Читать книгу Geliebt! Ein Stern für Juan - Isabella Defano - Страница 4
1. Kapitel
Оглавление11 Monate später.
Endlich, ging es Juan durch den Kopf, als er den Friedhof in Dornbirn erreichte. Fast vier Stunden war er von München aus bis hierher mit dem Auto unterwegs gewesen. Und das auf einer Strecke, für die er sonst nur etwa zwei Stunden brauchte. Immer wieder sorgten Baustellen für Stau. Teilweise war es sogar so schlimm, dass er gar nicht mehr vorwärtskam. Am Ende war er gezwungen gewesen, auf Landstraßen auszuweichen, um überhaupt irgendwann in Dornbirn anzukommen. Kein Wunder also, dass seine Stimmung gerade nicht die beste war.
Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, fuhr Juan schnell in eine freie Parklücke und stieg aus. Dabei ignorierte er das wilde Hupen und die wütenden Blicke des Fahrers, dem er den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hatte. Natürlich wusste er, dass dieses Verhalten nicht in Ordnung war, doch er war sowieso schon zu spät dran. Jetzt noch ewig nach einem freien Platz zu suchen, dazu hatte er im Moment wirklich keine Lust. Außerdem würde er sowieso nicht lange bleiben.
Mit ernster Miene betrat er den Friedhof und ging langsam den Weg entlang. Immer wieder traf er auf andere Personen, die ihm kurz zunickten, doch er realisierte es kaum. Jedes Mal, wenn er seine verstorbene Frau hier besuchte, musste er gegen starke Schuldgefühle ankämpfen. Denn wahrscheinlich würden Maya und sein Kind noch leben, wenn er sie besser beschützt hätte. Aber er hatte versagt.
Tränen schossen ihn in die Augen, als er das Grab erreichte. Er hatte sich damals für eine hochwertige Grabeinfassung aus Caesar White entschieden, die von einer dunkelgrauen Granitabdeckung bedeckt war, sowie einem großen Grabstein aus dem gleichen weißen Material. Zusätzlich gab es einen kleineren zweiten Gedenkstein für sein ungeborenes Kind, auf dem ein kleiner Engel saß. Mein kleiner Engel, dachte Juan traurig und wischte sich mit einer Hand die Tränen fort.
Eigentlich war ein Baby erst nach dem Abschluss geplant gewesen. Trotzdem hatten sich Juan und Maya sehr darüber gefreut, als die Schwangerschaft entdeckt worden war, und Pläne geschmiedet. Da für ihn immer feststand, dass er eines Tages die Fabrik seines Vaters übernehmen würde, hatten sie sich in Dornbirn ein Haus gekauft und ganz nach ihren Wünschen eingerichtet. Alles war perfekt gewesen. Sie waren glücklich, verliebt und freuten sich auf die Zukunft. Bis zu dem Tag, als sich alles schlagartig veränderte und die Frau, die er mehr liebte als alles andere, von zwei Jugendlichen getötet wurde.
„Es tut mir so leid“, sagte Juan leise, während er zwei Kerzen anzündete, die er mitgebracht hatte, und auf die Grabplatte stellte. „Ich hätte euch beschützen müssen.“
Wie immer, wenn Juan am Grab seiner Familie stand, wünschte er sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Wenn er damals nicht auf diese Party gegangen wäre, um mit seinen Freunden zu feiern, hätte er sich am nächsten Morgen nicht so schlecht gefühlt. Stattdessen wäre er zusammen mit Maya zur Universität gefahren und sie könnte heute noch leben. Aber so war sie allein zu Fuß unterwegs gewesen, als ein junges Mädchen von einem Jugendlichen belästigt wurde. Als sie ihr zur Hilfe kam, tauchte plötzlich ein zweiter Junge auf und stürzte sich auf Maya.
Von dem jungen Mädchen, das später als Zeugin ausgesagt hatte, wusste er, dass es seiner Frau gelungen war, die beiden Jugendlichen zu vertreiben. Sie waren im Grunde Feiglinge und nur an Geld interessiert gewesen. Doch einer von ihnen hatte bei seiner Flucht Maya zur Seite gestoßen, die daraufhin über ein paar Bretter gestolpert war. Dabei stieß sie so unglücklich mit dem Kopf gegen die Hauswand, dass sie sofort das Bewusstsein verloren hatte und nie wieder aufgewacht war.
Ein lauter Schrei durchbrach die Stille auf dem Friedhof und holte Juan in die Gegenwart zurück. Mit einer Hand berührte er erst den Grabstein seiner Frau und dann den kleinen Engel, um sich zu verabschieden, dann sah er auf die Uhr.
„Verdammt“, fluchte er leise, als er sah, wie spät es schon war. Bereits vor einer Stunde hatte er sich mit seinem Bruder Joel in der Fabrik treffen wollen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass dieser inzwischen nicht mit anderen Dingen beschäftigt war. Seit dem Herzinfarkt seines Vaters vor gut neun Monaten führten sie zusammen die de-Luca-Designfabrik. Wobei Joel die Hauptarbeit übernommen hatte, damit Juan sein Zweitstudium in Modemanagement nicht abbrechen musste. Jedoch war dieser damals noch davon ausgegangen, dass es sich nur um eine vorübergehende Aufgabe handeln würde. Nur so lange, bis ihr Vater sich so weit erholt hatte, dass er die Leitung wieder übernehmen konnte. Doch das hatte sich inzwischen geändert.
Kälte breitete sich in Juan aus, während er langsam über den Friedhof zurück zu seinem Wagen ging und über das letzte halbe Jahr nachdachte. Nicht viel hatte gefehlt, und sein Vater Valenzo de Luca wäre gestorben. Im Grunde war es nur der schnellen Hilfe durch Ariadne Steinmeyer, der Buchhalterin der Fabrik, zu verdanken, dass er heute nicht auch noch um seinen Vater trauern musste. Sie hatte sofort den Notarzt gerufen und mit der Ersten Hilfe begonnen, sodass es den Ärzten gelungen war, sein Leben zu retten. Trotzdem waren es harte Monate gewesen. Damit seine Mutter ganz für ihren Mann da sein konnte, war sein Zwillingsbruder Joel nach Dornbirn zurückgekehrt, obwohl er eigentlich nie etwas mit dem Familienunternehmen zu tun haben wollte. Und ist geblieben, ging es Juan durch den Kopf und auch dafür würde er seiner Buchhalterin Ariadne ewig dankbar sein. Denn sie hatte etwas geschafft, was nicht einmal seinem Vater gelungen war. Sie hatte seinen Bruder zurück nach Hause geholt. Denn statt jetzt, wo sein Vater die Leitung der de-Luca-Designfabrik offiziell an seinen Sohn Juan abgegeben hatte, in sein altes Leben nach Wien zurückzukehren, war Joel in Dornbirn geblieben. Fest entschlossen, sich nicht nur ein Leben mit Ariadne aufzubauen, die er liebte und heiraten wollte, sondern auch eine eigene Kunstgalerie für Nachwuchskünstler zu eröffnen. Gleichzeitig kümmerten sich Joel und Ariadne um das Tagesgeschäft in der Fabrik, damit Juan sein Studium beenden konnte. Eine Zusammenarbeit, die in den letzten Monaten zwar nicht immer einfach gewesen war, doch im Grunde gut funktionierte.
Als Juan seinen Wagen erreichte, stieg er schnell ein und griff nach seinem Handy, um seinen Bruder in der Fabrik anzurufen. Als niemand abnahm, fluchte er kurz auf und versuchte es bei Ariadne, und hatte Glück.
„Ariadne, hier ist Juan“, begann er zu sprechen, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen. „Ist mein Bruder noch in der Fabrik?“
„Nein“, erklang die geschäftsmäßige Stimme seiner zukünftigen Schwägerin. „Nachdem du nicht zur vereinbarten Uhrzeit hier gewesen bist, dachte Joel, du würdest doch erst morgen kommen. Daher ist er zum Haus gefahren.“
Mist, dachte Juan, während sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ich hätte Joel anrufen sollen, dass ich ganz sicher heute komme. Bei seinem letzten Gespräch mit seinem Bruder hatte er dies noch nicht genau sagen können. Da er nicht wusste, ob er pünktlich aus Wien wegkommen würde. Zwar hatten sie trotzdem einen Termin für heute ausgemacht, doch dieser war nicht fest gewesen. Und jetzt ist er ausgerechnet beim neuen Haus, ging es ihm durch den Kopf.
„Danke“, sagte Juan ernst und legte auf, während er darüber nachdachte, was er tun sollte.
Natürlich freute er sich für seinen Bruder. Ariadne war eine tolle Frau und er wünschte den beiden alles Gute. Doch jedes Mal, wenn er das Gebäude sah, das gerade für seinen Bruder umgebaut wurde, durchzog ihn ein heftiger Schmerz. Genauso wie er früher mit Maya, war nun sein Bruder fest entschlossen, sich mit seiner Frau ein Heim einzurichten, und das weckte in ihn schmerzhafte Erinnerungen. Aus diesem Grund vermied er es normalerweise, auch nur in die Nähe dieses Gebäudes zu kommen. Doch er wollte nicht bis morgen warten. Ab nächste Woche würde sein Bruder für zwei Wochen nicht in der Fabrik sein und daher mussten sie eine ordentliche Übergabe machen. Er würde daher einfach hinfahren, seinen Bruder schnappen und sofort wieder mit ihm verschwinden. Dann konnten sie sich in Ruhe in seinem Büro unterhalten. Ja, dachte er ernst, das ist die perfekte Lösung.
Als Juan seinen Wagen nur wenige Meter vor dem Grundstück seines Bruders parkte, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Joels neues Zuhause war wirklich kaum noch wiederzuerkennen. Die hässliche Fassade, die seine zukünftige Schwägerin Ariadne so abgestoßen hatte, konnte sich inzwischen sehen lassen. Es war ein Mix aus Schwarz und Weiß, mit vielen Fenstern, die für eine gute Beleuchtung sorgen sollten. Außerdem hatte sein Bruder tatsächlich einen Teil der Wand noch einmal öffnen lassen, um dem Bereich der zukünftigen Galerie im Erdgeschoss eine runde Form zu geben.
Kopfschüttelnd ging Juan auf das Gebäude zu. Als sein Bruder ihm von dieser Idee berichtete, hatte er ihn für verrückt gehalten. Denn durch diese Baumaßnahmen hatte sich die Fertigstellung des Hauses um fast drei Monate verzögert. Drei Monate, die Joel und Ariadne länger in der kleinen Einliegerwohnung seiner Eltern bleiben mussten. Doch wenn er sich das Haus jetzt ansah, musste er zugeben, dass die Entscheidung richtig gewesen war. Durch den runden Galeriebereich sah das Haus gleich ganz anders aus. Außerdem gab es nun genügend Platz für einen großen Balkon, der nur von der oberen Etage aus betreten werden konnte.
Wirklich eine gute Idee, dachte Juan anerkennend und nickte einer Gruppe Handwerker zu, die gerade Farben und Pakete in den Galeriebereich trugen. Da auf dem Bereich um das Gebäude herum Parkmöglichkeiten entstehen sollten, hatte es für einen gemütlichen Garten keinen Platz mehr gegeben. Eine Tatsache, die sein Bruder so nicht hinnehmen wollte. Gut, ein Balkon war nicht das Gleiche, doch immerhin ein Kompromiss. Wobei die schwarze halb hohe Wand, die sich farblich dem Erdgeschoss anpasste, für etwas Privatsphäre sorgte.
Als Juan den Nebeneingang erreichte, der direkt in den oberen Wohnbereich führte, stieß er mit einer rothaarigen Frau zusammen und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Schnell entschuldigte er sich für seine Unaufmerksamkeit und ging ein paar Schritte zurück. Als er jedoch erkannte, mit wem er zusammengestoßen war, verkrampfte sich alles in ihm. Ronja, dachte er frustriert. Mir bleibt heute auch nichts erspart.
„Juan“, sagte Ronja und lächelte. „Ich wusste gar nicht, dass du aus Wien zurück bist. Dein Bruder hat gesagt, du würdest erst morgen kommen. Wolltest du sehen, wie weit wir schon sind?“
Juan ging nicht auf ihre Frage ein, sondern sah Ronja nur mit ernster Miene an und ballte seine Hände zu Fäusten. Wieso muss ich ausgerechnet mit ihr zusammenstoßen?, dachte er angespannt. Als wäre dieser Ort nicht schon schlimm genug. Natürlich hatte er gewusst, dass sich die Frau seines Cousins um die Inneneinrichtung kümmerte. Ariadne hatte sie darum gebeten, nachdem Ronja ihr ein paar Bilder von ihrem eigenen selbst eingerichteten Haus gezeigt hatte. Nur ihr Mann Alexander war davon alles andere als begeistert gewesen. Kein Wunder, dachte Juan schmerzerfüllt, als er kurz ihren gerundeten Bauch betrachtete. Ronja war inzwischen fast im achten Monat schwanger. Eigentlich sollte sie in ihrem Zustand zu Hause bleiben und sich ausruhen, statt auf der Baustelle herumzulaufen. Und er konnte nicht verstehen, warum sein Cousin das überhaupt zuließ. So schnell konnte etwas passieren. Sie könnte über einen der Kartons stürzen oder von einem der Männer angegriffen werden. Oder …
Seine Gedanken brachen ab. Plötzlich hatte Juan das Gefühl, als würde ihn etwas in die Vergangenheit ziehen. Blut, überall war Blut gewesen. Seine wunderschöne Frau hatte er kaum wiedererkannt. Maya, dachte er verzweifelt. Wieso bin ich nicht bei ihr gewesen? Wieso habe ich sie alleine zur Uni gehen lassen?
„Juan, alles in Ordnung?“
Nur langsam drang Ronjas besorgte Stimme zu ihm durch und holte ihn aus seinen Erinnerungen zurück. Ich muss hier weg, dachte er verzweifelt, als sie kurz seinen Arm berührte. Er wollte nicht, dass jemand sah, wie sehr er noch unter dem Tod seiner Frau litt. Aus diesem Grund erzählte er auch niemandem, dass er immer erst zum Friedhof fuhr, wenn er nach Dornbirn kam.
Juan konnte das Mitleid der anderen nicht mehr ertragen. Dieses „Die Zeit heilt alle Wunden“ und „Irgendwann wird es leichter“ hatten ihm nie geholfen. Im Gegenteil, es machte ihm eher Angst. Er wollte Maya und sein Kind nicht vergessen. War nicht daran interessiert, dass der Schmerz nachließ. Denn immerhin bedeutete dies, dass sie immer noch ein Teil von ihm war. Dass es sie wirklich gegeben hatte. Doch in letzter Zeit fiel es ihm immer schwerer, den ihm inzwischen so vertrauten Schmerz festzuhalten. Langsam kehrten Gefühle zurück, die er in den letzten Jahren durch harte Arbeit und Kontrolle sorgfältig unterdrückt hatte. Sein schützender Panzer, der ihn von anderen emotional abgeschottet hatte, hatte Risse bekommen, seit seine Familie angefangen hatte, sich zu verändern. Besser gesagt, seit seine Cousins Raphael, Alexander und Christian und schließlich sein eigener Bruder Joel sich verliebt hatten und Beziehungen eingegangen waren. Denn sie alle führten jetzt das Leben, was er sich selbst mit seiner Maya ausgemalt hatte. Und das zerriss ihm langsam das Herz.
Doch noch ein anderes Gefühl war in den letzten Monaten zurückgekommen, Freude. Obwohl es ihm sehr zu schaffen machte, dass die anderen Mitglieder seiner Familie begonnen hatten, ihren Partner zu finden, freute er sich auch für sie. Aber er hatte Angst, diese Empfindung zuzulassen, denn er fürchtete sich davor, dass diese Freude auch auf ihn abfärben könnte. Und das durfte nicht passieren. Er hatte nicht das Recht, sich zu freuen. Nicht nachdem Maya und das Kind seinetwegen gestorben waren. Das Einzige, was es in seinem Leben noch geben durfte, war Schmerz. Er durfte nie vergessen, wie sehr er als Ehemann und Vater versagt hatte. Daher musste er sich von den verliebten Paaren fernhalten.
„Ich bin nicht hergekommen, um zu plaudern“, sagte Juan schroff. In der Hoffnung, sie würde verschwinden. Er wollte nicht noch mehr Zeit an diesem Ort verbringen. Und auch nicht bei ihr. Denn ihre Schwangerschaft zeigte ihm nur noch deutlicher, was er alles verloren hatte. „Wo ist mein Bruder?“
„Er ist oben in der Wohnung“, sagte Ronja.
Das Lächeln auf ihrem Gesicht war verschwunden, stattdessen sah sie Juan mit ihren grünen Augen verletzt an. Aber er ging nicht darauf ein, sondern ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Natürlich wusste Juan, dass er zu weit gegangen war, doch er konnte sich zu keiner Entschuldigung durchringen. Ihm war klar, dass die Frauen seiner Cousins ihn für gefühllos hielten. Und das war gut so. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Es tat einfach zu weh.
Im ersten Stock waren die Arbeiten im vollen Gange und es dauerte ein paar Minuten, bis Juan seinen Bruder im Flurbereich vor der Wohnung gefunden hatte. Wie die anderen trug er eine weiße Hose, ein passendes T-Shirt und alte Turnschuhe, während seine schulterlangen schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden waren. Aber eins unterschied ihn von den anderen Arbeitern im Haus, denn er war nicht mit Streichen beschäftigt, sondern arbeitete an einem Kunstwerk. Und zwar an einem sehr großen.
„Sind dir die Leinwände ausgegangen?“, fragte Juan ihn auf Italienisch, nachdem er seinen Bruder erreicht hatte, und sah sich das Bild an.
Noch erkannte man nicht viel. Doch die Skizze, die sich neben ihm befand, zeigte seinen Bruder, der seine Verlobte in den Armen hielt. Schnell sah Juan weg. Es fiel ihm einfacher, mit Ariadne zusammenzuarbeiten, wenn er in ihr die Buchhalterin der Fabrik und nicht die Verlobte seines Bruders sah. Und zum Glück waren die beiden einverstanden gewesen, während der Arbeitszeit geschäftsmäßig miteinander umzugehen.
„Juan?“, fragte Joel verwundert und stand auf. „Ich dachte, du kommst heute nicht mehr.“
Dann erinnerte er sich an die Bemerkung seines Bruders und musste lächeln.
„Es war Ronjas Idee“, erklärte er Juan. „Sie hat das Bild gesehen, was ich für Ariadne zum Geburtstag gemalt habe, und meinte, so etwas Ähnliches könnte sie sich für diese Wand vorstellen. Ich hoffe nur, dass es meiner Frau später gefällt, für sie ist es nämlich eine Überraschung.“
Schweigend sah Juan seinen Bruder an. Nichts war mehr von dem Mann zu sehen, der früher immer einen Bogen um feste Beziehungen gemacht hatte. Ob er weiß, wie sehr sich sein Gesicht verändert, wenn er von Ariadne spricht?, fragte sich Juan. Kaum zu glauben, dass sich die beiden erst so kurze Zeit kennen.
„Ich bin sicher, dass es ihr gefällt“, meinte Juan und spürte ein heftiges Ziehen im Bauch. „Wahrscheinlich wirst du sie mit Gewalt in die Wohnung ziehen müssen, weil sie es sich immer ansehen möchte.“
„Keine schlechte Idee“, erwiderte Joel und Juan konnte an seinem Gesicht erkennen, wie er sich diese Situation im Kopf ausmalte.
Juan verdrehte die Augen. Er wird sich nie ändern, dachte er frustriert. Schon als Kind war sein Bruder so gewesen. Manchmal konnte er seine Ideen gar nicht so schnell auf ein Papier bringen, wie er es sich vorstellte. Kein Wunder, dass sein Bruder später Maler geworden war und unter dem Pseudonym J. D. Lay große Erfolge feierte. Wobei sein Bruder dies bis vor ein paar Monaten vor der Familie geheim gehalten hatte. Lediglich er und später seine jüngere Schwester Jade hatten davon gewusst.
Juan selbst konnte diesem Künstlerkram nicht so viel abgewinnen. Zwar kannte er sich mit Farben und Stoffen aus, immerhin hatte er Modedesign studiert, doch am liebsten hatte er mit Grafiken, Tabellen und Zahlen zu tun. Aus diesem Grund hatte er sich auch entschieden, nach seinem erfolgreichen Abschluss noch ein Zweitstudium in Modemanagement zu machen. Wobei er es wohl nicht getan hätte, wenn Maya und sein Kind noch leben würden.
Sofort wurde Juan wieder ernst. Für einen Moment hatte er ganz vergessen, warum er hergekommen war. Schnell kam er auf den eigentlichen Grund seines Besuches zurück.
„Kannst du weg?“, wollte Juan von seinem Bruder wissen. „Ich habe ein paar Dinge mit dir zu besprechen, doch das möchte ich nicht unbedingt hier tun.“
„Kein Problem“, erwiderte Joel. „Ich zieh mich nur kurz um. Das Bild hätte ich heute sowieso nicht fertig bekommen. Ich werde einfach an einem anderen Tag weitermachen. Bis zum Einzug ist ja noch etwas Zeit.“
Juan nickte nur, ohne auf die Worte seines Bruders einzugehen, und ging ins Erdgeschoss zurück. Diesmal war niemand zu sehen. Lediglich aus dem Galeriebereich konnte er Stimmen und lautes Hämmern hören. Bevor er jedoch einen Blick hineinwerfen konnte, kam sein Bruder von oben herunter. Er trug immer noch die alten Turnschuhe, doch die weißen Sachen waren einer blauen Jeanshose und einem schwarzen Pullover gewichen.
„Ich sag nur kurz Ronja Bescheid, dass ich verschwinde“, rief Joel seinem Bruder zu und ging zu einer Tür neben der Treppe, die er bisher gar nicht bemerkt hatte.
Juan nickte knapp und sah auf die Uhr. Hoffentlich wird es nicht allzu lange dauern, dachte er angespannt.
Joels Miene war ernst, als er wenige Minuten später wieder aus dem Zimmer kam. Schweigend ging er auf seinen Bruder zu und verließ mit Juan das Haus. Etwas verwirrt sah Juan ihn an. Normalerweise war er es, der seine Geschwister mit dieser Geste schweigend zurechtwies. Dieses Verhalten jetzt bei seinem Bruder zu sehen, gefiel ihm überhaupt nicht. Es passte einfach nicht zu ihm.
„Was ist plötzlich los mit dir?“, wollte Juan wissen, als sie den Wagen erreichten.
„Was mit mir los ist?“, fragte Joel wütend und öffnete die Autotür. „Was ist mit dir los? Was hast du zu Ronja gesagt? Sie war ziemlich wütend.“
Verdammt, dachte Juan, als er an sein Verhalten Ronja gegenüber dachte. Das hatte er nicht gewollt. Aber wieso wollte sie mich auch unbedingt in ein Gespräch verwickeln. Sie weiß doch, dass ich so etwas nicht mag. Und dann ist sie auch noch schwanger.
„Ich wollte sie nicht verletzen“, gab Juan zu, nachdem sie eingestiegen waren, und fuhr los. „Ich bin eben nicht der gesellige Typ. Außerdem, was hat sie überhaupt auf der Baustelle zu suchen? Sie ist hochschwanger.“
„Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen ungesellig und unhöflich“, stellte Joel klar. „Außerdem war das heute nicht das erste Mal. Auch den anderen Frauen unserer Cousins gegenüber verhältst du dich so. Ich verstehe ja, dass es für dich nicht leicht ist. Aber kannst du ihnen nicht wenigstens höflich begegnen? Raphaels Frau Larissa glaubt sogar, du kannst sie nicht leiden. Und was Ronja betrifft. Normalerweise ist sie nicht auf der Baustelle, das würde Alexander gar nicht zulassen. Bereits seit zwei Monaten kümmert sich ihre Assistentin um die Fertigstellung des Hauses. Ronja wollte heute nur einmal sehen, wie weit die Arbeiten vorangegangen sind. Aus diesem Grund sind Alexander und Ronja für ein paar Tage nach Dornbirn gekommen.“
„Verstehe“, sagte Juan nachdenklich. „Ich hatte keine Ahnung, dass Alexander herkommen wollte.“
„Es war eine spontane Entscheidung“, erklärte Joel seinem Bruder knapp. „Uns haben sie auch erst gestern angerufen.“
Juan sagte nichts weiter dazu und schweigend fuhren sie weiter in Richtung der Fabrik. Erst als sie den Wagen auf einen der Parkplätze geparkt hatten, ergriff Juan wieder das Wort.
„Es tut mir leid“, sagte er leise und wandte sich seinem Bruder zu. „Heute ist einfach nicht mein Tag. Vielleicht hätte ich nicht zum Haus kommen sollen.“
„Ich verstehe dich ja“, sagte Joel mitfühlend. „Jetzt vielleicht noch besser als früher. Doch so kann es nicht weitergehen. Ich will nicht, dass du leidest. Aber …“
Fragend sah Juan seinen Bruder an, als dieser nicht weitersprach. Doch dieser schüttelte nur mit dem Kopf und stieg aus. Verwundert schaute er ihm hinterher. Am liebsten hätte er Joel gefragt, was er ihm sagen wollte. Doch am Ende schluckte er diesen Wunsch herunter. Was immer es war, wenn sein Bruder sich so seltsam verhielt, konnte es nichts Gutes sein. Oder besser gesagt, nichts Angenehmes für ihn. Vielleicht bekommen Raphael und Larissa nun auch noch ein Baby, dachte er angespannt. Immerhin schien die Frau seines Cousins seit Ronjas Schwangerschaft ganz verrückt nach einem dritten Kind zu sein.
Nachdenklich folgte Juan seinem Bruder zum Fabrikgebäude. Er fühlte sich selbst schlecht dabei, seine Familie so auf Abstand zu halten. Doch die Alternative fand er noch schlimmer. Zusehen zu müssen, wie alle um ihn herum glücklich wurden und ihren Lebenspartner fanden, während er alles verloren hatte. Da war es schon besser, auf Abstand zu bleiben. Wenigstens so lange, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte und er den Gefühlen der anderen wieder mit Gleichgültigkeit begegnen konnte. Genauso wie in den letzten Jahren.
Als sie das Fabrikcafé fast erreicht hatten, das eine Verbindung zum Verwaltungsgebäude besaß, unterbrach Juan das Schweigen.
„Wie läuft es in der Fabrik?“, fragte Juan mit ernster Miene und kam damit auf sein eigentliches Gesprächsthema zurück.
„Im Moment läuft alles reibungslos“, sagte Joel zufrieden. „Die neue Kollektion ist sehr gut angelaufen und ich habe mit Papà schon über die nächste gesprochen. Jedoch gibt es noch nichts Konkretes“, gab er zu. „Ich wollte damit anfangen, wenn ich in zwei Wochen von meiner Galeriereise zurückkomme. Auch die Zahlen sehen gut aus“, sprach er weiter. „Jedenfalls hat Ariadne das gesagt. Aber ich bin sicher, sie hat dir die Statistik geschickt.“
Juan nickte und öffnete die Tür, als sie den Eingang zum Café erreichten.
„Ja“, gab Juan zu. „Die Zahlen sehen gut aus. Aber musst du wirklich gerade jetzt auf diese Galerietour? Ich dachte, dein Partner kümmert sich um alles.“
„Tut er auch“, erwiderte Joel lächelnd. „Aber irgendwie vermisse ich den Rummel. Im Moment passt es zeitlich ganz gut. Bis zur Hochzeit dauert es noch fast zwei Monate und die Arbeiten im Haus gehen gut voran. Und da du gerade Semesterferien hast, ist für die Fabrik auch gesorgt. Juan“, sagte Joel ernst. „Wenn ich von meiner Hochzeitsreise zurückkomme und die Galerie eröffnet wurde, werde ich dafür kaum noch Zeit haben. Diese Reise ist also praktisch ein Abschied von meinem alten Leben.“
„Bereust du es?“, wollte Juan nachdenklich wissen.
Noch nie hatte er sich darüber Gedanken gemacht, was dieser Schritt für seinen Bruder bedeuten musste. Für ihn hatte es immer nur die Fabrik gegeben. Schon als Kind wollte Juan nichts anderes machen, als hier zu arbeiten. Und nach dem Tod seiner Frau war dies praktisch sein Leben geworden. Im gleichen Moment verfluchte er sich für seine Worte. So eine Frage hätte er seinem Bruder bis vor Kurzem niemals gestellt. Im Gegenteil, er hätte Gründe angebracht, warum es aus Sicht der Fabrik nicht klug wäre, wenn er gerade jetzt die Firma für zwei Wochen verließ. Was ist nur mit mir los?, fragte sich Juan verwirrt.
Joel, der nichts von der Verwirrung seines Bruders mitbekommen hatte, schüttelte den Kopf.
„Ich bereue meine Entscheidung nicht“, versicherte er seinem Bruder lächelnd. „Ich wusste schon vorher, dass ich durch die Eröffnung einer eigenen Galerie nicht mehr zu jeder meiner Kunstausstellungen fahren kann. Trotzdem werde ich es vermissen. Immerhin war dies in den letzten fünf Jahren mein Leben.“
Bevor Juan darauf etwas erwidern konnte, kam ihnen mit schnellen Schritten eine rothaarige Frau entgegen, deren grüne Augen vor Aufregung leuchteten.
„Hallo ihr zwei“, begrüßte Jade ihre beiden Brüder auf Italienisch, dann wandte sie sich an Joel. „Ich dachte, du wärst schon weg. Ariadne hat erzählt, du bist zum Haus gefahren.“
„Das stimmt“, gab Joel zu. „Aber Juan wollte mit mir noch ein paar Dinge besprechen. Immerhin werde ich ab nächster Woche für zwei Wochen nicht hier sein.“
„Ariadne hat so etwas erzählt“, gab Jade zu, während sie mit ihren Brüdern zum Verwaltungsbereich zurückging. „Auch, dass Alexander uns heute Abend zum Essen eingeladen hat. Er möchte mit uns feiern. Immerhin läuft die Firma im Moment wieder richtig gut.“
Juan schüttelte mit dem Kopf.
„Ich kann heute Abend nicht“, sagte er bestimmt. Auf ein Familienessen mit Alexander und Ronja hatte er nun wirklich keine Lust.
Doch seine Geschwister gingen gar nicht darauf ein, sondern unterhielten sich darüber, wann und wo das gemeinsame Essen stattfinden sollte. Als Juan das Geplapper der beiden nicht mehr ertragen konnte, ging er etwas schneller, um für Abstand zwischen ihnen zu sorgen. Ausgerechnet jetzt müssen sie darüber reden, dachte er genervt. Und dafür bin ich zum Haus gefahren. Ohne auf seine Umgebung zu achten, ging Juan immer schneller. Man könnte meinen, dass das auch bis später hätte warten können, schimpfte er lautlos vor sich hin. Aber nein, es muss natürlich jetzt sein.
Kurz bevor er die Tür erreichte, die in den Verwaltungsbereich führte, wurde Juan plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Ohne Vorwarnung stieß er mit einer jungen blonden Frau zusammen, die einen Stapel Ordner mit sich herumtrug, die scheppernd zu Boden fielen.
„Verdammt“, sagte Juan gereizt und sah die Frau an.
Als er die Mitarbeiterin erkannte, mit der er zusammengestoßen war, stöhnte er auf. Natürlich, ging es ihm durch den Kopf, Shana van de Renne, die Katastrophenlady. Wer soll es sonst sein.
„Kannst du nicht aufpassen?“, fuhr Juan sie wütend an.
„Tut … mir … leid …“, stammelte Shana. „Ich habe dich nicht gesehen.“
Missbilligend sah Juan erst auf die Ordner auf dem Boden und dann in ihr Gesicht. Sie findet wohl immer eine Ausrede, dachte er genervt.
„Dann solltest du deine Augen aufmachen“, sagte er barsch und ging einfach weiter.
Mit Tränen in den Augen hob Shana die Ordner auf und verschwand in den nächsten leeren Raum. Schweigend sahen Jade und Joel erst ihr und dann Juan hinterher. Schließlich brach Joel das Schweigen und wandte sich an seine Schwester.
„Kümmerst du dich um sie? Dann rede ich ein ernstes Wort mit unserem Bruder.“
Jade stimmte nickend zu und folgte Shana, während Joel sich wütend auf die Suche nach Juan machte. Diesmal war er wirklich zu weit gegangen.