Читать книгу Geliebt! Ein Stern für Juan - Isabella Defano - Страница 5

2. Kapitel

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Tränen liefen Shana die Wangen hinunter, als sie die Tür hinter sich zumachte, und sie wischte sie mit einer Hand fort. Die ganze Sache war ihr so peinlich. Ausgerechnet in Juan musste sie hineinlaufen. Dabei hatte sie sich so bemüht, ihm aus den Weg zu gehen. Leider ohne Erfolg.

Shana wusste, dass er nicht gut auf sie zu sprechen war. Schon zu oft waren ihr in letzter Zeit Fehler passiert. Dabei bemühte sie sich wirklich sehr. Seit ihr Patenonkel ihr diese Stelle als Praktikantin gegeben hatte, war sie jeden Morgen pünktlich auf der Arbeit erschienen. Hatte ein freundliches Gesicht aufgesetzt und sich bemüht. Leider reichte dies aber nicht aus, um die anderen Mitarbeiter zufriedenzustellen. Im Gegenteil, überall wo sie bisher eingeteilt worden war, waren ihr Missgeschicke passiert, sodass kaum noch jemand mit ihr zusammenarbeiten wollte. Kein Wunder, dass man sie inzwischen nur noch dafür einsetzte, Ordner ins Lager zu bringen oder Unterlagen zu kopieren. Und jetzt hatte sie auch dabei versagt.

Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie hasste ihren Job, das konnte Shana nicht leugnen, doch sie hatte keine Alternative. Wenn Juan sie rauswarf, würde sie auf der Straße stehen. Noch war das Jahr nicht um und sie war auch nicht verheiratet, also hatte sie auch keinen Zugang zum Erbe ihres Vaters. Aber genau das brauchte sie, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Selbst wenn sie nur den Pflichtteil bekommen würde.

Wut stieg in Shana auf und verdrängte die Tränen, als sie an die Bedingung im Testament ihres Vaters dachte. Denn nicht nur, dass er sie zwingen wollte, seinen Geschäftspartner zu heiraten, als er noch lebte, er hatte es auch nach seinem Tod versucht. Mithilfe ihres Patenonkels hatte sie dagegen angehen wollen, aber dann hatte Valenzo de Luca im Büro einen Herzinfarkt erlitten und Shana stand plötzlich ganz alleine da. Und aus dem Praktikum, das eigentlich nur als Überbrückung dienen sollte, war ihre einzige Einnahmequelle geworden. Die aber leider nicht besonders großzügig ausfiel.

„Du kommst mit zu mir nach Dornbirn. Da kannst du dir in Ruhe überlegen, was du tun möchtest.“

Verbittert lachte Shana auf, als sie an die Worte ihres Patenonkels dachte, denn daraus war nie etwas geworden. Obwohl sie nun schon seit elf Monaten in Dornbirn war, wusste sie immer noch nicht, was sie in Zukunft tun wollte. Bisher bestand ihre ganze Planung aus dem Ziel, endlich dieses verdammte Jahr hinter sich zu bringen. Dann würde der ehemalige Geschäftspartner ihres Vaters sie hoffentlich in Ruhe lassen und sie konnte damit beginnen, ihre nächsten Schritte zu planen. Aber bis dahin waren es noch gut vier Wochen, und langsam machte Leon Ritter ihr wirklich Angst. Fest entschlossen, sie umzustimmen, hatte er sie in den vergangenen Monaten immer wieder angerufen. In letzter Zeit wurde es sogar so schlimm, dass sich Shana eine neue Nummer besorgen musste. Aber ihr war klar, dass ihn das nicht lange aufhalten konnte. Er würde einen Weg finden, sie zu erreichen, das hatte er bisher jedes Mal geschafft.

Als hätte sie es geahnt, klingelte plötzlich Shanas Handy und sie schreckte auf. Mit zitternden Händen holte sie es aus ihrer Hosentasche, sah auf das Display und atmete erleichtert auf. Mia, dachte sie beruhigt. Wahrscheinlich will sie wissen, wo ich bleibe. Schnell nahm sie das Gespräch an.

„Mia, ich bin gleich da“, informierte Shana ihre Freundin. „Ich muss nur noch die Ordner ins Lager bringen.“

„Beeil dich“, ertönte eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende. „Schließlich erwartet niemand von dir, dass du als Praktikantin Überstunden machst. Ich warte auf dich im Fabrikcafé.“

„In Ordnung. Bis gleich“, erwiderte Shana und legte auf.

Die Freude über den gemeinsamen Abend mit ihrer Freundin Mia Brunner dämpfte etwas die Wut und Verzweiflung ihrer aktuellen Situation. Sie hatten sich im Fabrikcafé kennengelernt, als Shana dort für ein paar Wochen ausgeholfen hatte. Zum ersten Mal war sie in dieser Zeit gerne zur Arbeit gegangen. Hatte es geliebt, morgens von ihrer Wohnung aus zur Fabrik zu laufen und die wunderschöne Natur zu genießen. Sie fand es wundervoll, dass ihr Patenonkel, nachdem er das Grundstück für seine Fabrik gekauft hatte, den Charme des alten Guts beibehalten hatte. Gut, in den Räumen waren umfangreiche Umbaumaßnahmen vorgenommen worden. Doch äußerlich sahen die Gebäude mit der weißen Fachwerkhausfassade und den roten Dachziegeln noch genauso aus wie früher. Lediglich der spätere Anbau, in dem das Café und die Verkaufsfläche untergebracht waren, sah etwas anders aus. Denn dieser Bereich hatte kein rotes, sondern ein schwarzes Dach bekommen. Zusätzlich befand sich, mit etwas Abstand, eine halb hohe graue Steinmauer vor dem Gebäude, hinter der mehrere Holztische und Bänke aufgestellt waren. Dort saßen bei gutem Wetter die Gäste, um sich etwas auszuruhen oder einfach nur die schöne Umgebung zu genießen.

Als Shana an diese Zeit zurückdachte, musste sie lächeln. Sie war zwar nur kurz in dieser Abteilung gewesen, aber dadurch hatte sich ihr Leben deutlich verändert. Zum ersten Mal hatte sie eine richtige Freundin gefunden. Jemanden, mit dem sie ihre Träume und Sorgen teilen konnte. Auch wenn sie das Testament ihres Vaters und die dort enthaltenen Bedingungen bisher verschwiegen hatte.

Schnell, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, stapelte Shana die Ordner, die sie auf einen der Tische abgelegt hatte. Sie musste diese nur noch schnell ins Archiv bringen, dann konnte sie Feierabend machen. Bevor sie aber das Zimmer verlassen konnte, klingelte ihr Telefon erneut und sie stöhnte auf.

„Was denn noch?“, flüsterte sie leise und griff nach ihrem Handy.

Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, erst auf das Display zu schauen, sondern ging einfach ran.

„So schnell bin ich nun auch wieder nicht“, sagte Shana lachend. „Gib mir noch zehn Minuten.“

„Ich denke, das bekomme ich hin.“

Als Shana die männliche Stimme am anderen Ende hörte, ließ sie fast ihr Handy fallen. Das kann doch nicht sein, dachte sie verwirrt. Woher hat er so schnell meine neue Nummer?

„Was wollen Sie?“, fragte Shana mit zitternder Stimme. „Wieso lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?“

„Was ich will?“, antwortete Leon Ritter wütend. „Ich will, dass du endlich mit den Spielchen aufhörst und nach Wien zurückkommst. Hast du eigentlich eine Ahnung, was du mit deinem Trotz angerichtet hast? Es gibt bereits Gerüchte in der Firma, dass diese geschlossen wird. Einige meiner Mitarbeiter haben sogar bereits gekündigt, weil sie Angst haben, sonst ohne Job dazustehen. Das Jahr ist bald um. Danach wird alles, was dein Vater aufgebaut hat, in die Hände einer Stiftung fallen. Willst du das wirklich zulassen?“

„Das war die Entscheidung meines Vaters und nicht meine“, stellte Shana klar. „Sie können sich bei ihm bedanken. Und jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe.“

Bevor der ehemalige Geschäftspartner ihres Vaters noch etwas erwidern konnte, legte Shana auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und sie musste sich hinsetzen. Natürlich war es ihr nicht egal, dass die ehemaligen Angestellten ihres Vaters ihre Jobs verlieren würden, wenn die Firma an die Stiftung ging. Aber sie kannte diese Leute nicht. Also warum sollte ich, nur um deren Arbeitsplätze zu sichern, einen Mann heiraten, dem ich völlig gleichgültig bin?, ging es ihr durch den Kopf. Denn eins wusste sie ganz genau. Leon Ritter ging es nur um die Anteile ihres Vaters und um die Kontrolle über das Unternehmen. Sie war im Grunde nur ein Mittel zum Zweck. Und damit konnte sie nicht leben.

„Alles in Ordnung?“

Verwirrt drehte sich Shana um, als sie die Frage hörte, und sah die rothaarige Frau schweigend an. Jade, ging es ihr durch den Kopf und sie schluckte. Nicht sie auch noch.

„Was machst du denn hier?“, fragte Shana leise, obwohl sie wusste, dass es eine dumme Frage war.

Jade war immerhin eine de Luca und seit dem Rücktritt ihres Vaters eine Leiterin der Fabrik. Wenn auch nur auf dem Papier.

„Es sind Semesterferien“, antwortete Jade schulterzuckend auf Shanas Frage und sah sich kurz im Raum um. „Da wollte ich meine Familie besuchen.“

Dann wurde sie ernst.

„Joel und ich haben gesehen, was passiert ist. Ich meine deinen Zusammensturz mit meinem Bruder Juan“, ergänzte Jade, als sie die Verwirrung in Shanas Gesicht sah.

Sofort wurde diese rot.

„Das war keine Absicht“, erwiderte Shana verlegen. „Ich hab nicht aufgepasst.“

Jade schüttelte den Kopf und ging auf sie zu.

„Es war nicht deine Schuld“, stellte Jade klar. „Jedenfalls nicht nur. Schließlich hat mein Bruder auch nicht aufgepasst.“

„Aber …“

Jade ließ Shana nicht ausreden, sondern winkte ab.

„Juan hätte nicht so mit dir reden dürfen“, sagte Jade ernst. „Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Bisher hat er noch nie eine Mitarbeiterin verbal angegriffen. Vielleicht liegt es daran, dass Mayas Todestag näher rückt. Obwohl das natürlich keine Entschuldigung ist.“

Schweigend hörte Shana zu und nickte. Schon möglich, dass dies der Grund für Juans harte Worte war. Aber sie glaubte nicht wirklich daran. Der Ausbruch heute war nämlich nicht der erste gewesen. Schon öfter in den letzten Monaten hatte Juan sie wütend zurechtgewiesen. Es war fast so, als würde er darauf warten, dass sie einen Fehler machte. Und das tat weh. Schließlich hatten sie sich früher einmal sehr gut verstanden.

Plötzlich musste Shana wieder an ihre erste Begegnung denken. Damals war sie erst 12 Jahre alt gewesen und hatte um ihre verstorbene Mutter getrauert. Da ihr Vater sich um wichtige Geschäfte kümmern musste oder wollte, durfte sie die Sommerferien bei ihrem Patenonkel verbringen. Und es war, als würde sie nach Hause kommen. Zum ersten Mal seit dem Tod von Sonja van de Renne fühlte sie sich wieder geborgen und geliebt. Valenzo de Luca und seine Frau Sophia kümmerten sich rührend um das kleine verstörte Mädchen, das sie damals war. Und am liebsten wäre sie für immer dort geblieben. Dann, in ihrer letzten Ferienwoche, lernte Shana schließlich Juan kennen, der seine Eltern für ein paar Tage besuchen wollte. Er war bereits 20 und somit einige Jahre älter als sie, doch Shana fühlte gleich eine gewisse Verbundenheit. Sie beide liebten die Natur, und Juan war gerne bereit, ihr die Schönheiten seiner Umgebung zu zeigen. Und so wurde diese Woche zu einer ihrer schönsten Erinnerungen.

„Vielleicht liegt es daran, dass Mayas Todestag näher rückt.“

Erneut ließ sich Shana diese Worte durch den Kopf gehen. Vielleicht hat Jade doch recht, dachte sie traurig. Möglicherweise war das der Grund, warum Juan sich ihr gegenüber so verhielt. Immerhin hatte sie ihn in einer Situation erlebt, die er lieber für sich behalten hätte. Kein Wunder, dass er wollte, dass sie aus seinem Leben verschwand.

„Lass mich in Zukunft in Ruhe. Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, bekommst du es mit mir zu tun!“

„Shana? Alles in Ordnung.“

Jades Worte holten Shana in die Gegenwart zurück und sie schüttelte die Bilder aus der Vergangenheit ab. Sie wollte sich nicht an Juans harte Worte erinnern, die ihr damals als Kind zum zweiten Mal den Boden unter den Füßen weggerissen hatten.

„Es geht mir gut“, log sie und hoffte, Jade würde nicht weiter nachhaken.

Immerhin hatte sie versprochen, nie mit jemandem darüber zu sprechen. Und sie würde es auch heute nicht tun.

„Du hast bestimmt recht“, ergänzte sie mit einem schwachen Lächeln. „Wahrscheinlich hatte dein Bruder nur einen schlechten Tag. Ich werde ihm in Zukunft einfach aus dem Weg gehen.“

Jade nickte.

„Das wird das Beste sein.“

Dann fiel ihr Blick auf die Ordner, die immer noch auf dem Tisch lagen.

„Wo bist du gerade eingeteilt?“, wollte Jade wissen und sah Shana fragend an.

„Im Verwaltungssekretariat“, antwortete Shana verwirrt. „Wieso?“

„Oh“, war alles, was Jade antwortete, bevor sie angestrengt nachdachte. „In diesem Bereich dürfte es schwer werden, meinem Bruder aus dem Weg zu gehen“, sagte sie nachdenklich. „Besonders jetzt, wo Juan für ein paar Wochen täglich ins Büro kommen wird. Da wäre es schon besser, du würdest in eine andere Abteilung wechseln.“

„Das wird nicht möglich sein“, sagte Shana leise und sah verlegen zu Boden. Es war ihr peinlich, eingestehen zu müssen, dass sie bereits überall kläglich versagt hatte. „Ich habe in den anderen Abteilungen nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen.“

„Ja, Joel hat so etwas erwähnt“, gab Jade nachdenklich zu. Dann kam ihr eine Idee. „Warst du auch schon in der Produktion?“, wollte sie mit ernster Miene wissen. „Mein Vater hat mal erzählt, du würdest deine Kleider selber nähen. Und wenn ich mir deine Sachen so anschaue, bist du darin ziemlich gut.“

Kurz sah Shana an sich hinunter und betrachtete die graue Stoffhose, die dazu passende Weste und den roten Pullover. Es stimmte, sie hatte ihre Kleidung selbst genäht. Aber eher aus Verzweiflung, da sie sich mit ihrem geringen Gehalt keine guten Kleidungsstücke leisten konnte. Aber sie würde nicht behaupten, dass sie großes Talent besaß. Im Gegenteil! Ihr Vater hatte oft genug betont, dass ihre Nähkünste eher stümperhaft waren und in keiner Weise mit den Arbeiten ihrer Mutter mithalten konnten.

„Ich glaube kaum, dass deine Brüder mich ausgerechnet in der Produktion haben möchten“, sagte Shana traurig.

Schließlich ist dieser Bereich das Herzstück des Unternehmens, ging es Shana durch den Kopf. Und ihr waren in den letzten Monaten einfach zu viele Fehler passiert.

„Das werden wir ja sehen“, erwiderte Jade lächelnd. „Lass mich nur machen. Ich rede mit ihnen. Du solltest jetzt aber Feierabend machen“, ergänzte sie nach einem kurzen Blick auf ihre Uhr. „Es ist schon spät.“

Shana, die alles andere als zuversichtlich war, nickte Jade schweigend zu und zeigte auf die Ordner.

„Ich bringe sie nur noch ins Archiv.“

„In Ordnung“, erwiderte Jade und hielt Shana die Tür auf, als diese mit den Ordnerstapel den Raum verlassen wollte. „Ich melde mich bei dir, sobald ich mit meinen Brüdern gesprochen habe.“

Dann wünschte sie Shana ein schönes Wochenende und ging in Richtung des Verwaltungsbereiches davon.

Schweigend sah Shana Jade hinterher, bis diese nicht mehr zu sehen war, dann ging sie weiter in Richtung des Archivs. Diesmal erreichte sie es ohne weitere Umwege und stellte die Ordner in eines der Regale. Dabei musste sie immer wieder an das Gespräch mit der Tochter ihres Patenonkels denken. Ob Joel und Juan wirklich erlauben, dass ich in die Produktionsabteilung gehe?, fragte sie sich nachdenklich. Bisher war dieser Bereich immer für sie tabu gewesen. Denn dort wurden die Ideen für neue Kollektionen umgesetzt bzw. bereits bestehende Outfits produziert. Und nur Mitarbeiter, die dort arbeiteten, durften sich in diesem Bereich aufhalten.

Das Klingeln ihres Handys riss Shana aus ihren Gedanken. Aus Angst, dass Leon Ritter es noch einmal versuchen könnte, sie telefonisch zu erreichen, sah sie sich die Nummer an und stöhnte auf. Mist, ging es ihr durch den Kopf und sie sah auf die Uhr. Inzwischen wartete ihre Freundin Mia schon seit fast zwanzig Minuten auf sie. Schnell nahm sie das Gespräch an und versprach, sofort zu kommen. Dann legte sie auf und rannte fast zum Café, welches die Besucher der Fabrik tagsüber mit Kaffee, Kuchen und belegten Broten versorgte.

Shana brauchte nicht lange, um ihre Freundin ausfindig zu machen. Fast alle Mitarbeiter waren inzwischen nach Hause gegangen, sodass ihr die schlanke blonde Frau, die an einem der Tische lehnte, sofort ins Auge fiel.

„Entschuldige“, sagte Shana völlig außer Atem, als sie Mia Brunner erreichte. „Jade de Luca hat mich aufgehalten.“

„Echt?“, fragte ihre Freundin überrascht. „Ich dachte, sie wäre in Heidelberg.“

Shana zuckte mit den Schultern.

„Sie hat Semesterferien und wollte ihre Familie besuchen.“

„Aha“, erwiderte Mia verwirrt. „Und was wollte sie von dir?“, fragte sie neugierig, während sie Shana die Tür aufhielt, die zum Außenbereich führte.

„Nichts Wichtiges“, spielte Shana das Geschehene herunter, während sie zum Parkplatz gingen. „Ich hatte nur einen kleinen Zusammenstoß mit ihrem Bruder Juan.“

Sofort blieb Mia stehen und sah ihre Freundin prüfend an.

„Ist er wieder wütend geworden?“

„Quatsch. Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte Shana ausweichend und wollte weitergehen, doch Mia hielt sie zurück.

„Komm schon. Jeder in der Fabrik weiß, dass er dich auf seiner Liste hat“, sagte Mia eindringlich. „Oder hast du die Standpauke vergessen, die du dir damals im Café eingefangen hast. Ich habe vorher noch nie erlebt, dass er wegen ein paar zerbrochener Gläser so ausgeflippt ist.

Shana musste schlucken. Natürlich erinnerte sie sich noch sehr gut daran. Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich nach ihrem großen Streit wiedergesehen hatten. Der Tag, als die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit aller Deutlichkeit zurückkehrte. Plötzlich war sie wieder 13 Jahre alt gewesen. Voller Vorfreude darauf, Juan nach fast einem Jahr endlich wiederzusehen. Tagelang hatte sie ihren Vater angebettelt, erneut die Sommerferien bei ihrem Patenonkel verbringen zu dürfen. Bis dieser schließlich nachgab und es erlaubte. Doch bereits nachdem Valenzo sie vom Bahnhof abgeholt hatte, wusste sie, dass etwas anders war. Von der fröhlichen Stimmung, an die sie sich so gut erinnern konnte, war nichts mehr übrig gewesen. Das ganze Haus schien in Trauer verfallen zu sein. Als sie dann den Grund dafür erfahren hatte, konnte sie es erst nicht glauben. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht einmal gewusst, dass Juan bei ihrem letzten Besuch bereits seit gut zwei Jahren verheiratet gewesen war. Mit Maya, dachte Shana traurig. Die zusammen mit ihrem ungeborenen Kind bei einem Überfall gestorben ist. In ihrer kindlichen Naivität hatte sie gedacht, sie könnte Juan helfen, mit seinem Schmerz umzugehen. Immerhin hatte sie selbst erst einige Jahre früher ihre Mutter verloren und lange um sie getrauert. Doch das Gespräch entwickelte sich zu einer Katastrophe und Shana musste erkennen, dass es den Juan, mit dem sie so schöne Tage verbracht hatte, nicht mehr gab.

„Ich denke, er hatte damals nur einen schlechten Tag“, nahm Shana Juan in Schutz.

Schließlich war es nicht seine Schuld, dass ihre Anwesenheit ihn ausgerechnet an diesen schrecklichen Tag erinnerte. Trotzdem hatte Mia mit ihrer Aussage nicht ganz unrecht. Die Situation damals war eigentlich nicht der Rede wert gewesen. Nachdem sie Juan erkannt hatte, waren ihr vor Schreck ein paar der Gläser heruntergefallen. Er hatte es mitbekommen und war mit ernster Miene in die Küche gekommen, bevor sie die Scherben wegräumen konnte. Als ihm klar wurde, warum sie ihm so bekannt vorkam, war er ziemlich wütend geworden und hatte sie zusammengestaucht. Zwei Tage später musste sie dann plötzlich den Bereich verlassen und wurde in die Verpackungsabteilung geschickt. Eine Abteilung, die seltsamer weise vom Verwaltungsbereich am weitesten entfernt lag.

„Wenn du meinst“, sagte Mia schulterzuckend und ging weiter.

Shana wusste jedoch, dass ihre Freundin nicht wirklich davon überzeugt war, und beschloss, das Thema zu wechseln.

„Wie war dein Tag?“, wollte Shana wissen, nachdem sie Mia eingeholt hatte.

„Bei uns war es heute ziemlich langweilig“, gab diese zu, als sie den Steinweg entlanggingen, der vom Außenbereich des Cafés direkt zum Besucherparkplatz führte. „Das einzige Highlight war die Ankunft von Alexander und Ronja de Luca. Inzwischen werden sogar schon Wetten abgeschlossen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird“, sagte Mia belustigt.

Für einen kurzen Moment verzogen sich auch Shanas Lippen zu einem Lächeln, dann musste sie an Juan denken und wurde sofort wieder ernst. Wie schmerzhaft muss diese Schwangerschaft für ihn sein, ging es ihr durch den Kopf. Aber sofort schüttelte sie diesen Gedanken wieder ab. Sie musste endlich aufhören, über Juan und seine Gefühle nachzudenken. Schließlich hatte sie gerade dieses Mitgefühl in ihre jetzige Lage gebracht. Und sie konnte es sich nicht leisten, ausgerechnet jetzt ihren Job zu verlieren. Nicht bis das Jahr zu Ende war und sie endlich das Geld aus ihrem Erbe bekommen würde.

„Und was denkst du?“, fragte Shana schnell, als Mia sie erneut prüfend ansah.

„Ein Mädchen“, sagte diese nach kurzem Zögern, behielt ihre Freundin aber fest im Blick.

Als Shana nur kurz mit dem Kopf nickte und schweigend weiterging, blieb Mia plötzlich stehen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

„Also, was ist los?“, fragte sie mit ernster Stimme. „Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Und komm mir jetzt nicht wieder mit irgendwelchen Ausreden. Wir sind schließlich Freunde.“

Schweigend sah Shana ihre Freundin an, dann nickte sie und zeigte auf eine Bank ein paar Meter vor ihnen. Gemeinsam gingen sie darauf zu und setzten sich hin.

„Ich habe Angst, dass Juan mich rauswirft“, begann Shana, leise zu sprechen. „Wie du schon sagst, er hat mich auf seiner Liste. Jade hat mir geraten, ihm aus dem Weg zu gehen, doch das ist nicht so einfach, wenn man in der gleichen Abteilung arbeitet.“

„Ich verstehe das nicht. Was genau hat er eigentlich gegen dich?“, wollte Mia verwirrt wissen. „Er kennt dich doch gar nicht.“

„Er kennt mich“, gab Shana zu und Mia sah sie verwundert an.

Kein Wunder, ging es ihr durch den Kopf. Denn bisher hatte sie noch nie mit ihr über ihre Vergangenheit gesprochen.

„Weißt du, Valenzo ist mein Patenonkel“, erklärte Shana ihr. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ein paar Sommerferien bei ihm und seiner Familie verbracht. Dabei habe ich auch Juan kennengelernt.“

„Ich hatte keine Ahnung“, erwiderte Mia und sah ihre Freundin fragend an. „War er schon immer so?“

Shana schüttelte den Kopf.

„Als ich ihn mit 12 Jahren kennenlernte, war er ein ganz anderer Mensch“, erklärte Shana ihrer Freundin. „Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht und er hat mir geholfen, nicht ständig an meine tote Mutter zu denken. Ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber damals waren wir Freunde“, ergänzte sie traurig. „Er war wie der große Bruder, den ich immer haben wollte.“

Unglücklich sah Shana auf den Boden, während Mia ihr eine Hand auf die Schultern legte.

„Wieso ist er dann jetzt so giftig zu dir?“

Weil ich alles kaputt gemacht habe, ging es Shana durch den Kopf. Und als sie sich das Gespräch von damals wieder ins Gedächtnis rief, schossen ihr die Tränen in die Augen.

„Ich wusste, dass du hier bist“, hatte sie leise gesagt, als sie den schwarzhaarigen Mann entdeckte, der vor einem Grab kniete.

Langsam war sie auf ihn zugegangen, bemüht, ihre eigenen Erinnerungen an diesen schrecklichen Ort zu verdrängen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich damals von Friedhöfen ferngehalten, um nicht an die schreckliche Beerdigung erinnert zu werden. Doch nachdem sie von ihrem Patenonkel die traurige Nachricht erfahren hatte, wusste sie, dass sie ihn hier finden würde, und musste einfach hingehen. Ohne den anderen Bescheid zu sagen, hatte sie sich weggeschlichen. Gut hatte sie verstehen können, warum er gerade niemanden sehen wollte. Ihr war es nach dem Tod ihrer Mutter nicht anders ergangen. Aber sie hatte geglaubt, ihm helfen zu können. So wie er ihr bei ihrer Trauer geholfen hatte.

Als sie Juan erreichte, hatte sie ihm eine Hand auf seine Schulter gelegt, doch er hatte sie nur abgeschüttelt, ohne sich umzudrehen.

„Verschwinde“, war alles, was sie zu hören bekam. Und zwar so leise, dass sie die Worte kaum verstehen konnte.

Aber sie hatte an seiner steifen Haltung erkennen können, wie sehr er unter dem Verlust seiner Frau litt. Hatte seinen Schmerz nur zu gut nachfühlen können, da es ihr nach dem Tod ihrer Mutter nicht anders ergangen war. Und daher konnte sie einfach nicht gehen, sondern hatte versucht, ihn mit Worten zu trösten.

„Es tut mir so leid“, das waren ihre Worte gewesen. „Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich kann dir helfen. Als meine Mutter …“

Weiter war sie nicht gekommen.

„Hau ab!“, hatte Juan sie angeschrien und dann verbittert aufgelacht. „Wie willst du mir helfen? Du bist nur ein kleines Kind. Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.“

Schneidend waren seine Worte gewesen und am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch ihre Füße waren wie festgewachsen. Sie hatte sich nicht bewegen können. Nicht einmal als er sich ohne Vorwarnung wütend zu ihr umdrehte und sie mit seinen braunen Augen eisig ansah.

„Du kannst mir nicht helfen“, hatte er so kalt zu ihr gesagt, dass ihr ganzer Körper zitterte. „Niemand kann das, verstehst du? Und schon gar nicht jemand, der praktisch noch in den Windeln liegt. Werde erst einmal erwachsen.“

Tränen waren ihm die Wangen hinuntergelaufen, die er mit einer Hand fortgewischt hatte, während er an ihr vorbeigegangen war. Wie erstarrt hatte sie ihm hinterhergesehen, völlig unfähig, sich zu bewegen. Sie hatte sich so verletzt gefühlt, schließlich wollte sie ihm doch nur helfen. Aber am schlimmsten waren die letzten Worte gewesen, die er ihr zum Schluss noch einmal zugerufen hatte. Denn damit hatte er ihr nur zu deutlich zu verstehen gegeben, dass er mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte.

„Lass mich in Zukunft in Ruhe. Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, bekommst du es mit mir zu tun!“

„Shana?“

Die Worte ihrer Freundin holten Shana in die Gegenwart zurück. Ihre Hände zitterten und sie fühlte, wie sich ein Gefühl von Kälte in ihr ausbreitete. Schon zum zweiten Mal war sie heute an diesen Tag erinnert worden. Dabei wünschte sie sich nur, sie könnte diese Begegnung einfach vergessen. Sie war so dumm gewesen. Nur ein kleines Kind, das es nicht besser wusste.

„Es geht mir gut“, versicherte Shana ihrer Freundin, als sie sich etwas beruhigt hatte.

„Das glaube ich dir nicht“, erwiderte Mia besorgt. „Du bist ganz weiß geworden.“

„Ich habe mich nur an etwas erinnert“, antwortete Shana ausweichend.

„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann …“, bot Mia an, doch Shana schüttelte den Kopf.

„Danke, aber dabei kannst du mir nicht helfen. Es ist Vergangenheit“, versicherte Shana ihrer Freundin, während ihr Gesicht langsam wieder Farbe bekam. „Ich möchte jetzt nur noch nach Hause. Wir können ja an einem anderen Tag weggehen.“

Mia nickte, sah Shana aber weiter besorgt an.

„Ich lass dich aber nicht alleine gehen“, sagte sie schließlich. „Komm, ich bring dich rüber.“

Erst wollte Shana widersprechen, doch dann sah sie ihre Freundin dankbar an. Sie war froh, nicht alleine nach Hause gehen zu müssen, auch wenn es bis zum Haus ihres Patenonkels, in dem sie eine der Einliegerwohnungen bewohnte, nicht weit war. Noch immer spürte sie ein leichtes Zittern in Armen und Beinen, und auch das Gefühl von Kälte war noch nicht ganz verschwunden. Schon lange hatte sie nicht mehr einen so heftigen Anfall gehabt und sie verfluchte sich selbst. Wieso musste ich diese alte Geschichte auch wieder aufwärmen?, ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte den Mund halten sollen.

Geliebt! Ein Stern für Juan

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