Читать книгу Ein reines Wesen - Isabella Archan - Страница 10

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Harro schreckte hoch.

Er war eingedöst, während er Willas Hand gehalten hatte. Jetzt hatten ihn Geräusche von draußen geweckt. Nicht die üblichen Schritte oder das Geschirrgeklapper. So spät am Abend gab es keine Essenausgabe mehr und nur wenige Leute waren in den Gängen unterwegs. Die Besuchszeit war ohnehin vorbei, er hätte längst das Zimmer verlassen müssen. Er ging davon aus, dass die Nachtschwester ihn mit hängendem Kinn und geschlossenen Augen sitzen gesehen und ihn aus Mitleid nicht verscheucht hatte.

Langsam nahm sein Verstand seine Funktionen wieder auf.

Tine hatte sich übers Handy gemeldet, der junge Pfleger hatte sie tatsächlich angesprochen. Harro hatte beide zum Essen fortgeschickt und versprochen, nachzukommen. Eine halbe Stunde hatte er sich zusätzlich herausnehmen wollen, doch in der Zeit musste er eingeschlafen sein.

Er ordnete das Geräusch ein.

Es war ein Schrei gewesen.

Er warf einen schnellen Blick zur schlafenden Willa. Bestand Gefahr für sie? Konnte es sein, dass ein Feuer ausgebrochen war? Hatte es einen Alarm gegeben?

Ein nächster langgezogener Schrei erklang von draußen. Weiter entfernt. Diesmal gab es keinen Zweifel. Etwas war geschehen oder geschah immer noch.

Harro stolperte hastig zur Tür, riss sie auf und wollte hinausstürzen. Im selben Moment spürte er, wie jemand gegen ihn stieß. Kopf gegen Kopf. Automatisch fing er den Körper vor ihm auf.

»Oh Gott, das tut mir leid.« Er räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«

Die Person in seinen Armen schüttelte den Kopf. Beugte sich zurück.

»Hat da jemand geschrien?« Harro sah kurz hoch, wieder zurück. »Ist mit Ihnen wirklich alles okay?«

Diesmal ein Nicken und der Versuch, sich aus Harros unfreiwilliger Umarmung zu befreien.

Eine neue Abfolge von Schreien setzte ein, die signalisierten, dass hier irgendwo nichts okay war. Harro meinte »Hilfe, Hilfe« zu verstehen. Zwei Ärzte kamen gelaufen, Harro kannte einen vom Sehen, aber keinen von beiden hatte er je bei Willa angetroffen.

Immer mehr Türen öffneten sich.

Ohne sich weiter um die Person zu kümmern, schloss sich Harro ihnen an.

Sie liefen den Gang entlang, durch die Flügeltür, die Treppen hoch. Einen Halbstock höher kam ihnen eine Krankenschwester entgegen. Sie stoppte keuchend.

»Frieda hat Karin gefunden. Lutz ist auch da. Und Mike. Schnell, kommen Sie. Karin, es geht um Karin. Oh Gott, oh Gott.«

Vor der ersten Tür im nächsten Flur konnte Harro einen Pfleger sehen, der sich an der Wand abstützte.

»Frieda will nicht herauskommen. Sie beginnt immer wieder zu schreien.« Seine Stimme klang heiser. »Ich konnte nicht drinbleiben. Sorry. Aber Lutz ist noch im Zimmer. Und zwei Patienten. In ihren Betten. Sie haben Todesangst.«

»Was ist passiert, zum Teufel? Lassen Sie mich durch.«

Einer der Ärzte schob den Pfleger zur Seite und verschaffte sich Zutritt. Der zweite drehte sich zu Harro um.

»Wer auch immer Sie sind. Sie dürfen nicht mit hinein.«

»Harro deNärtens. Leiter der Rechtsmedizin Köln. Vielleicht kann ich helfen.«

»Doktor Daniels, Ingo Daniels.«

»Was für eine verdammte Scheiße«, rief Arzt Nummer eins aus dem Zimmer.

Statt Harro weiter den Zutritt zu verwehren, schob Dr. Daniels ihn jetzt wie ein Schutzschild vor sich her. Aus dem Zimmer ertönte ein nächster einzelner Schrei, der hoch war und schrill und in Harros Ohren ein Klingeln verursachte.

Die Szenerie im Krankenzimmer war gespenstisch. Das helle Neonlicht ließ die Gesichter die Anwesenden kalkweiß erscheinen. Zwei Betten waren belegt. Einer der beiden männlichen Patienten mit einem eingegipsten Bein zog sich gerade am Galgen hoch und stöhnte. Der andere saß bereits kerzengerade aufrecht und blickte verständnislos um sich.

Auf dem Boden, neben dem vorderen Krankenbett, lag eine Frau in unnatürlich gekrümmter Haltung.

Einen halben Meter davor kniete eine andere, die Hände vors Gesicht geschlagen. Ein weiterer Mann in einem Pflegeranzug war anwesend, er stand wie angewurzelt, bewegte sich nicht. Arzt Nummer eins hatte die Hände in die Hüften gestemmt, fluchte nicht mehr.

Von dem gekrümmten Körper am Boden konnten die Hilferufe nicht gekommen sein.

Die Frau war eindeutig tot. Nicht nur das. Sie war, ebenso glasklar, ermordet worden. Erwürgt. Ihre Augäpfel waren hervorgetreten und ihre Zunge hing wie eine fette Made unnatürlich dick über ihren blauen Lippen. Dazu kamen die typischen Würgemale am Hals.

Dr. Daniels beugte sich über die zweite Anwesende, die vor dem Opfer kniete. »Frieda, bitte, kommen Sie. Hilfe ist da. Wir sind da.«

Er versuchte sie hochzuziehen, doch sie kauerte sich stattdessen enger zusammen und begann zu wimmern.

»Was sollen wir tun?«, fragte der Arzt Harro, als wären die beiden Mediziner Briefträger oder Barkeeper, die eben ihre erste Leiche entdeckt hatten.

»Als erstes kümmern wir uns um die Lebenden.« Harro übernahm die Führung. »Lassen Sie den Pfleger eine Trage holen und Frieda hier aus dem Zimmer bringen. Zuerst braucht sie eine Beruhigungsspritze.«

Der erstarrte Pfleger taute abrupt auf und gehorchte, als hätte er nur auf eine Anweisung gewartet. Harro öffnete ihm die Tür. Von draußen war Stimmengewirr zu hören.

»Soll ich die Leute wegschicken?« Dr. Daniels sah hoch.

»Nein, bleiben Sie bei Frieda, um die draußen kümmern wir uns später.«

Die Frau begann sich zu wiegen. Der Arzt nahm sie in den Arm.

»Kann ich aufstehen?«, fragte der Patient mit dem Gipsbein.

Harro schüttelte den Kopf. »Nein, bleiben Sie bitte alle beide in Ihren Betten. Gleich wird man sich um Sie kümmern.«

»Das ist Schwester Karin.« Er zeigte nach unten, ohne hinzusehen. »Sie war immer so freundlich.«

Es klopfte und der Pfleger kam zurück, an seiner Seite eine Krankenschwester mit einem Tablett, auf dem eine Spritze vorbereitet lag. Sie stieß einen spitzen Laut aus, als sie die Tote sah.

»Geben Sie ihr die Spritze, Dr. Daniels. Sofort. Und Sie, Schwester, helfen Sie ihm. Los, machen Sie.«

Harro blieb bei seinem strengen Ton. Das Krankenhauspersonal war es gewohnt, mit Krankheit und Tod umzugehen, aber nicht mit einem Kapitalverbrechen.

Dr. Daniels nahm der Schwester das Tablett ab. Die ging in die Knie und schob den rechten Ärmel ihrer Kollegin nach oben. Widerstandslos ließ sich Frieda die Injektionsnadel in den Oberarm stechen und im Anschluss vom Pfleger hochheben.

»Bringen Sie sie raus. Los.«

Als die Tür geöffnet wurde, sah Harro, dass sich eine Menschentraube davor gebildet hatte.

Harro wandte sich an Dr. Daniels Kollegen, der immer noch die Hände in die Hüften gestemmt hatte.

»Kümmern Sie sich zusammen mit der Schwester um die beiden Kranken. Schieben Sie sie in ihren Betten ebenfalls vorsichtig aus dem Zimmer. Passen Sie dabei auf, dass Sie die Position der Leiche nicht weiter verändern.«

Die Krankenbetten quietschten, als sie über den Boden geführt wurden. Keiner sagte ein weiteres Wort. Dr. Daniels hielt die Tür auf.

Endlich kam Ruhe in den Raum. Harro und Dr. Daniels blieben bei der Toten zurück. Das Krankenzimmer sah plötzlich verlassen und groß aus.

»Wir müssen die Polizei verständigen.« Dr. Daniels flüsterte.

»Übernehme ich sofort.« Harro nickte dem Arzt zu. »Wir sollten nichts mehr anfassen.«

Er holte sein Handy aus seiner Hosentasche und wählte Kraus’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln wurde der Anruf angenommen.

»Ja?«

»Hallo, Peter. Hier Harro.«

»Hab’ es auf dem Display gesehen. Hallo.« Der Hauptkommissar klang verschlafen.

»Die späte Störung hat einen Grund, Peter. Im Evangelischen Krankenhaus in Weyertal ist ein Mord geschehen.«

»Bitte? Was? Ist mit Willa alles in Ordnung?«

»Ja, ist es. Mit ihr hat es, Gott sei Dank, nichts zu tun. Ich bin vor Ort und stehe vor der Leiche einer Krankenschwester. Ich gehe davon aus, dass bereits jemand den Notruf gewählt hat und die Polizei jede Sekunde eintrifft. Ich wollte, dass du und dein Team ebenfalls Bescheid wisst, damit du die Sache schnell in die Hand nehmen kannst. Ist ohnehin dein Revier.«

Peter Kraus legte auf.

Harro klopfte Dr. Daniels auf die Schulter.

Von der Straße her erklangen Sirenen.

Keine weitere Viertelstunde später waren auch Willas Kollegen vor Ort.

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