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1.Kapitel Der alte Laden

Endlich waren Ferien und Anna freute sich darauf, ihre Freundin Isabell zu besuchen. Die beiden hatten sich schon im Kindergarten kennengelernt, waren in die gleiche Klasse gegangen und hatten jede freie Minute zusammen verbracht. Obwohl Isabells Familie vor ein paar Monaten in die Stadt umziehen musste, waren die beiden Mädchen immer noch beste Freundinnen.

Da Anna vor kurzem zehn Jahre alt geworden war, erlaubte ihre Mutter ihr diesmal allein mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um Isabell zu besuchen. Jetzt war sie schon fast zwei Stunden unterwegs und bald musste die richtige Haltestelle kommen. Ihren kleinen roten Koffer umklammert, schaute sie ungeduldig aus dem Fenster. Sie konnte es kaum abwarten, ihrer Freundin die Mitbringsel zu zeigen. Annas Oma Regina hatte den beiden Mädchen nämlich etwas von ihrer letzten Reise mitgebracht.

Jedes Jahr wagte sich die alte Dame an die außergewöhnlichsten und abenteuerlichsten Orte unserer Erde. Schon früher, als Opa Hans noch lebte, hatten die beiden zusammen die verschiedensten Reisen unternommen. Denn Opa war Archäologe gewesen und hatte in der Erde nach interessanten alten Gegenständen gegraben. Oma grub nicht nach Schätzen, aber sie liebte es, neue Gegenden zu erforschen, und so führte sie diese Tradition auch nach seinem Tod alleine fort.

Dieses Jahr hatte sie Sào Thomé, eine kleine afrikanische Insel, zu ihrem Reiseziel auserkoren. Jedes Mal brachte sie ihrer Enkelin Anna und deren Freundin Isabell ein kleines Souvenir mit, und diesmal waren es zwei Halsketten: Lederbänder mit jeweils einer Muschel, einer bunten Glasperle und einem pechschwarzen Stein, von dem niemand genau wusste, woher er kam.

Anna dachte, dass die Ketten auch Isabell sehr gefallen würden.

Sie strich sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und drückte ihre Nase an die Fensterscheibe. Große Häuser zogen an ihr vorbei, sie war nun bald da.

Schon von weitem konnte sie das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz erkennen, das ungeduldig an der Bushaltestelle auf und ab ging. Isabell erwartete sie schon.

Sofort drückte Anna den Halteknopf und rutschte aufgeregt auf ihrem Platz hin und her. Schließlich stand sie auf und positionierte sich schon einmal an der Tür. Kurz darauf sprang sie aus dem Bus und die beiden Mädchen fielen sich jubelnd um den Hals.


„Toll, dass du da bist!“, rief Isabell. „Es ist so langweilig ohne dich!“

Anna nickte: „Ich vermisse dich auch total! Super, dass ich euch besuchen kann.“

„Ja, endlich sind Ferien und wir können uns was länger sehen. Und weißt du was? Zur Feier des Tages macht Mama heute Abend Pizza!“

Fröhlich schnatternd machten sich die Mädchen auf den Weg zu Isabells Eltern.

„Schau mal, was Oma uns mitgebracht hat!“, rief Anna und schleuderte ihren Koffer auf Isabells Bett. Schon beim Aufklappen funkelten den Mädchen die Perlen entgegen.

„Sind die von dieser afrikanischen Insel?“, fragte Isabell und zog eine Kette heraus. Anna nickt, während ihre Freundin den schwarzen, glatten Stein musterte.

„Die sehen aus wie von richtigen Buschmännern!“ Beide streiften sofort die Lederbänder über und betrachteten sich im Spiegel.

„Sag deiner Oma vielen Dank!“

Die beiden richteten noch Annas Nachtlager her, indem sie die weiche Gästematratze neben Isabells Bett wuchteten und Anna darauf ihren Schlafsack ausrollte.

Kurze Zeit später waren die beiden auf dem Weg zum Spielplatz.

„Seit du das letzte Mal bei mir warst, haben sie eine neue Wellenrutsche auf dem großen Spielplatz gebaut, die muss ich dir unbedingt zeigen! Wir müssen uns nur ein bisschen beeilen, damit wir noch ordentlich Zeit zum Rutschen haben, bevor wir zum Abendessen wieder zu Hause sein müssen. Denk an die Pizza“, sagte Isabell während sie über den Zebrastreifen gingen.

„Wellenrutsche und dann Pizza, das wird ein toller Abend!“, rief Anna begeistert.

Vor einem Schaufenster blieb Isabell stehen und betrachtete ihre neue Kette in der Scheibe. „Schau mal, Anna, wie der Stein und die Perle glitzern! Richtig schön. Ich möchte die Kette am Liebsten jeden Tag tragen!“

Anna blickte auch ins Schaufenster, doch ihr fiel etwas anderes auf: Da hing ein kleiner, unauffälliger Zettel an der Scheibe. Das vergilbte Papier war lieblos mit Kreppband festgeklebt. Isabell wollte schon weitergehen, da murmelte Anna: „Komisch, hier stehen Öffnungszeiten. Der Laden macht um Mitternacht auf.“

„Welcher Laden?“, Isabell drehte sich wieder um. Anna zeigte auf den Zettel.

„Das kann ja keiner lesen!“, rief Isabell. Die Schrift war wirklich sehr krakelig. „Der das geschrieben hat, würde in Schönschrift aber höchstens eine Vier bekommen!“

„Aber wer hat das geschrieben?“, wunderte sich Anna.

„Das frage ich mich auch“, sagte Isabell und betrachtete das Haus näher. Es war klein, die Front bestand nur aus dem Schaufenster und der Eingangstür. Von dem Flachdach hingen ein paar Fetzen der Dachpappe herunter und die schwarze Farbe bröckelte ab. Die Fenster waren so schmutzig, dass man kaum hindurchschauen konnte. Innen standen nur ein paar Regale mit Gläsern und kleinen Päckchen. Man bekam wirklich keine Lust, hier etwas einzukaufen.

„Schau doch mal, wie schmutzig und heruntergekommen das hier aussieht.“ Die Mädchen drückten ihre Nasen an die Scheibe und sahen in den alten Laden hinein.

Jetzt konnten sie die Kisten und Kästen auf den Regalen besser erkennen. In einer Art Bonbonglas lagen rote Kugeln, die aussahen wie Clownsnasen. Daneben befand sich ein Glas mit verschiedenfarbigen Feuerwerkskörpern, wie Anna und Isabell sie von Silvester kannten. Vor dem Regal stand eine Kiste, sie war ebenfalls in der krakeligen Schrift mit „Irrlichter“ beschriftet.

„Da sind bestimmt auch Knaller drin!“, vermutete Anna.

„Ja, hier müssen wir unbedingt für Karneval und Silvester einkaufen gehen.“

„Aber hier steht, der Laden macht erst um Mitternacht auf und um drei Uhr nachts wieder zu. Wer kauft denn um diese Uhrzeit ein?“

„Seltsam, vielleicht hat sich da jemand vertan.“ Anna blickte sich um. „Wir müssen uns langsam sputen, es wird schon dunkel.“

„Stimmt, wenigstens einmal rutschen!“, meinte Isabell, als sie im Laden einen unheimlichen Schatten sah.

„Da ist jemand“, zischte Isabell erschrocken Anna zu. Sie zuckte zusammen. Die beiden huschten zur Seite und spingsten vorsichtig um die Hausecke in den Laden.

Jemand war die Kellertreppe hochgekommen und packte eine weitere Kiste aus. Die Gestalt war groß und sehr dünn, fast so dünn wie eine Regenrinne. Die langen Arme erinnerten an Gartenschläuche und ihre wenigen Haare standen borstig zu Berge.

Mit hektischen Bewegungen beförderte die Gestalt mehrere Gegenstände in ein Regal und hastete wieder die Treppe hinunter. Für einen kurzen Moment glaubten Isabell und Anna zu sehen, welche Hautfarbe die Figur hatte: Blau!


Verwirrt blickten sie sich an und dann wieder zurück zu der Kellertreppe. Doch die seltsame Gestalt war verschwunden. Die Mädchen standen verdutzt auf dem Bürgersteig, als Anna sich mit einem Mal an ihre neue Kette fasste.

„Was ist denn mit dem Stein los? Der ist plötzlich ganz warm!“

Auch Isabell nahm ihren Stein zwischen die Finger. Sie sog scharf die Luft ein. „Du hast recht. Aber nur der Stein, richtig warm!“

„Isabell, mir ist das hier unheimlich! Lass uns bitte schnell zum Spielplatz gehen!“

Erschöpft und zufrieden saßen die Mädchen später am Küchentisch. „Und, Kinder, wie ist die neue Rutsche? Musstet ihr anstehen?“, fragte Isabells Mutter, während sie den Kindern die Pizza Salami servierte. „War echt viel los!“, sagte Anna und nahm sich ein großes Stück. „Aber es lohnt sich! Mein Hintern tut weh vom vielen Rutschen!“

„Es freut mich, dass ihr Spaß hattet“, erwiderte Isabells Mutter und verteilte Servietten. „Denkt daran, Isabell, dass ihr gleich noch den Meerschweinchenkäfig saubermachen müsst, bevor ihr schlafen geht. Aber jetzt wird sich erst einmal gestärkt!“

Die Pizza schmeckte herrlich und war jetzt genau das Richtige.

Nach einigen Minuten zufriedenen Schmatzens begann Isabell: „Mama, der alte Laden macht wieder auf. Wir glauben, er verkauft Scherzartikel! Ich freu' mich schon!“

„Der alte Laden? Der steht doch schon seit Jahren leer. Das Ding müsste erst einmal renoviert werden. So schnell wird da nichts verkauft!“, erwiderte Isabells Mutter und schenkte Saft aus.

Anna schüttelte den Kopf. „Nein, nein! Da hing ein Zettel mit Öffnungszeiten und überall stehen Regale und Kisten.“

Die Mutter setzte sich zu den Mädchen an den Tisch und runzelte die Stirn. „Das kann nicht sein. Ich bin heute noch dort vorbeigegangen, und da war gar nichts.“

„Hast du richtig nachgeschaut?“, fragte Isabell mit vollem Mund.

„Mit vollem Mund spricht man nicht“, ermahnte Isabells Mutter.

„Da sind weder Kisten noch Kästen, und Regale hab ich auch keine gesehen. Der Laden steht komplett leer, und da waren auch keine Plakate an der Scheibe.“

„Nur ein Zettel, wir haben nur einen Zettel gesehen“, verteidigte sich Anna. Isabell nickte heftig, doch ihre Mutter lächelte nur.

„Da hat sich sicher jemand einen Scherz erlaubt. Seitdem der alte Herr Lörcher damals verschwunden ist, hat den Laden niemand mehr betreten. Sein Sohn lässt das Haus verfallen, obwohl man doch etwas daraus machen könnte. Das ist wirklich eine Schande.“

Anna hatte aufgehört zu kauen. „Wer ist Herr Lörcher? Und warum ist er verschwunden?“

Isabell antwortete: „Er hatte einen Gemüseladen dort und war echt nett, aber immer etwas kauzig. Als ich einmal bei ihm war, hat er mir seine riesige Steinsammlung gezeigt. Ich mochte ihn. Eines Tages war er plötzlich verschwunden. Da war ich noch im Kindergarten. Alle Nachbarn haben mitgesucht.“

Annas Augen wurden immer größer, als Isabells Mutter weiter erzählte. „Da war was los hier! Jetzt kann ich es dir ja erzählen, Isabell. Damals warst du noch zu klein für diese Geschichte. Sie haben ihn in eine Nervenklinik eingeliefert. Er ist immer verrückter geworden und hat sich eingebildet, seltsame Schatten und Dinge zu sehen, die es gar nicht gibt. Er sagte, es spukt bei ihm. Das war natürlich Quatsch. Nach langem Suchen fand man ihn draußen vor der Stadt. Der Polizei sagte er, er sei auf dem Weg zu seinen durchsichtigen Freunden. In seinem Koffer waren aber keine Anziehsachen, sondern nur ein Dutzend Steine, eine Gasmaske und 20 Gläser mit Marmelade. Der arme Mann! Jetzt geht es ihm gut in der Klinik. Er sieht keine Dinge mehr!“

Isabell und Anna blickten sich an. „Was für Dinge?“, riefen sie aus einem Mund.

„Esst jetzt. Sonst wird die Pizza kalt!“

Der alte Laden

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