo-Weltuntergangs-Thema
Trittbrettfahrermentalität; keiner will den ersten Schritt tun
altes Denken, Sicherheitsdenken, Routine, Gewohnheit, Angst vor Neuem, Wandel und Unwägbarkeiten.

Für die Zukunft muss das Leitbild der Nachhaltigkeit in klaren Farben gemalt werden, damit es als gesamtgesellschaftliche Vision die Anziehungskraft bekommt, die für seine Umsetzung im globalen Maßstab notwendig ist.

1 von Hauff/Kleine (2009), S. 41

2 www.vbw-bayern.de/agv/vbwDie_bayerische_Wirtschaft-bayme_vbm_starten_NachhaltigkeitsOffensiveBrossardt_Nachhaltige_Unternehmen_sind_erfolgreicher--16734, ArticleID__21104.htm bzw.www.vbw-bayern.de

3 Haben wir alle Ressourcen bereits verbraucht, allen bewohnbaren Raum auf der Erde bereits ausgefüllt? In seinem spannenden TED-Talk-Vortrag nimmt Paul Gilding eine ebenso kritische wie hoffnungsvolle Haltung zum Zustand der Erde und den Chancen von Nachhaltigkeit ein. Siehe www.ted.com/talks/lang/en/paul_gilding_the_earth_is_full.html

4 Der ökologische Fußabdruck eines Berliners liegt bei 4,4 Hektar pro Jahr. Das bedeutet, dass zur Bereitstellung aller natürlichen Ressourcen zur Befriedigung der Konsumbedürfnisse einer in Berlin lebenden Person im Durchschnitt eine Fläche von 4,4 Hektar pro Jahr erforderlich ist, also mehr als sechs Fußballfelder. Für alle Einwohner Berlins zusammengenommen würde die Fläche damit mehr als 15 Millionen Hektar ausmachen. Würde man um Berlin einen Kreis mit dieser Größe legen, so würden Städte wie Rostock, Dresden und Braunschweig innerhalb des Kreises liegen und dieser sogar fast an Hamburg heranreichen.

Nachhaltigkeit

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