Читать книгу Schrottreif - Isabell Morf, Isabel Morf - Страница 9
2. Teil
ОглавлениеValerie kam aus einer kurzen Mittagspause zurück. Spaziergang mit Seppli, eine Cola und ein Sandwich mit scharfer Salami und roter Paprika aus dem Paradicsom nebenan, im Gehen verzehrt. Sehr ungesund, hätte Lorenz, der Arzt war, erklärt. Aber der hatte ja schon länger nichts mehr zu sagen. Zudem, dachte Valerie trotzig, könnte ich auf das Salatblatt zwischen Brötchen und Salami und auf das Stück Paprika verweisen. Trotzdem kaufte sie rasch am Marktstand vor der Migros einen Apfel. Dann schob sie sich einen Nikotinkaugummi in den Mund. Sie war von Gauloises blau umgestiegen, als Lorenz ihr in einer ihrer innigeren und leidenschaftlicheren Phasen gesagt hatte: ›Ich verzeihe es dir nie, wenn du mit Mitte 50 Krebs bekommst.‹ Das hatte Valerie imponiert. Nun, mittlerweile hatte es sich so entwickelt, dass Lorenz sich kaum darum scheren würde, was mit ihr Mitte 50 sein würde. Ihr Kontakt war nach der Trennung abgerissen. Aber beim Kaugummi war sie geblieben.
Markus war dabei, einem Kunden die neu eingetroffenen Cannondale-Mountainbikes vorzuführen. Der Kunde, ein junger Mann, schien sich auszukennen, fragte nach technischen Details, verglich die verschiedenen Modelle miteinander. Valerie deutete an, dass sie ins Büro hinunterginge und man sie, wenn nötig, rufen könne.
Sie wollte Anzeigen entwerfen. Sie inserierte regelmäßig im Tagblatt, im Quartier-Anzeiger, im Tachles, in der Zeitung der orthodoxen Juden – da in Wiedikon ein großer Teil der jüdisch-orthodoxen Bevölkerung Zürichs wohnte – und in der Frauenzeitung. Lange hatte es ihr Spaß gemacht, in ihren Werbetexten mit ihrem Namen zu hantieren, Wortspiele zu kreieren. Aber das verbrauchte sich mit der Zeit. Gewisse klassische Slogans behielt sie bei, schlichte Aussagen wie ›Gute Räder bei Gut‹. Aber sie fand, sie musste ihre Palette etwas erweitern, und hatte vor, sich einem Brainstorming zu überlassen. Nach unzähligen durchgestrichenen Ideen, zerrissenen Blättern, verworfenen Slogans textete sie schließlich ›Warum wie auf Nadeln sitzen? – Satteln Sie Ihr Fahrrad bei uns‹, ergänzt durch ›Gute Sättel bei Gut‹, in kleinerer Schrift am unteren Rand.
Sie hörte ein leises Klopfen und sah auf. Durch die Glasscheibe erblickte sie Adele Goldfarb und winkte sie herein.
»Störe ich?«, fragte Adele und streichelte rasch Seppli.
»Nein, komm nur, ich bin gerade fertig geworden.«
Adele war zehn Jahre alt, wohnte in der Nachbarschaft und kam auf dem Heimweg von der Schule ab und zu bei ihr vorbei. Valerie hatte das Mädchen gern und freute sich, wenn sie kam. Sie war fröhlich, selbstsicher, aufgeweckt, wollte alles wissen. Die Porzellanmöwe fand sie toll. Valerie kannte drei ihrer älteren Brüder, die ebenfalls bei ihr ein und aus gegangen waren; Sruli, Alexander und Aron. Alle mit Löckchen vor den Ohren, kleinen Käppchen, einer Portion unbekümmerten Neugier und großer Diskussionslust. Es war ihnen bewusst, dass bei ihnen zu Hause andere Werte vertreten wurden als außerhalb, und sie erprobten gerne ihre Weltanschauung an den abweichenden Auffassungen von Valerie. Alexander hatte die Plastikdinosaurier in der Kinderecke entdeckt und wollte wissen, was das für Tiere seien. Valerie hatte ihm erzählt, dass sie vor über 100 Millionen Jahren auf der Erde gelebt hätten, dass sie riesengroß gewesen seien und man nicht genau wisse, warum sie ausgestorben sind. Das Alter der Erde war für Alexander aber nicht verhandelbar gewesen. Gott hat die Erde vor 5.766 Jahren geschaffen, da konnte es nicht vor viel, viel längerer Zeit Dinosaurier gegeben haben. Sicher nicht.
Valerie, die nicht viel über die jüdischen Bräuche wusste, unterhielt sich gern mit den Kindern. »Warum dürft ihr nicht gleichzeitig Milch und Fleisch essen?«, fragte sie deshalb eines Tages Alexander.
Der wusste Bescheid. »In der Tora steht, dass man ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen darf«, hatte er erklärt. Und hatte mit kindlicher Logik hinzugefügt: »Das ist doch klar. Das Kleine soll die Milch seiner Mutter trinken.«
»Wie ist es denn für euch, wenn wir Weihnachten feiern und auf den Plätzen große Weihnachtsbäume stehen?«, hatte sie sich ein anderes Mal erkundigt.
»Wir haben auch schöne Feste«, hatte Alexander erzählt. »Im Winter haben wir Chanukka, das Lichterfest, da zünden wir Kerzen an. Und Geschenke geben wir einander an Purim. Dann verkleiden wir uns.« Die Kinder kamen offenbar ganz selbstverständlich zurecht mit den beiden Welten, in denen sie lebten.
Die meisten Kinder der jüdisch-orthodoxen Familien im Quartier hatten panische Angst vor Seppli, überhaupt vor Hunden. Valerie hatte nie herausfinden können, warum. Die kleinen Goldfarbs waren die Ersten, die sich dem gefährlichen Mysterium Seppli näherten. Der Pionier war nicht Sruli gewesen, der Älteste, sondern Alexander, der Zweite. Er hatte eines Tages Seppli gestreichelt, zwei Tage später wieder. Am dritten Tag war Aron, der Kleine, mitgekommen, der seinen großen Bruder erst ungläubig bewunderte; ihm dann kurz entschlossen nacheiferte und Seppli ins grau gelockte Fell fuhr. Von da an war der Bann gebrochen. Um ihren Mut für sie selbst und die Eltern zu verewigen, hatte Valerie von jedem der Goldfarb-Buben ein Foto mit Seppli machen müssen. Irgendwann war Adele aufgetaucht. Drittklässlerin. Zahnlücke, frecher Blick, ein etwas zu langes Kleidchen für eine Neunjährige, fand Valerie.
»Ich war mit meinem großen Bruder schon mal bei Ihnen«, hatte sie gesagt und sich gründlich umgesehen. »Sie, was ist das für ein Werkzeug? Was machen Sie damit?« Valerie hatte erklärt. Irgendwann war die Kleine mit dem Wunsch herausgerückt, wie ihre älteren Brüder mit Seppli fotografiert zu werden.
»Klar«, hatte Valerie zugestimmt, den faulen Hund aufgescheucht und von den beiden vor dem Laden ein Bild gemacht. Stolz war Adele mit der Aufnahme abgezogen.
Adele trug immer Strumpfhosen und langärmlige Blusen, sogar im Sommer. Valerie hatte sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß sei.
Die Kleine hatte gleichgültig die Schultern gezuckt. »Bei uns ist es halt so, alle Mädchen sind so angezogen. Und wenn ich groß bin, verdecke ich mir die Haare wie meine Mutter. – Es ist wegen unserer Religion«, hatte sie hinzugefügt. »Aber manchmal«, hatte sie Valerie anvertraut, »wenn es gar zu warm ist, kremple ich ein wenig die Ärmel hoch. Aber nur bis hier.« Sie deutete auf die Mitte ihres Unterarms.
Adele besah sich die Inseratvorlage. »Den Spruch finde ich lustig«, stellte sie fest, »aber die Zeichnung ist nicht gut genug. Sie müssen einen Sattel zeichnen, aus dem Stecknadeln herausschauen, und daneben einen, der weich ist, vielleicht könnten Sie ein richtiges Kissen daraufmalen.«
Valerie versprach, sie werde schauen, was sich machen lasse, und Adele bot an, ihrem Bruder die Anzeige anzukündigen, damit er Platz in der Zeitung freihielt. Sruli, der älteste der Goldfarb-Söhne, akquirierte neuerdings als Lehrling die Inserate für die Zeitung der orthodoxen Juden, und Adele genoss es, Valerie zuliebe ihre Connections spielen zu lassen.
Plötzlich fragte Adele: »Was sind Neonazis?«
Valerie fühlte sich überrumpelt und ein wenig überfordert. Wusste das Mädchen, wer die Nazis gewesen waren? Wie gingen jüdische Eltern mit solchen Informationen um? Wurden zehnjährige Kinder über alles informiert oder wurden sie geschützt, bis sie älter waren?
»Nicht wahr, die Neonazis mögen Juden nicht?«, fuhr Adele fort.
»Das stimmt«, bestätigte Valerie.
»Wissen Sie, warum?«
Valerie überlegte einen Moment, weil sie das Kind nicht mit einer billigen Antwort abspeisen wollte.
Aber Adele fragte schon weiter: »Gibt es in der Schweiz viele Neonazis?«
»Nein«, schüttelte Valerie den Kopf, »es sind nur wenige.«
»Kennen Sie selbst Neonazis?«
»Nein, mit Neonazis mag ich nichts zu tun haben. Ich kenne niemanden, der so denkt.«
Adele bedachte sie mit einem langen Blick.
»Fragst du mich das aus einem bestimmten Grund, Adele?«, hakte Valerie nach. »Möchtest du mir etwas erzählen?«
Die Kleine schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich muss nach Hause, meine Mama wartet auf mich«, erklärte sie und stieg die Wendeltreppe hinauf. Sie blieb nochmals stehen: »Ich kenne einen Neonazi. Er mag mich nicht.« Dann war sie weg.
*
Eine Minute später stand Markus vor Valerie. Er wirkte beunruhigt. Der sportliche Typ, der sich Mountainbikes habe zeigen lassen, sei von einer Probefahrt nicht zurückgekehrt. Wann er denn losgefahren sei, wollte Valerie wissen. Vor einer Stunde, gab Markus zu.
»Hast du ihm ein Pfand abgeknöpft?«, fragte Valerie.
»Ja, die Identitätskarte.«
»Na, dann ist ja gut. Wir rufen ihn einfach an«, meinte Valerie, der es vor Jahren einmal passiert war, dass sie unfreiwillig ein Fahrrad gegen eine Jeansjacke eingetauscht hatte. Die Jacke war ihr überdies zu groß gewesen. Lorenz hatte sie deshalb eine Weile getragen.
Sie rief den jungen Mann an, der tatsächlich zu Hause war; den Vorwurf, ein Fahrrad angesehen zu haben und zu einer Probefahrt aufgebrochen zu sein, aber weit von sich wies. Das Rätsel wurde rasch und unerfreulich aufgeklärt. Seine Identitätskarte war ihm an diesem Morgen gestohlen worden, zusammen mit einer Reihe weiterer Ausweise. Er hatte den Diebstahl der Polizei bereits gemeldet und war im Moment dabei, Kreditkarten und andere Chipkarten unschädlich zu machen beziehungsweise sperren zu lassen. Armer Tropf. Immerhin erhielt er jetzt seine ID wieder. Er kam vorbei und er war in der Tat nicht jener Kunde, der zur Probefahrt gestartet war. Ein ähnlicher Typ, jung, blond, sportlich. Valerie machte Markus keinen Vorwurf, sie hätte vermutlich ebenfalls nicht so genau hingeschaut und sich austricksen lassen. Aber verdammt unangenehm war es schon. Sie ging zum zweiten Mal an diesem Tag zum Polizeiposten hinüber, diesmal in Begleitung eines betretenen und eines unschuldigen jungen Mannes und erstattete Anzeige.
Kurz nach 19 Uhr kam sie nach Hause und schaute nach ihrer Post. Im Postkasten lag ein Paket. Ohne Absender. Valerie runzelte die Stirn. Geburtstag hatte sie nicht und bestellt hatte sie auch nichts. Der Hund schnupperte.
»Na«, fragte Valerie lachend, »ist das für dich? Hast du heimlich Hundefutter bestellt? Passt es dir nicht mehr, was ich dir vorsetze?«
Irgendwie schien es auch ihr, dass das Paket ein bisschen roch. In der Wohnung riss sie es auf. Sie starrte ein paar Sekunden auf den Inhalt. Ihr Herz klopfte heftig, noch bevor ihr Verstand begriff.
»Verdammte Scheiße«, rief sie aus. Zornestränen schossen ihr in die Augen. In dem Paket lag ein toter Fisch. Ein Fisch, der schon eine ganze Weile verendet war. Ein toter Fisch mit glasigen Augen, einem grauen Leib, der jetzt deutlich stank. Sie legte die Schachtel ab und scheuchte den Hund weg. Halb verborgen unter dem Fisch entdeckte sie einen Bogen Papier. Sie zog ihn heraus. ›Beste Grüße‹ stand darauf. Nichts weiter. Der Text bestand aus Buchstaben, die aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren. Sie wollte den Zettel schon zerreißen, hielt aber inne. Moment, dachte sie, der Anruf gestern Nacht. Jetzt das Paket. Bevor sie weiter überlegen konnte, klingelte das Telefon. Lina hatte doch gesagt, sie würde heute Abend anrufen. Valerie hob ab. »Lina!«, rief sie. Es war nicht ihre Freundin.
Es war wieder dieses Kichern von gestern Nacht, dieses Flüstern: »Valerie, wie gefällt dir das? Sieht nicht schön aus, so ein toter Fisch, oder? Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.«
Valerie legte augenblicklich auf. Ihr Zorn war verflogen. Sie hatte auch keine Angst. Sie war plötzlich ganz kühl. War das eine Art Todesdrohung gewesen? Ich muss etwas unternehmen, dachte sie. Sie legte das Paket auf den Balkon und setzte sich an den Küchentisch. Es konnte keine ernst gemeinte Drohung sein. Es gab niemanden, der sie umbringen wollte, da war sie sich sicher. Aber es gab offensichtlich jemanden, der sie in Angst und Schrecken versetzen wollte. Wer? Warum? Hatte er gewusst, dass sie um diese Zeit nach Hause kam? Sie würde sich das nicht bieten lassen. Morgen früh vor der Arbeit würde sie auf dem Polizeiposten vorbeigehen.