Читать книгу Ein reines Wesen - Isabella Archan - Страница 16

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Das Schwimmbad im Hotel am Triller war am Morgen bereits gut besucht.

Diese Frühschwimmer waren drei Senioren und zwei Mütter mit Kleinkindern. Dazu ein jüngerer Mann, der sich kraulend von Beckenrand zu Beckenrand bewegte und rücksichtslos an den anderen vorbeizog.

Willa passte in keine dieser Kategorien.

Sie war hier, weil sie ohnehin seit fünf Uhr keinen Schlaf mehr gefunden hatte. Die kleine Flasche Wein aus der Minibar vor dem Zubettgehen hatte sie zwar schnell einschlafen lassen, aber wilde Träume hatten sie heimgesucht.

Willa zog ihre Bahnen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sie drehte sich oft, wechselte die Haltung. Das Brustschwimmen bereitete ihr Schmerzen. Egal, ob sie sich Zeit ließ, wie der letzte Physiotherapeut es ihr geraten hatte, oder ob sie mit zusammengebissenen Lippen ihren Körper antrieb und trotz der Qual bis zum Beckenrand durchhielt.

Die Hüfte war es, die höllisch weh tat, seit ihrer Rückkehr aus dem Dornröschenschlaf, wie Harro es gerne benannte. Das Wort Koma vermied er genauso wie die Kollegen und Willas Mutter.

Zu Anfang waren die Schmerzen über ihren gesamten Körper verteilt gewesen. Jeder Muskel schien sich zurückgebildet zu haben, jedes Gelenk versteift. Ihr Nacken knackte während den ersten Behandlungen derart laut, dass sie jedes Mal erschrak und befürchtete, ihre Wirbelsäule könnte brechen. Erst, als ihr der Therapeut erklärte, dass dieses Geräusch ein gutes Zeichen war, weil es signalisierte, dass die Wirbel wieder in ihre richtigen Positionen kamen, ließ sie ihn uneingeschränkt an sich hantieren.

Das Training war hart, qualvoll und unerbittlich. Der Erfolg stellte sich nur langsam ein. Die ungeduldige Willa musste lernen, sich Zeit zu lassen.

Das Problem mit der Hüfte blieb jedoch hartnäckig. Schmerzen waren zu täglichen Begleitern geworden. Bei zu langem Gehen oder Stehen knickte die linke Seite regelrecht ein. Eine Gehhilfe lehnte sie strikt ab.

Die linke Körperhälfte blieb im Ganzen problematisch.

Manchmal flackerte ihr linkes Auge und eine Sehstörung stellte sich ein. Derart, dass sie ein Bild vor sich doppelt und zeitversetzt wahrnahm. Glaskörperablösungen hieß das Phänomen und war angeblich harmlos. An den Fingern der linken Hand brachen ihre Nägel regelmäßig ab und ihr Herz veranstaltete manche Nacht einen Trommelwirbel, als würde es eine Big Band anführen.

Harte Zeiten, seit sie erwacht war.

Ihr Lebensabschnitt nach dem Koma war zu einem Kampf mit ihrem Körper geworden. Ein stetiger Wechsel zwischen Erfolgserlebnissen und deprimierenden Abstürzen. Dankbar war Willa nur für eines: Die Beschwerden lenkten sie von den Geschehnissen ab, die zu dem Schlag auf ihren Kopf, dem Schädelbasisbruch und ihrer Auszeit geführt hatten.

Jeden aufkommenden Gedanken an die Abfolge, die Gründe, die absehbare Katastrophe schob sie mit derselben Verbissenheit in ihren unterbewussten Speicher zurück, wie sie die Übungen absolvierte.

Sie weigerte sich, mit der Polizeipsychologin zu reden, sie unterließ es, den Kollegen ihres Teams einen Bericht zu schreiben. Der Fall, und gleichermaßen ihr Fall, war polizeilich dokumentiert, ihre Aussage nicht unbedingt erforderlich, also gab sie eine vollkommene Gedächtnislücke an.

Keine weitere Erklärung dazu. Basta.

Ihr Verdrängungsmechanismus wurde immer perfekter. Was geschehen war, war geschehen, begraben und mit Erde bedeckt. Namenloses Grab. Irgendwo im Nirgendwo eine Leiche, die sich Monat für Monat mehr zersetzte.

Wegen der körperlichen Probleme und weil sie konsequent die Gespräche beim psychologischen Dienst verweigerte, durfte sie nicht zurück in den aktiven Außendienst und in das Team um Hauptkommissar Peter Kraus. Zwar war sie ihm weiterhin unterstellt, aber es würde in naher Zukunft keine Einsätze geben.

Büroarbeit und Innendienst waren die meistgehassten Wörter, die Willa nun in ihrem Repertoire hatte.

Trotzdem war sie ihrem Chef dankbar. Hatte er doch, während sie an Maschinen angeschlossen im Krankenhaus gelegen hatte, ihre Festanstellung bei der Kölner Kripo durchgesetzt. Ihr größter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Doch der Spruch der Buddhis­ten hatte sich bewahrheitet: Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, es könnte in Erfüllung gehen.

Das Wasser war Willas neues Element geworden. Schwimmen war eine Möglichkeit, die Gedanken laufen zu lassen und weiter die körperlichen Beschwerden zu verbessern. Brustschwimmen war zwar grausig schmerzhaft, aber, wenn sie sich drehte, wechselte die Anstrengung in reine Freude.

Warum ihr das Rückenschwimmen nichts ausmachte, konnte ihr kein Arzt erklären. Einer hatte ihr geraten, es einfach zu genießen, was sie jedes Mal tat. Dabei konnte sie sich strecken und dehnen, sich wieder wie früher spüren. In der Bewegung im Wasser lag das Versprechen einer möglichen vollkommenen Genesung. Das Eintauchen erschien ihr wie die Verheißung auf eine Rückkehr in ihr früheres Leben.

Inspektorin Willa Stark.

In Graz geboren und aufgewachsen, ihre Ausbildung absolviert, über Europol nach Köln gekommen.

Erfolgreich war sie gewesen, auch beim letzten Fall vor dem Koma, aber über den herrschte ja Stillschwiegen. Ungesund für deine Psyche, sagte auch Harro, der gute Freund an ihrer Seite. Sein verheultes und zugleich so glückliches Gesicht, als er sie das erste Mal im Krankenhaus nach dem Aufwachen besucht hatte, würde sie nie vergessen. Auf allen Ebenen hatte er sie unterstützt, hatte sich die ersten Wochen Urlaub genommen, um ganz für seine Willa da zu sein.

Seine Willa.

War das der Grund gewesen, warum sie ihn noch mehr abgeblockt hatte, als in der Zeit davor? Seine Zuneigung, seine Fürsorge waren ihr zuviel geworden. Sie hatte sich eingeigelt und die Unnahbare gespielt. Obwohl sie es auch genossen hatte, von ihm umsorgt zu werden. Seine Enttäuschung über ihren Rückzug hatte Harro nie offen gezeigt, aber Willa meinte, sie bis heute spüren zu können.

Inzwischen hatte sich der Alltag zwischen ihnen wieder eingespielt. Das Institut nahm Harro voll in Anspruch und seit einigen Monaten war er mit seiner Kollegin Tine Latisch zusammen. Willa hatte es mit einem Seufzen und Lächeln aufgenommen, beides passte. Das Leben ging weiter.

Ihre Mutter war mehrmals nach Köln gereist, immer in der Hoffnung, dass Willa bereit war nach Hause, nach Graz mitzukommen, aber Mamas Wünsche erfüllten sich nicht.

Willa blieb und holte sich ihre Streicheleinheiten von ihrem Kater Jimmy. Ihre gesellschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich sonst hauptsächlich auf die Kollegen, die ihr von den neuen Fällen erzählten, an denen Willa keinen Anteil hatte.

So kam es, dass die Inspektorin in Köln ihren festen Platz hinter einem Schreibtisch eingenommen hatte.

Der Tisch war groß und mit vielen Schubläden ausgestattet, in denen sie neben den Unterlagen und Vorlagen allerlei Kram unterbrachte. Dinge, die sie eigentlich entsorgen wollte, die aber nicht ganz verschwinden sollten. Alte Ausschnitte aus Zeitungsartikeln über sie und ihre Fahndungserfolge waren darunter.

Polizeiverwaltungsbeamtin Stark.

Die Arbeit war träge und langweilig. Berichte von Kollegen überprüfen, die sich über Fehler bei Einsätzen beschwerten. Sich um interne Kommunikation kümmern, Dienstmails auffinden, die im allgemeinen Verkehr untergegangen, verschwunden, gelöscht worden waren, aber noch gebraucht wurden. Eine Liste an Aufgaben, die einer bloßen Sekretärin spannend und abwechslungsreich erschienen wären, Willa aber anödeten, bis ihr Hirn einknickte wie ihre Hüfte.

Ein scharfer Schmerz schoss vom linken Knie bis zu ihrer Achsel hoch. Sie schluckte Wasser, schaffte es aber, nicht unterzugehen. Eine Weile blieb sie an Ort und Stelle und trat Wasser. Schließlich gelang es ihr, die Bahn zu beenden, und sie hielt sich keuchend am Beckenrand fest.

Nach dem Schwimmen und dem Frühstück würde sie vom Hotel aus in die Saar-Vital-Klinik fahren.

Zu einem Termin bei Dr. Ira Steiner. Sie galt als eine der vielen Spezialistinnen für Hüftleiden.

Wieder war es Harro gewesen, der sich Willas Sache angenommen hatte. Er hatte sich immer weiter mit ihren Beschwerden beschäftigt. Mit ihm hatte Willa über die Möglichkeit eines neuen Hüftgelenks diskutiert, eine Lösung, die Linderung bringen konnte, vor der sie sich aber fürchtete. Doch am Ende war sie bereit gewesen, sich dieser Alternative zu stellen. Drei renommierte Ärzte hatte Harro ihr empfohlen. Im Klinikum Münster, an der Uniklinik Dresden und im Winterberg-Krankenhaus in Saarbrücken praktizierten diese Koryphäen jeweils. Die einzige Frau unter den Dreien und die Nähe zu Frankreich hatten Willas Entscheidung für das Saarland beeinflusst.

Des Weiteren hatte Harro es geschafft, binnen einer Woche ein erstes Zusammentreffen zwischen Frau Dr. Ira Steiner und Willa festzumachen. Die Ärztin war nicht nur im großen Winterberg-Krankenhaus angestellt, sondern bot auch zweimal die Woche in der noch neuen Privatklinik vor Ort Sprechstunden an.

Was immer dabei herauskommen mochte, die Krankenversicherung der Polizei würde die Kosten nicht übernehmen, soviel stand von vorneherein fest. Harros Angebot, Willa auch dabei finanziell unter die Arme zu greifen, hatte sie erst unter der Vorgabe, ihm nach und nach den Betrag zu erstatten, angenommen.

Um Herrin der Lage zu bleiben, hatte sie sich vorerst im Hotel am Triller einquartiert. Es war nicht ganz billig, aber das Schwimmbad hatte den Ausschlag gegeben. Stationär in die Klinik wechseln konnte sie immer noch, wenn es sich als notwendig herausstellen würde.

Der Schmerz ließ langsam nach. Willa pustete über den Beckenrand gegen das überfließende Wasser. Kleine Wellen kräuselten sich. Sie begann, die Beine zu dehnen und zu strecken.

»Schöner Tag heute, nicht? Spätsommer-Traumwetter-Periode. Tolles Wort für Scrabble, wenn es anerkannt würde.«

Neben ihr war ein älterer Herr zum Halten gekommen.

»Geht so«, antwortete Willa knapp.

Eine Anmache am Morgen, bevor sie überhaupt ihren ersten Kaffee getrunken hatte, von einem Herrn, der gut und gerne dreißig Jahre älter als sie war, konnte sie nicht gebrauchen.

»Die nächsten Tage sollen noch heißer werden.« Er ließ nicht locker. »Da tut Erfrischung gut. Mit einem Eis zum Beispiel.«

Er zwinkerte ihr zu und Willa bekam Kopfschmerzen.

»Wenn’s Abkühlung brauchen, gehen Sie in den Saunabereich und springen Sie kopfüber ins Eisbecken. Aber quatschen’s mich nicht an.«

Der ältere Herr zog seine weißen Augenbrauen hoch und seine kahle Stirn kraus.

»Ich wollte nur nett sein am Morgen.«

»Und ich mag so was nicht, verstehn’s mich, kapische?«

»Sie stammen wohl aus dem südlichen Sprachbereich, oder?«, murmelte der Mann, als würde das ihre Reaktion erklären, und stieß sich ab.

Darüber nun musste Willa schmunzeln. Zugleich dachte sie an ihre aktive Ermittlerzeit. Fräulein Ösi, das war ihr Spitzname im Team. Gewesen.

Et es wie et es, sagte eines der Kölschen Grundgesetze. Ein Spruch, den sie nicht mehr hören konnte. Vielleicht hatte das Saarland bessere Weisheiten zu bieten.

Sie beendete die Übungen und begann eine neue Bahn. Auf dem Rücken. Ihre Arme breiteten sich aus, ihre Beine bewegten sich rhythmisch und in einem gleichmäßigen Tempo.

Über ein Jahr. Solange war sie zurück aus dem Koma.

Ich bin nicht mehr ich selbst, dachte sie. Nur als Meerjungfrau, auf dem Rücken treibend, gibt es mich noch.

Sie stellte sich vor, dass das Becken kein Ende haben würde. Sie würde, mit dem Gesicht in den Himmel gerichtet, schwimmen und schwimmen, über den Rand der Welt hinaus.

Dorthin, wo es keine verdrängten Erinnerungen, keine Hüftschmerzen und keine älteren Herrn gab, die nach einer frühmorgendlichen Zweisamkeit suchten.

Ein reines Wesen

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