Читать книгу Ein reines Wesen - Isabella Archan - Страница 9

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Der neu transformierte Schmetterling bewegte sich umsichtig.

Zuerst langsam in Schleifen den Gang entlang.

Trotzdem stieß er gegen einen Rollstuhl, den einer der Pfleger achtlos neben der Toilettentür hatte stehen lassen. Der Schmerz im unteren Bein hätte ihn fast aufschreien lassen.

Er bedeckte seine Lippen. Das Latex der Handschuhe fühlte sich staubig an und roch nach verdorbenen Eiern. Zeit, sie auszuziehen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er seine bloßen Hände, die eben einen Mord begangen hatten, und sah doch nur die feinen schwarzen Beinpaare eines Insekts, an denen sich dornenartige Haken befanden.

Illusion und Realität überlappten sich. Wieder schlug er mit den Flügeln und wagte es, auf seiner Flucht Geschwindigkeit aufzunehmen.

Nach der offenen Doppeltür kam eine Treppe. Auf dem Weg nach unten schwirrte er in der Luft, wechselte in einen Zickzackkurs. Auf dem nächst unteren Stockwerk lagen die Intensivzimmer.

›Zutritt nach Anmeldung‹, war auf einem Schild zu lesen. Daneben ein Klingelknopf. Doch die Anmeldung war verwaist. Während des Schichtwechsels und so spät am Abend war die Chance hoch, dass der Schmetterling ungesehen weiterfliegen konnte.

Wenn er es schaffen würde, auch diesen Gang zu durchqueren, kam er ins hintere Treppenhaus. Er wollte zu einem der Personalausgänge, der von dort aus zu erreichen war. Diese Tür ließ sich ausschließlich von innen öffnen. An der Stelle saß kein Pförtner.

Der Schmetterling versuchte sich daran zu erinnern, wer ihm von all den Dingen und Namen, die er wusste, erzählt hatte. Wer hatte ihm das Krankenhaus gezeigt? Ein Bild tauchte auf. Eine Gestalt. Liebe. Schmerz. Hass.

Stopp. Zuviel.

Nicht mehr denken. Nicht mehr fühlen. In seinem Hirn löschte er das Leben vor der Transformation. Im Grunde war es nicht wichtig. Nicht im Moment. Das Gebäude ungesehen zu verlassen, war sein Ziel.

Doch noch bevor er ans Ende des Flurs kam, gab es eine Abfolge von unerwarteten Ereignissen.

Zuerst war ein markerschütternder Schrei von oben zu hören.

Der Schrei, nein, das Schreien, denn bei einem blieb es nicht, würde ziemlich rasch die Menschen aus den Stationen und Zimmern locken. Zumindest die, die fähig waren, ihre Betten zu verlassen. Samt denen, die sie betreuten.

Dass die tote Frau so schnell entdeckt worden war, erschreckte den Schmetterling nun doch. Panik durchflutete ihn.

Seine Flügel schienen ihm den Dienst zu versagen, schwer wie Blei zu werden. Seiner Fortbewegung beraubt, erstarrte der Schmetterling und hielt sich an einer der Türklinken fest, um nicht zu Boden zu gehen.

Genau diese Tür wurde aufgerissen und der Schmetterling fiel in die Arme eines Mannes. Ein Zusammenstoß ihrer Köpfe folgte.

»Oh Gott, das tut mir leid.« Der Fremde räusperte sich. »Haben Sie sich verletzt?«

Der Schmetterling wollte antworten, doch sein Rüssel war nicht dafür gemacht. Er bewegte also seinen Kopf von links nach rechts und wieder zurück.

»Hat da jemand geschrien?«

Der Mann sah sich um.

Das Insekt bog seinen Oberkörper zurück, um sich aus der unfreiwilligen Umklammerung zu befreien. Jede Sekunde konnte der Unbekannte die Transformation erkennen. Und dann? Würde er ebenfalls zu schreien beginnen?

»Ist mit Ihnen wirklich alles okay?« Noch eine Nachfrage des Mannes.

Bevor der Schmetterling mit seinem Kopf von oben nach unten und wieder zurück wippen konnte, folgten nächste Rufe von oben. Diesmal konnte man »Hilfe, Hilfe« verstehen.

Zwei Ärzte kamen den Gang entlanggelaufen, blass sahen sie aus, als wären sie eben aus dem Schlaf gerissen worden. Sie hasteten im Gleichschritt Richtung Treppenhaus. Weitere Türen öffneten sich. Der Fremde ließ los und schloss sich den Laufenden an, ohne zurückzusehen.

Der Schmetterling huschte mit letzter Kraft in das Krankenzimmer hinein. Kaum drinnen gab sein Körper nach. Er lehnte sich an die Wand, rutschte nach unten, kam in eine sitzende Position. Draußen am Gang war jetzt Stimmengewirr zu hören und jemand brüllte um Ruhe.

Hier drinnen waren die Geräusche gedämpft.

Es herrschte keine Stille, die gab es in einem Intensivzimmer nie. Ein stetiger Piepton und ein regelmäßiges Klacken waren zu hören. Leise Atemgeräusche. Der Schmetterling schloss sich dem fremden Atemrhythmus an, atmete ebenfalls ein und wieder aus. Immer weiter ein und aus, um die Schwere abzuschütteln, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen.

Auf den Schwingen der Nacht gilt es zu entfliehen, dachte er.

Ein Anflug von Humor gab ihm die nötige Energie, sich vom Boden hochzustemmen. Er würde noch ein paar Minuten in diesem Zimmer ausharren, bis sich die Menschen draußen alle zum Schauplatz des Verbrechens aufgemacht hatten, und dann verschwinden.

Eine Frage stellte sich. Wie gefährlich konnte eine mögliche Entdeckung durch den Fremden, der den Schmetterling aufgefangen hatte, werden? Überhaupt keine Gefahr. Von ihm war nichts zu befürchten. Er war durch die Schreie in seiner Aufmerksamkeit völlig abgelenkt gewesen.

Der Schmetterling trippelte näher ans Krankenbett.

Jetzt konnte er die Frau darin sehen.

Die Haut war bleich. Den Kopf, der auf dem Kissen ruhte, umspielten dunkle Locken. Die Schläuche, die von Nase und Mund zu den lebenserhaltenden Geräten führten, wirkten wie Schlangen, die sich zu dem schmalen Körper unter dem Laken geschlichen hatten.

Der Anblick berührte den Schmetterling. Anders als für die Tote vorhin, empfand er Mitleid.

Eine der dunklen Locken war über die Stirn und Wange der Patientin gerutscht und der Schmetterling beugte sich vor. Er streckte sein Insektengliedmaß aus, um die Haare zurückzuschieben und berührte die Haut der Schlafenden. Weich. Kühl und zart. Unter den geschlossenen Lidern rollten die Augäpfel.

Was für Träume sie wohl heimsuchten? Welche Gestalt sie im körperlosen Nichts schwebend annehmen mochte?

Der Schmetterling schloss nun ebenfalls die Augen. Blieb über der Frau gebeugt stehen, verharrte eine Weile wie in Trance. Als wäre mit der Berührung ein Stichwort gefallen, setzte die Rückverwandlung ein, die ohne weitere Komplikationen ablief. Er hatte sich entschlossen, in Menschengestalt weiter unterwegs zu sein.

Einige Minuten später verließ eine Person das Zimmer, ging den Flur entlang bis zum Notausgang.

Erneut unbeobachtet.

Ein reines Wesen

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