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Existenzielle Psychodynamik: Die Frage nach der Tiefe

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Ein weiterer Hauptunterschied zwischen der existenziellen Dynamik und der Freudschen oder Neo-Freudianischen Dynamik betrifft die Definition von »Tiefe«. Für Freud bedeutete Erforschung immer Ausgrabung. Mit der Bedachtsamkeit und Geduld eines Archäologen legte er die vielschichtige Psyche frei, bis er auf das Grundgestein stieß, eine Schicht fundamentaler Konflikte, die die psychologischen Überreste der frühesten Ereignisse im Leben des Menschen waren. Tiefster Konflikt bedeutete frühester Konflikt. Freuds Psychodynamik ist also entwicklungsmäßig bedingt, und »grundlegend« oder »primär« müssen chronologisch verstanden werden: Beide Begriffe bedeuten »zuerst«. Dementsprechend werden die frühesten psychosexuellen Traumata als »grundlegende« Quellen der Angst betrachtet: Trennung und Kastration.

Die existenziellen Dynamiken sind keinem Entwicklungsmodell verpflichtet. Es gibt keinen zwingenden Grund anzunehmen, dass »grundlegend« (das heißt wichtig, elementar) und »zuerst« (das heißt chronologisch zuerst) identische Konzepte sind. Aus einer existenziellen Perspektive tief zu forschen bedeutet nicht, dass man die Vergangenheit erforscht; es bedeutet vielmehr, dass man die alltäglichen Probleme beiseite lässt, und tiefgehend über seine existenzielle Situation nachdenkt. Es bedeutet, außerhalb der Zeit zu denken, über die Beziehung zwischen den eigenen Füßen und dem Boden unter uns, zwischen dem eigenen Bewusstsein und dem Raum um uns herum nachzu denken; es bedeutet, nicht über den Weg nachzudenken, wie man zu dem geworden ist, was man ist, sondern dass man ist.

Die Vergangenheit – das heißt unsere Erinnerung an die Vergangenheit – ist insofern wichtig, als sie Teil unserer gegenwärtigen Existenz ist und dazu beigetragen hat, auf welche Weise man sich mit den letzten Dingen auseinandersetzt; aber dies ist, wie ich später ausführen werde, nicht das lohnendste Gebiet für therapeutische Erforschung. Die-Zukunft-die-zur-Gegenwart-wird ist das primäre Tempus existenzieller Therapie.

Diese Unterscheidung bedeutet nicht, dass man existenzielle Faktoren in einem entwicklungsmäßigen Rahmen nicht erforschen kann (tatsächlich wird im dritten Kapitel die Entwicklung des Todesbegriffs beim Kind gründlich erforscht); aber sie bedeutet, dass Entwicklungsfragen nicht relevant sind, wenn ein Individuum fragt, »Welches sind die grundlegendsten Quellen der Furcht in diesem Moment, auf der tiefsten Ebene meines Seins?« Die frühesten Erfahrungen eines Individuums geben, obwohl sie unbestreitbar wichtig für das Leben sind, keine Antwort auf diese grundlegende Frage. Tatsächlich erzeugen die Überreste frühester Lebenserfahrungen biologische Störungen, die zur Verdunklung der Antwort beitragen. Die Antwort auf die Frage ist transpersonal. Es ist eine einschneidende Antwort in der persönlichen Lebensgeschichte jedes Individuums, eine Antwort, die zu jeder Person passt: Sie gehört zur »Situation« des menschlichen Wesens in der Welt.

Die Unterscheidung zwischen dem entwicklungsorientierten, dynamischen, analytischen Modell und dem unmittelbaren, ahistorischen, existenziellen ist von mehr als nur theoretischem Interesse: Wie ich in späteren Kapiteln erläutern werde, hat sie tief greifende Implikationen für die Technik des Therapeuten.

Existenzielle Psychotherapie

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