Читать книгу Schrottreif - Isabell Morf, Isabel Morf - Страница 5

1. Teil

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Jetzt reichts, jetzt ermorde ich diese schreckliche Angela, beschloss Valerie Gut. Sie lächelte böse. Und zwar heute Abend. Es war Mitte März, kurz vor 19 Uhr. Draußen dämmerte es. Ein recht milder, frühlingshafter Tag neigte sich dem Ende zu; kaum war die Sonne verschwunden, war die Temperatur empfindlich gesunken. Die Fahrräder waren hineingeräumt. Markus Stüssi, der Mechaniker, und Luís Zafar, der Anlehrling, waren eben gegangen. Valerie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Wind trieb einen Papierfetzen vor sich her, eine Passantin zog sich im Gehen Handschuhe über, eine Tram näherte sich vom Bahnhof Wiedikon und nahm mit einem Quietschen die Kurve zur Haltestelle Schmiede Wiedikon. Das war Zürich im Vorfrühling. Valerie schloss die Ladentür ab. Die Fahrradsaison beginnt jedes Jahr eher, dachte sie. Der erste warme Tag des Jahres und schon kamen den Leuten ihre Räder in den Sinn, die in Kellerabteilen überwintert hatten und dringend einer Überholung oder einer Reparatur bedurften. Obwohl, dachte Valerie seufzend, wir doch einen vergünstigten Winterservice anbieten. Aber die Leute konnten natürlich kommen, wann sie wollten. Und ziemlich viele hatten heute kommen wollen. Na ja, gut für den Umsatz. Markus hatte eines der neu eingetroffenen, teuren Mountainbikes verkauft. Nach den Wintermonaten, in denen nicht viel lief, hatte sich Valeries Crew auf die Saison einzustellen begonnen. Das Schaufenster war passend zur Jahreszeit dekoriert: künstlicher Rasen mit Plastikblümchen, darauf ein Rad mit Picknickkorb auf dem Gepäckträger. Aber auf das Schlussbouquet, dachte Valerie, hätte ich gerne verzichten können. Dafür gedachte sie, sich jetzt zu rächen. Endlich. Ein für alle Mal. Sie hatte sich von dieser Frau viel zu viel bieten lassen. Sie ging langsam ins Büro hinunter, dicht gefolgt von Seppli, ihrem kleinen grauen Hundemischling.

Sie starrte auf die weiße Porzellanmöwe, die ihren Schnabel in ein Porzellanrosenblatt tauchte. Es war ein Weihnachtsgeschenk von Luís’ Eltern. Es mit nach Hause zu nehmen, hatte Valerie nicht fertiggebracht. Es wegzuwerfen, ebenso nicht. Also stand der Vogel im Büro auf einem Regal an der Wand und Luís war sehr zufrieden damit.

Eine halbe Stunde vor Ladenschluss hatte Angela Legler das Geschäft beehrt. Angela Legler war eine ihrer Stammkundinnen. Leider. Weshalb, war Valerie ein Rätsel, denn FahrGut war es noch nie gelungen, die Dame zufriedenzustellen. Sie war eine durchtrainierte Person mit ungesund gebräunter Lederhaut, die jedes Wochenende mit ihrem Mann Passfahrten unternahm. Vor einem Jahr hatte sie ein schmales, federleichtes Rad mit allen technischen Schikanen für ihre Bergfahrten gekauft, allerdings in einem langwierigen, für die Gut-Crew aufreibenden und nervenzehrenden Prozess: Die Farbe des Rahmens war eine Nuance zu hell. Beim Pedalen nahm sie ein schwaches schabendes Geräusch wahr. Sie hatte sich überlegt, dass sie doch den schmaleren Sattel wollte. Könnte man nicht, bitte, den anderen Lenker montieren, nur damit sie sah, ob der nicht besser war. Sie hatte aber doch lieber wieder den ersten haben wollen. Und so weiter. Ende letzter Woche hatte sie das Rad gebracht, um das Rücklicht reparieren zu lassen, was Markus am Samstag erledigt hatte.

Valerie hielt sich im Hinterhof auf, als sie hörte, dass Angela Legler im Laden herumschrie. Sie warf einen Blick hinein. Luís hatte der Kundin das Rad aushändigen wollen, worauf sie, nach einem flüchtigen Blick, ausgerastet war und ihn beschuldigt hatte, die Bremse ausgewechselt zu haben. Luís, ein Portugiese, dessen Deutschkenntnisse ausreichten, um die Attacke ungefähr zu verstehen, aber nicht, um sie zu parieren, verwies auf den Mechaniker und brachte sich in Sicherheit. Markus Stüssi wischte sich die ärgste Karrenschmiere von den Händen und schob sich langsam und vierschrötig in den Verkaufsteil des Ladens.

»Ihr habt an meinem Rad die Bremse ausgewechselt!«, tobte Angela Legler, 40-jährig, normal intelligent, von Beruf kaufmännische Angestellte – und jetzt offenbar völlig durchgedreht. Sie wollte die ursprüngliche Bremse, das teure Spitzenspezialmodell, wiederhaben. Sofort. Markus studierte den Reparaturzettel und das Rad eine Weile, betrachtete die Spezialbremse und schüttelte den Kopf.

»Wir haben die Bremse nicht ausgewechselt«, sagte er. »Hier steht: ›Licht reparieren.‹ Das habe ich erledigt. Am Samstag.«

Angela wurde noch wütender und verlangte ihre Superbremsen. Jetzt. Sofort.

Markus zuckte die Schultern. Sagte nichts. Es war offensichtlich, dass er mit dieser Kundin und ihrem Anliegen nichts anzufangen wusste.

Valerie war klar, dass das eine der Situationen war, in denen die Chefin gefragt war. Sie kam herein, Seppli dicht hinter ihr, Angela stampfte ihr entgegen, baute sich vor ihr auf und setzte zu einer Auflistung aller Verfehlungen von FahrGut in den letzten zwei Jahren an. Seppli knurrte leise.

Valerie sah rot. Sie sagte: »Raus! Nimm dein Velo und verschwinde. Definitiv. Die Lichtreparatur ist ein Abschiedsgeschenk.«

Angela holte tief Luft.

»Raus!«, befahl Valerie nochmals etwas lauter. Sie spürte einen Adrenalinstoß durch ihren Körper fahren und dachte: Valerie, gib acht. Sie machte einen Schritt auf Angela Legler zu, und diese wich zwei zurück. Valerie wurde bewusst, dass sie noch immer das Messer in der Hand hielt, mit dem sie draußen Kartonagen zerschnitten hatte.

»Meine Bremse, das werde ich euch heimzahlen!«, stieß Angela hervor, bevor sie ihr Rad packte und machte, dass sie wegkam.

Luís, der Valerie ohnehin bewunderte, applaudierte beeindruckt, während Markus sich ohne Kommentar wieder seiner Reparatur zuwandte. Großartig, dachte Valerie. Sie kannte ihr impulsives Temperament und erlaubte sich nicht mehr als zwei Zornesausbrüche pro Saison unverschämten Kunden gegenüber. Nun hatte sie schon ganz zu Beginn einen davon verbraucht. Zudem kam ihr jene Marketingstudie in den Sinn, gemäß der verärgerte Kunden ihren Frust durchschnittlich bei elf Leuten abluden, während es zufriedenen Kunden reichte, ihre Geschichte viermal weiterzuerzählen. Angela Legler würde die Szene von vorhin vermutlich mindestens 20-mal zum Besten geben.

»Räumen wir zusammen«, wies sie ihre Angestellten an, »es ist gleich halb.« Luís stellte die Fahrräder und den Ständer in den Laden, Markus führte den Diebstahlcheck durch, während Valerie die Kasse übernahm. Der Diebstahlcheck war leider nötig geworden. Seit mindestens einem halben Jahr wurde bei FahrGut regelmäßig geklaut. Mehrmals pro Woche. Immer einzelne Stücke, teures, qualitativ hochwertiges Zubehör. Helme, Schlösser, Sättel. Regenjacken. Es ging ins Geld. Mal 90 Franken. Mal 200. Mal 130. Und nicht nur das. Schlimmer war der unterschwellig allgegenwärtige Argwohn, den Valerie ihren Kunden gegenüber entwickelt hatte, ein leises Misstrauen, wenn sie jemanden bediente, der Gedanke: Bist du vielleicht der Dieb, auch wenn du jetzt so harmlos eine Kinderfahrradglocke kaufst? Wollte jemand dem Geschäft schaden?

»Ein Set Satteltaschen fehlt. 145 Franken«, meldete Markus.

Valerie fluchte. »Und ihr habt beide nichts gesehen?«

Betretenes Kopfschütteln. Sie war ungerecht, Valerie wusste es. Sie hatte ja ebenfalls nichts bemerkt. Seltsam war es schon, dass sogar Dinge verschwanden, die nicht so einfach zu verbergen waren wie Kilometerzähler oder Sport-T-Shirts. Aber Valerie wusste, dass andernorts ganze Musikanlagen aus Geschäften hinausgetragen wurden.

»War Tschudi heute mal da?«, fragte sie.

Luís nickte. Insgeheim hatte Valerie Hugo Tschudi im Verdacht, die Diebstähle zu begehen. Er war Kunde – nun ja, ›Kunde‹ war ein großes Wort. Ein komischer Vogel, fuhr einen Schrottesel, mit dem er wieder und wieder in den Laden kam. Irgendetwas daran zu flicken gab es immer. Aber vermutlich kam er gar nicht deshalb. Hugo mochte um die 50 sein, wirkte ungepflegt, schien nicht zu arbeiten. Er war lang und hager, die meist ungewaschenen Haare hingen ihm ins Gesicht, die Kleider stammten aus dem Brockenhaus, einem Secondhandladen. Irgendwie war er der Zeit in den 70er-Jahren vom Karren gefallen und dort hocken geblieben. Er kam, um Gesellschaft zu haben, um seine Weltanschauung zu predigen – und möglicherweise, um schönes Fahrradzubehör abzustauben und weiterzuverkaufen, mutmaßte Valerie gereizt. Von irgendetwas musste er ja leben. Sie entließ Markus und Luís in den Feierabend und schloss hinter ihnen ab.

Anschließend warf sie einen Kontrollblick auf die Fahrräder, die auf ihre Reparatur warteten. Wieder entdeckte sie eines mit einem schwarz übermalten FahrGut-Sticker. Komisch, dachte sie. Das fiel ihr seit einigen Monaten auf, dass immer wieder Räder in die Werkstatt kamen, bei denen der kleine, grün-weiß gestreifte Werbesticker, der auf dem Schutzblech jedes bei ihr gekauften Velos klebte, unkenntlich gemacht worden war. Valerie hatte die Kunden nie darauf angesprochen. So wichtig war es ja nicht. Sie fand es einfach ein bisschen seltsam. Ging jemand mit einem dicken schwarzen Filzstift durch Zürich, der es auf ihre kleinen Werbebotschaften abgesehen hatte? Der Gedanke war absurd. Und doch. Es gab ja auch jemanden, der klaute. Gab es eine Verbindung zwischen diesen beiden Vorgängen? Gab es eine Person, die etwas gegen FahrGut hatte? – Ach was, Unsinn, rief sich Valerie zur Ordnung. Erst mal war es so, dass sie ein Problem mit jemandem hatte: Angela Legler. Valerie stieg die Gitterwendeltreppe entschlossen hinab in den unteren Stock.

Dort waren die große Fahrradausstellung, die Velobekleidung samt Umkleidekabine, eine Kinderecke und ihr Büro untergebracht. Der Hund folgte ihr, er war ihr immer auf den Fersen. Seinen Pfoten zuliebe hatte sie auf der Metalltreppe kleine Spannteppichstücke platziert. Im Büro startete Valerie Gut den Computer und klickte sich in die Kundenkartei. Gab den Buchstaben L ein. Da war sie. Legler, Angela. Name, Adresse, Telefon, E-Mail-Adresse. Bearbeiten. Markieren. Delete. Gelöscht. ›Ermorden‹ nannte Valerie es, wenn sie einen besonders unangenehmen Kunden aus der Versandliste entfernte. Sie tat es selten. Aber mit Befriedigung. Angela Legler war für sie gestorben.

Schrottreif

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