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Existenzialistische Philosophie: Das Heim der Ahnen

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»Existenzialismus kann nicht leicht definiert werden.« So beginnt die Diskussion existenzialistischer Philosophie in einer philosophischen Enzyklopädie.11 Die meisten anderen Quellentexte beginnen auf ähnliche Weise und unterstreichen die Tatsache, dass zwei Philosophen, die beide das Etikett »existenzialistisch« tragen, in jedem wesentlichen Punkt unterschiedlicher Meinung sein können (abgesehen von der Abneigung, so etikettiert zu werden, die sie beide teilen). Die meisten philosophischen Texte lösen das Problem der Definition, indem sie eine Liste von Themen aufführen, die mit Existenz in Zusammenhang stehen (zum Beispiel Sein, Wahl, Freiheit, Tod, Isolation, Absurdität), und indem sie behaupten, dass ein existenzialistischer Philosoph jemand ist, dessen Arbeit der Erforschung dieser Themen gewidmet ist. (Dies ist natürlich auch die Strategie, die ich verwende, um das Feld existenzieller Psychotherapie abzustecken.)

Es gibt eine existenzialistische »Tradition« in der Philosophie und eine formale existenzialistische »Schule« der Philosophie. Offensichtlich ist die existenzialistische Tradition zeitlos. Welcher große Denker hat nicht an irgendeiner Stelle, sowohl in seinem Werk als auch in seinem Leben, seine Aufmerksamkeit den Fragen von Leben und Tod zugewandt? Die formale Schule der existenzialistischen Philosophie hat jedoch einen eindeutig feststellbaren Beginn. Einige datieren ihn auf einen Sonntagnachmittag im Jahr 1834, als ein junger Däne in einem Café saß, Zigarre rauchte und über die Tatsache sinnierte, dass er auf dem besten Wege war, ein alter Mann zu werden, ohne einen Beitrag für diese Welt geleistet zu haben. Er dachte über seine vielen erfolgreichen Freunde nach:

Wohltäter des Zeitalters, die wissen, wie sie der Menschheit Gutes tun können, indem sie das Leben immer leichter machen, einige durch Eisenbahnen, andere durch Omnibusse und Dampfboote, andere durch Telegrafen, andere durch leicht verständliche Kompendien und kurze Wiedergaben alles Wissenswerten und schließlich die wahren Wohltäter des Zeitalters, die die spirituelle Existenz dank ihrer Gedanken in systematischer Weise immer leichter werden lassen.12

Seine Zigarre erlosch. Der junge Däne, Sören Kierkegaard, zündete sich eine neue an und sinnierte weiter. Plötzlich blitzte in seinem Kopf dieser Gedanke auf:

Du musst etwas tun, aber da es mit deinen begrenzten Fähigkeiten unmöglich sein wird, etwas leichter zu machen, als es schon geworden ist, musst du dich mit dem gleichen humanitären Enthusiasmus wie die anderen daran begeben, etwas schwerer zu machen.13

Er räsonierte, dass, wenn sich alle zusammenfinden, um alles leichter zu machen, die Gefahr besteht, dass die Leichtigkeit überhand nimmt. Vielleicht braucht es jemanden, der die Dinge wieder schwierig macht. Es schien ihm so, als hätte er seine Bestimmung entdeckt: Er sollte auf die Suche nach Schwierigkeiten gehen – wie ein neuer Sokrates.14 Und welche Schwierigkeiten? Sie waren nicht schwer zu finden. Er brauchte nur seine eigene Situation in der Existenz zu betrachten, seine eigene Furcht, seine Entscheidungen, seine Möglichkeiten und Begrenzungen.

Kierkegaard widmete den Rest seines kurzen Lebens der Erforschung dieser existenziellen Situation und veröffentlichte in den Jahren nach 1840 mehrere wichtige existenzialistische Abhandlungen. Sein Werk blieb viele Jahre lang unübersetzt und übte bis nach dem ersten Weltkrieg wenig Einfluss aus, bis es fruchtbaren Boden fand und von Martin Heidegger und Karl Jaspers aufgegriffen wurde.

Die Beziehung der existenziellen Therapie und der existenzialistischen Schule der Philosophie ist ganz ähnlich wie die der klinischen Pharmakotherapie zur biochemischen Grundlagenforschung. Ich werde mich oft auf philosophische Arbeiten beziehen, um einige der klinischen Fragen zu erklären, zu untermauern oder zu illustrieren; aber es ist nicht meine Absicht (und liegt auch nicht in der Reichweite meiner Gelehrsamkeit), die Arbeiten irgendeines Philosophen oder die wichtigeren Glaubenssätze existenzialistischer Philosophie in umfassender Weise zu besprechen. Dies ist ein Buch für Kliniker, und ich möchte, dass es klinisch nützlich ist. Meine Ausflüge in die Philosophie werden kurz und pragmatisch sein; ich werde mich selbst auf jene Gebiete beschränken, die eine Hebelwirkung für die klinische Arbeit anbieten. Ich kann es dem professionellen Philosophen nicht anlasten, wenn er mich mit einem raubenden Wikinger vergleicht, der Edelsteine ergattert, während er die feinen und wertvollen Fassungen zurücklässt.

Da die Ausbildung der großen Mehrheit der Psychotherapeuten wenig oder keine Betonung auf Philosophie legt, werde ich bei meinen Lesern keinen philosophischen Hintergrund voraussetzen. Wenn ich mich auf philosophische Texte beziehe, werde ich versuchen, dies in einer direkten, jargonfreien Art zu tun – was, nebenbei gesagt, keine leichte Aufgabe ist, da sich professionelle existenzialistische Philosophen und sogar die psychoanalytischen Theoretiker im Gebrauch einer verworrenen und gewundenen Sprache gegenseitig übertreffen. Der eine höchst bedeutsame Text in diesem Bereich, Heideggers Sein und Zeit, steht einsam da als der unangefochtene Champion linguistischer Verwirrung. Ich habe den Grund für die undurchdringliche, tiefgründig klingende Sprache niemals verstanden. Die grundlegenden existenziellen Konzepte selbst sind nicht komplex, sie brauchen nicht so sehr entschlüsselt und peinlich genau analysiert zu werden, sondern müssen enthüllt werden. Jeder tritt zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben in ein »dunkles Studium« ein und beschäftigt sich irgendwie mit letzten existenziellen Dingen. Nicht formale Explikation ist erforderlich: Die Aufgabe des Philosophen ebenso wie die des Therapeuten ist es, die Verdrängung wieder rückgängig zu machen und das Individuum wieder mit etwas vertraut zu machen, was er oder sie schon immer gewusst hat. Das ist genau der Grund, weshalb viele der führenden existenzialistischen Denker (zum Beispiel Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Miguel de Unamuno, Martin Buber) die literarische Ausdrucksweise der formal-philosophischen Argumentation gegenüber vorziehen. Darüber hinaus müssen der Philosoph und der Therapeut das Individuum dazu ermutigen, seine existenzielle Situation anzuschauen und sich ihr zu widmen.

Existenzielle Psychotherapie

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