Читать книгу Schrottreif - Isabell Morf, Isabel Morf - Страница 13

3. Teil

Оглавление

Die Ladenglocke ertönte, herein kam Frau Zweifel. Frau Zweifel fuhr nicht Velo. Sie war 80 Jahre alt. Sie wohnte im selben Haus, einen Stock über FahrGut. Valerie freute sich, sie zu sehen. Vor über 30 Jahren war sie bei ihr zur Schule gegangen. Frau Zweifel war im Quartier, im Ämtlerschulhaus, Primarlehrerin gewesen. Längst war sie pensioniert. Auch wenn sich das Quartier in den letzten Jahrzehnten stark verändert hatte, Leute weggezogen waren, andere sich hier niedergelassen hatten, kannte Salome Zweifel bis heute viele der Viertelbewohner. Einige hatten bei ihr lesen und schreiben gelernt. Nicht nur Valerie, auch ihr ungeliebter Kunde Hugo Tschudi, Angela Leglers Mann und sogar Paul Schiesser waren ihre Schüler gewesen. Sie wohnte in der eigenen Wohnung und dachte nicht daran, ins Altersheim zu ziehen. Zweimal pro Woche lieferte Pro Senectute Mahlzeiten, die Frau Zweifel nur aufzuwärmen brauchte; eine Putzfrau hielt die Wohnung sauber und bügelte, und wenn sie krank war, bestellte sie jemanden von der Spitex. Zudem hatte ihr Hausarzt, Doktor Hefti, seine Praxis im selben Haus. So kam sie sehr gut zurecht, obwohl ihr diese und jene Altersgebrechen zu schaffen machten. Aber im Kopf war sie völlig klar. Und dann gab es noch Raffaela, ihre Großnichte. Salome Zweifel war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Aber Raffaela, die Enkelin ihres Bruders, schaute regelmäßig bei ihr vorbei.

»Guten Morgen«, grüßte sie, »haben Sie gerade viel zu tun?« Obwohl sie Valerie als Siebenjährige gekannt hatte, nahm sie es sich nicht heraus, sie zeitlebens zu duzen, und Valerie war ihr dankbar dafür.

»Nein«, erwiderte Valerie, »heute läuft nicht viel.« Sie hatte ein Rad in den Bock eingespannt, dessen Lenker sie auswechseln musste. Es war ein Citybike, das statt eines sportlichen Mountainbike-Lenkers einen bequemen Hollandlenker bekommen sollte. Sie rückte für Frau Zweifel einen Stuhl zurecht. »Ich freue mich, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten.«

Markus und Luís waren im hinteren Teil der Werkstatt zugange. Frau Zweifel grüßte unsicher nach hinten. Luís lächelte, Markus reagierte nicht. Typisch, dachte Valerie genervt, dieser Stockfisch.

Valerie hatte eben eines der Bremskabel des Vorderrads mit einem Inbusschlüssel gelöst, nun griff sie nach einem Gabelschlüssel und machte sich am Schaltkabel des Hinterrads zu schaffen. »Wie läufts denn in Ihrem Kurs?«

»Gut«, gab Frau Zweifel Auskunft. »Das ist gar nicht so schwierig mit diesem Internet, wie ich gedacht hatte. Das war eine gute Idee von Raffaela.«

Valerie lachte. Sie kannte Frau Zweifels Großnichte nur flüchtig, denn Raffaela Zweifel war keine Radfahrerin. Sie war eine gut aussehende junge Frau Mitte 20. Typ Partygirl. Fröhlich, lebenslustig – und bewundernswert souverän auf ihren High Heels. Raffaela Zweifel, die in der Nähe als Sekretärin arbeitete, war weit davon entfernt, sich um ihre Großtante zu kümmern, indem sie sich mit ihr zum Kuchenessen traf. Das hätte sie zweifellos gelangweilt. Sie hatte sie dazu angestiftet, sich einen Laptop zu kaufen, und sie eifrig in dessen Benutzung eingeführt. ›Schreib deine Erinnerungen auf‹, hatte sie vorgeschlagen, ›Geschichten, wie es früher war.‹ Kurze Zeit später hatte sie ihr einen Internetanschluss eingerichtet und sie zu einem Internetkurs für Senioren angemeldet. Als Geschenk zum 80. Geburtstag. Das hatte die alte Frau zuerst etwas überrumpelt, aber dann hatte sie Gefallen daran gefunden.

Alle Achtung, dachte Valerie, während sie sich daranmachte, die Lenkergriffe zu entfernen. Sie fuhr mit einem dünnen Schraubenzieher unter den Gummi und sprühte etwas Kriechöl in den Spalt. Nun ließen sich die Griffe herunterschieben. Valerie wischte das Öl sorgfältig vom Lenker.

Sie hatte sich schon oft mit der alten Frau unterhalten und wusste, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte. In ihrer Jugend hätte sie gern Mathematik studiert, aber das Höchste, was ihr Vater ihr damals zugestanden hatte, war eine Ausbildung zur Primarlehrerin gewesen. Da hatte sie wenigstens mit Kindern zu tun. Was sie da lernte, konnte sie später bei den eigenen Kindern anwenden. Eigene Kinder hatte sie dann aber nicht. Aber sie unterrichtete gern. Kinder waren so lernfähig, sie lernten von Geburt an, egal ob sie versunken spielten, herumtobten, sich stritten, Fragen stellten oder etwas beobachteten. Sie lernten, weil sie wissen wollten, wie die Welt funktionierte, in der sie lebten. Man musste also so unterrichten, hatte die junge Lehrerin Salome Zweifel gefolgert, dass die Kinder das, was sie ihnen beibrachte, tatsächlich wissen wollten. Und sie hatte Erfolg. Wenn sie ihre Klassen nach drei Jahren an den Viert- bis Sechstklasslehrer abgab, waren sie mit dem Schulstoff regelmäßig weiter, als es der Lehrplan vorschrieb, vor allem im Rechnen. Natürlich änderten sich die didaktischen Methoden im Laufe der Jahrzehnte, aber Salome Zweifel hatte davon nur das übernommen, was ihr sinnvoll erschien. Wenn sie in der Zeitung las, dass immer mehr Leute auch nach acht Schuljahren nicht richtig lesen konnten, schüttelte sie nur den Kopf. Lesen war eine einfache Kulturtechnik. Auch ein nicht sehr gescheites Kind – oder wie man heute sagte, ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus – konnte diese erlernen, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Wenn das in acht Jahren nicht klappte, stimmte etwas mit der Schule ganz grundsätzlich nicht.

Neben dem Unterricht pflegte sie weiterhin ihre geheime Leidenschaft, die Mathematik. Sie verfolgte ihre Entwicklung aus der Distanz, las Artikel darüber auf der Seite Forschung und Technik der Neuen Zürcher Zeitung, verschlang Biografien von Mathematikern, verfolgte die Entstehung der Informatik. Besonders beeindruckte sie Heinz Rutishauser, Informatiker an der ETH, ein Pionier der Computerwissenschaften. Er war im gleichen Dorf aufgewachsen wie sie, war aber einige Jahre älter. Trotz dieser Interessen hatte Salome Zweifel eine Scheu vor den elektronischen Medien. Irgendwie schienen sie einer anderen Zeit anzugehören, in der sie, Salome, zwar lebte, aber mit der sie nicht so eng verbunden war wie mit früheren Zeiten. Die Pensionierung war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Eigentlich hätte sie sich jetzt an der Universität immatrikulieren und Mathematik studieren können. Aber sie traute es sich nicht mehr zu. Ich werde alt, hatte sie gedacht, nein, ich bin alt, die Dinge überholen mich. Es hatte die junge, unbekümmerte Raffaela gebraucht, um sie aus dieser Unsicherheit und Resignation herauszuholen. ›Unsinn, Salome‹, hatte sie resolut erklärt, ›das muss man heutzutage können. Du auch. Und das schaffst du mit links.‹ Und die alte Frau stellte fest, dass sie zwar langsamer lernte, aber nicht so eingerostet war, wie sie gedacht hatte.

»Raffaela fürchtet, ich könnte mich langweilen, allein in der Wohnung«, erzählte sie nun Valerie. »Sie hat mir von diesen Chatrooms erzählt, in denen man Leute von überall her kennenlernen kann. Zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen aus Australien. Oder Leute, die Anagramme basteln. Oder ich könnte im Internet kanadische Zeitungen lesen. Das hat mich natürlich schon interessiert, auch wenn es bald 50 Jahre her ist, seit ich in Kanada gelebt habe. Immerhin war ich zwei Jahre dort.«

»Waren Sie schon auf der Website von FahrGut?«, wollte Valerie wissen. Sie hängte die Brems- und Schaltkabel, die mit kleinen Köpfchen gesichert waren, aus der Bremse und der Gangschaltung aus. Dann hob sie den Lenker aus dessen Vorbau heraus.

»Ach, so weit bin ich bisher nicht. Wir haben im Kurs erst das mit diesen E-Mails gehabt. Das ist alles ein wenig verwirrend. Das Internet ist ja offenbar riesig. Wie finde ich denn Ihre Seite?«

Valerie erklärte es ihr.

»Ich habe jetzt immerhin eine E-Mail-Adresse«, erzählte Frau Zweifel, »und Raffaela schreibt mir täglich eine kurze Nachricht aus dem Büro. Sie ist wirklich ein liebes Mädchen. Auch wenn sie sich etwas verrückt anzieht. Sie hat diese Stelle nun schon länger als ein Jahr und ihr Chef ist offenbar sehr zufrieden mit ihr. – Ihre E-Mails beantworte ich natürlich. Das ist Ehrensache. Wenn ich täglich nachsehe, vergesse ich zudem mein Passwort nicht. Im Kurs haben sie uns gesagt, wir sollten es auswendig können und nicht notieren. Aber mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

»Sie müssten eins wählen, das Sie sich gut merken können.« Valerie hatte den Mountainbike-Lenkervorbau, dessen Krümmung nach unten zeigte, aus dem Rahmen entfernt und setzte den neuen Vorbau, dessen Krümmung nach oben verlief, ein. Darauf kam der neue Lenker. Sie erzählte Frau Zweifel die Geschichte aus Umberto Ecos Roman ›Das Foucaultsche Pendel‹. Wie Casaubon am Computer des verschwundenen Jacopo Belbo sitzt und versucht, an dessen Dateien heranzukommen, obwohl er das Passwort nicht kennt. ›Hast du das Passwort?‹, fragt ihn der Computer höflich. Nach stundenlangen vergeblichen Versuchen ist Casaubon mit den Nerven völlig am Ende und er tippt wütend ›Nein‹ ein. Und siehe da, dieses Wort war das Passwort. Frau Zweifel lachte.

»Ja, so etwas Narrensicheres müsste ich auch haben. Eine Frage, die die Antwort enthält. Eine Eingabeaufforderung, die das Passwort beinhaltet. Ein passendes Wort.« Sie kicherte. Sie hatte Freude an Wortspielen, gleichermaßen gefielen ihr Valeries Werbeslogans, in denen sie mit ihrem Namen spielte. Früher hatte sie mit den Namen ihrer Bekannten und ihrer Schülerinnen und Schüler Anagramme ausgetüftelt.

Ihr würde schon was einfallen, dachte Valerie. Sie holte die neuen Brems- und Schaltkabel, die etwas länger waren als die alten.

Es war kurz nach 16 Uhr. Adele kam, wie oft auf dem Nachhauseweg von der Schule, auf einen Sprung vorbei. Valerie hätte sie gerne auf ihre Bemerkung vom Vortag angesprochen, aber dazu hätte sie mit ihr allein sein wollen. Frau Zweifel war gerade dabei, ihr zu erklären, dass sie sich Fotos, die sie mit ihrer Handykamera aufnahm, per MMS auf den Laptop schickte. Adele blickte sehnsüchtig auf das Handy. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie eins hatte. Frau Zweifel hingegen besaß eines, weil ihre Nichte es ihr praktisch aufgedrängt hatte. ›Du musst eins haben‹, hatte sie bestimmt erklärt. ›Wenn du irgendwo hinfällst, mit deinen Schwindelanfällen, musst du dir Hilfe organisieren können.‹ Sie hatte ihr natürlich nicht das billigste gekauft, sondern eines, und das machte das Teil so spannend für Adele, mit dem man Fotos machen und sogar kurze Filme drehen konnte. Das hätte das Mädchen so gern ausprobiert. Sie wünschte sich eines zu ihrem Geburtstag, aber ihre Eltern machten ihr keine Hoffnungen.

»Warum schieben Sie die Fotos nicht per Kabel auf Ihren Laptop rüber?«, schlug Valerie vor. »Wäre doch einfacher und billiger als per MMS.« Von einer Rolle zwackte sie vier abgemessene Stücke Kabelhülle ab, schob nacheinander die zwei Bremskabel und die zwei Schaltkabel hinein und zog sie hindurch. Sie hängte oben die Kabelköpfchen ein und legte die Kabel entlang des Lenkervorbaus und des Rahmens nach unten.

»Ach, das funktioniert irgendwie nicht, Raffaela hat es versucht.« Frau Zweifel zuckte die Achseln. »Aber es geht auch so. Übrigens werde ich auf meine alten Tage noch Fotoreporterin.«

Fotoreporterin? Adele hörte gespannt zu.

»Schauen Sie, das haben sie im Kurs verteilt.« Sie kramte eine Broschüre aus ihrer Handtasche hervor und reichte sie Valerie. Ein Wettbewerb für Senioren. Vom Sozialamt organisiert. Seniorinnen und Senioren sehen ihr Quartier. »Kleine Reportagen mit Texten und Fotos des Quartiers, in dem man wohnt. Was meinen Sie, soll ich da mitmachen?«

»Klar!«, rief Valerie. »Sie leben doch schon so lange hier. Kennen das Quartier, die Leute, haben Erinnerungen, haben die Veränderungen miterlebt.« Sie befestigte die Kabel an den Bremsen und der Gangschaltung. Mit einem Inbusschlüssel drehte sie die feinen Schräubchen fest.

»Dürfte ich in Ihrem Geschäft Fotos machen?«

Valerie machte eine einladende Geste. »Jederzeit.« Sie löste das Fahrrad aus der Halterung, stellte es auf den Boden, ersetzte den schwarz übermalten Sticker durch einen neuen und schob es in den hinteren Werkstattbereich. Nun würde sie noch die Gangschaltung überprüfen und wahrscheinlich neu einstellen müssen.

Adele wusste, dass sie langsam nach Hause gehen sollte. Aber sie konnte sich kaum losreißen. Sie wusste plötzlich, was sie werden wollte: Fotoreporterin. Am liebsten gleich. Aber dafür bräuchte sie einen Laptop. Ein Handy. Einen Fotoapparat. Es war hoffnungslos, wenn man zehn Jahre alt war. Sie streichelte Seppli und machte sich auf den Heimweg.

Auch Frau Zweifel verabschiedete sich. Valerie blieb zurück, etwas getröstet, und nahm sich die nächste Reparatur vor. In der letzten Stunde hatte sie die üble Geschichte ganz vergessen. So sollte es sein, dachte sie, nette Kunden, Nachbarinnen, die zum Plaudern kommen, Arbeit, auch mal nervige Kunden, das gehört dazu. Normal sollte es sein, einfach alltäglich. Was war denn bloß in der letzten Zeit los? Angefangen hatte es mit den übermalten Stickern, dann die Diebstähle, jetzt Drohungen, Belästigungen – was sollte das Ganze? Standen diese Dinge in einem Zusammenhang? Würde es sich noch weiter steigern? Plötzlich stieg eine leise Furcht in ihr auf. ›Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.‹ Hatte ein Geistesgestörter sie ins Visier genommen?

Es hatte schon eingedunkelt, als Valerie nach Hause fuhr. Sie nahm heute nicht wie sonst den Fußweg am Fluss entlang, sondern blieb auf der Straße. Nun lasse ich mich doch einschüchtern, gestand sie sich ein, ein bisschen ärgerlich auf sich selbst. Sie war normalerweise unerschrocken, hatte auf Velotouren allein draußen übernachtet, ohne Angst zu haben. Aber im Moment fühlte sie sich nicht auf sicherem Boden.

Als zu Hause das Telefon klingelte, schaute Valerie erst aufs Display, bevor sie sich meldete. Diesmal war es wirklich Lina. Sie erzählte ihr die ganze Geschichte, und ihre Freundin reagierte beunruhigt. Vor einigen Jahren war ihr eine Zeit lang ein Stalker nachgestiegen, ein Typ, der in einer Ausstellung ihre Bilder gesehen und ein Porträt über sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Er hatte sich eingebildet, sie seien füreinander bestimmt, und war, als Lina diese Idee nicht teilte, zunehmend aggressiv geworden. Es ging so weit, dass er sie auf der Straße tätlich angriff. Daraufhin war er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Aber Lina steckte die Geschichte noch in den Knochen. Sie riet Valerie, Telefonanrufe mit unbekannter Nummer gar nicht entgegenzunehmen oder sofort abzubrechen, wenn sich der Unbekannte meldete. »Er will dir ja Angst machen, und wenn du gar nicht reagierst, interessiert es ihn vielleicht nicht mehr.« Valerie hoffte, dass es wirklich nur darum ging, sie in Schrecken zu versetzen. Ganz überzeugt war sie nicht. Als sie zu Bett ging, stellte sie den Klingelton des Telefons wieder auf null.

Schrottreif

Подняться наверх