Читать книгу Gefangen! Ein Geheimnis mit Folgen - Isabella Defano - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеFertig, dachte Mario erleichtert und stellte den letzten Ordner in den Schrank. Endlich war sein Büro wieder so weit eingeräumt, dass er sich seinen eigentlichen Aufgaben widmen konnte. In nicht einmal zwei Wochen sollte die de-Luca-Filiale in Wien hier an diesem Standort neu öffnen. Und bis dahin gab es noch viel zu tun. Denn trotz der fleißigen Hilfe von Matthias de Luca und den vielen Überstunden der letzten Wochen hinkten sie mit ihrem Zeitplan deutlich hinterher. Und das brachte den geplanten Eröffnungstermin langsam in Gefahr.
„Und alles nur, weil die Umbau- und Malerarbeiten so lange gedauert haben“, sagte er gereizt und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
Denn nachdem die Mitarbeiter der engagierten Firma von heute auf morgen nicht mehr auf der Baustelle erschienen waren, hatten sie sich nach Ersatz umsehen müssen. Das hatte sie fast zwei Wochen gekostet. Nur, um dann zu erfahren, dass die Arbeiten vorher ziemlich schlampig durchgeführt worden waren. Und das im Grunde nur sein Büro im Großen und Ganzen fertiggestellt war.
„Aber wenigstens kann sich das Ergebnis jetzt sehen lassen“, stellte Mario zufrieden fest und schaltete seinen Computer an.
Alle Wände im Verkaufsbereich waren in einem einladenden und warmen Orangeton gestrichen. Und der robuste Vinylboden sah optisch aus wie hochwertiges Parkett. Die Kunden würden es lieben, davon war er fest überzeugt. Denn nichts erinnerte mehr an die hässlichen Räume der alten Filiale, die so oft im Internet kritisiert wurden. Und trotzdem von seinem Vorgänger jahrelang ignoriert worden waren.
Trotzdem, ging es Mario durch den Kopf und er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sie waren noch lange nicht fertig. Die Regale, Tische und Kleiderständer standen zurzeit noch planlos in dem großen Verkaufsraum herum. Denn erst gestern war er mit Matthias de Luca dazu gekommen, sie zusammenzubauen. Jetzt mussten sie verteilt und die Kleidungsstücke eingeräumt bzw. aufgehängt werden. Aber dafür war es gestern Abend einfach schon zu spät gewesen.
Das Klopfen an der Tür riss Mario aus seinen Gedanken und er sah verwundert auf die Uhr. Eigentlich war es noch viel zu früh für die anderen Mitarbeiter. Da sie alle in den letzten Tagen so hart gearbeitet hatten, hatte er ihnen erlaubt, heute etwas später in die Filiale zu kommen. Trotzdem schien bereits jetzt jemand zur Arbeit gekommen zu sein.
„Ja, bitte“, rief Mario laut, als es erneut klopfte, und die Tür ging auf. „Lisa?“, fragte er verwirrt, als seine Verkäuferin Lisa Farber ins Zimmer kam. „Was machst du denn so früh hier?“ Denn mit ihr hätte er am allerwenigsten gerechnet. „Wieso bist du nicht bei Fabian? Ihr hättet heute Vormittag doch etwas unternehmen können. Oder hast du vergessen, dass Matthias heute nicht da ist?“
Dass Matthias kurzfristig zur Farm seiner Familie fahren musste, war ein weiterer Grund, warum er seinen Mitarbeitern etwas Ruhe schenken wollte. Immerhin konnte er die restlichen Möbel schlecht alleine in dem Verkaufsraum verteilen, sondern musste auf seine Rückkehr warten. Somit war es für seine Leute die perfekte Gelegenheit gewesen, um etwas auszuspannen und neue Kräfte zu sammeln. Denn ab morgen würde ihnen dafür keine Zeit mehr bleiben.
„Nein habe ich nicht“, erwiderte Lisa schmunzelnd und ging auf Marios Schreibtisch zu. „Doch ich muss mich noch um ein paar Sachen kümmern, bevor die anderen heute zur Arbeit kommen. Schließlich bin ich für alles verantwortlich, solange Gabriele im Krankenhaus ist.“
Mario nickte und betrachtete die junge Frau, die so ganz ohne Make-up im Gesicht viel jünger aussah als 23. Ja, dachte er nachdenklich. Sie sieht sogar zu jung aus, um bereits Mutter eines fünfjährigen Sohnes zu sein.
„Hast du mit Frau Herzog gesprochen?“
Lisa nickte und reichte Mario die Unterlagen.
„Sie hat mir die Pläne gegeben, die sie für den Verkaufsraum gemacht hat. Wenn die Aufteilung für dich in Ordnung ist, können wir gleich morgen mit dem Einräumen beginnen.“
„Sehr schön“, erwiderte Mario geistesabwesend und studierte die Unterlagen. Dann reichte er seiner Mitarbeiterin die Papiere zurück. „Die Einteilung ist in Ordnung. Das könnt ihr so machen.“
„Gut“, erwiderte Lisa und stand auf. Doch noch bevor sie die offene Tür erreichte, drehte sie sich noch einmal zu Mario um und sah ihn fragend an.
„Hast du schon was von der Polizei gehört? Gabriele macht sich Sorgen um die Kleidungstücke, die sich noch in der alten Filiale befinden.“
„Nein, sie haben sich noch nicht gemeldet“, erwiderte Mario nachdenklich und fasste sich mit einer Hand an die Schläfe. „Doch ich habe auch nicht wirklich damit gerechnet. Es dauert eine Weile, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Wir können also nur abwarten. Und was die Sachen betrifft, die sich noch in dem Gebäude befinden. Sag Gabriele, sie soll sie vergessen“, ergänzte er ernst. „Seit diesem Feuer sind inzwischen drei Tage vergangen. Der Rauchgeruch hatte also genügend Zeit, sich an die Kleidungstücke zu heften. Wir werden wohl kaum noch etwas retten können.“
„Da hast du wohl recht“, stimmte sie ihm nachdenklich zu. „Zum Glück hatten wir die meisten Sachen bereits ausgeräumt.“ Dann lachte sie leise auf. „Im Grunde können wir froh sein, dass wir kurz vorher mit dem Umzug begonnen haben. Sonst würden wir jetzt auf der Straße sitzen.“
Auch Marios Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
„Sag das nicht so laut“, sagte er belustigt. „Sonst glaubt am Ende noch jemand, wir hätten das geplant.“
„Als hätten wir so etwas nötig“, erwiderte Lisa kopfschüttelnd. „Aber es ist schön, dich mal wieder lächeln zu sehen. In letzter Zeit warst du immer so ernst.“
„Es war auch eine anstrengende Zeit“, antwortete Mario lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Der ganze Ärger mit dem Umbau hat uns ganz schön viel Zeit und Nerven gekostet. Aber jetzt ist es zum Glück vorbei. In gut zwei Wochen können wir wieder eröffnen, dann wird hoffentlich langsam wieder Normalität einkehren.“
„Das hoffe ich auch“, stimmte Lisa ihm zu und drehte sich schnell um, als sie aus dem Verkaufsraum ein lautes Bimmeln hörte. „Scheinbar hat noch jemand beschlossen, heute früher mit der Arbeit zu beginnen“, ergänzte sie verwundert und drückte die Unterlagen, die sie in der Hand hielt, an ihre Brust. „Ich werde mal sehen, wer es ist.“
Kurz darauf war Lisa verschwunden und Mario sah seiner Mitarbeiterin lächelnd hinterher. Sie nimmt ihre neue Rolle als stellvertretende Leitung des Verkaufsbereiches wirklich sehr ernst, dachte er belustigt.
Als jedoch sein Privathandy zu klingeln begann, blendete er alle Gedanken aus und griff nach seinem Smartphone. Dabei achtete er nicht groß auf die Nummer, sondern nahm das Gespräch sofort an. Als er jedoch nur leise Stimmen im Hintergrund hörte, bildeten sich Falten auf seiner Stirn und er lehnte sich verwirrt in seinem Stuhl zurück. Soll das etwa ein Telefonstreich sein?
„Hallo. Wer ist da, bitte?“, fragte er etwas gereizt, denn für so etwas hatte er im Moment wirklich keine Zeit.
Aber erneut meldete sich niemand und Mario wollte das Gespräch beenden. Bis plötzlich doch noch eine Männerstimme am anderen Ende erklang und Mario vor Schreck fast das Telefon fallen ließ.
„Hallo Rox.“
Callan, dachte Mario entsetzt, während sein Herz auf einmal deutlich schneller schlug. Nie könnte er diese Stimme vergessen, in der man schon damals einen drohenden Unterton hören konnte. Und das, obwohl er sie so lange nicht gehört und sich gewünscht hatte, ihn und die anderen nie wieder sehen zu müssen.
Leider hatte sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Denn vor gut zwei Monaten hatten sie ihn hier in Wien aufgespürt und versucht, mit ihm in Kontakt zu treten. Aber er hatte keine Lust, sich noch einmal von ihnen sein Leben ruinieren zu lassen. Noch einmal zusehen zu müssen, wie sie andere verletzten. Es hatte lange gedauert, bis es ihm wenigstens halbwegs wieder besser gegangen war. Das würde er sich von ihnen nicht kaputt machen lassen.
„Sie haben sich verwählt. Hier gibt es keinen Rox“, probierte Mario sein Glück und versuchte, sich zu beruhigen.
Er wollte gar nicht wissen, wie sie an seine private Handynummer gekommen waren. Doch er wusste, dass sie ihn nie in Ruhe lassen würden, wenn er sich jetzt zu erkennen gab. Seit ihrer letzten Begegnung waren einige Jahre vergangen. Er hatte sich ziemlich verändert. Kaum noch etwas an ihm erinnerte an den kleinen verstörten Jungen von damals. Und mit etwas Glück konnte es funktionieren.
„Netter Versuch“, ertönte es spöttisch vom anderen Ende und Mario musste schlucken. „Aber ich weiß genau, wer du bist. Nachdem uns im Internet der Artikel mit deinem Foto ins Auge gefallen ist, haben wir Nachforschungen angestellt. Mir ist gleich eine gewisse Ähnlichkeit aufgefallen und wir wurden nicht enttäuscht. Beeindruckend, was aus dir geworden ist. Filialleiter der de-Luca-Filiale in Wien. Nicht schlecht für einen ehemaligen Dieb. Ich frag mich nur, ob dein Chef weiß, wer du wirklich bist.“
Kaum hatte er das gesagt, wurde das Gespräch unterbrochen und es war nur noch ein Tuten zu hören.
„Verdammt“, fluchte Mario leise vor sich hin und seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Natürlich wusste er genau, von welchem Artikel Callan gesprochen hatte.
Schon vor Monaten war dieser in der Zeitung und auch im Internet erschienen, um über die Vergrößerung der Wiener Filiale zu berichten. Und als man dafür ein Foto von ihm und seinem Team machen wollte, hatte er sich nichts weiter dabei gedacht.
Ich bin nachlässig geworden, ging es ihm durch den Kopf und er hätte am liebsten etwas gegen die Wand geworfen. Da er so lange Glück gehabt hatte, war die Angst, gefunden zu werden, mit den Jahren immer kleiner geworden. Er hatte damit begonnen, sich hier ein Zuhause aufzubauen. Hatte sich eine gemütliche ost-westorientierte Maisonette-Wohnung gekauft, statt wie früher in möblierten Zimmern aus gepackten Koffern zu leben. Und er war seit vier Jahren in keine andere Stadt mehr umgezogen.
„Ich bin so ein Idiot“, flüsterte er leise und schüttelte mit dem Kopf. „Ich hätte verschwinden sollen, als ich diesen Brief bekommen habe.“
Doch er hatte seine Leute nicht im Stich lassen wollen. Gehofft, sie würden ihn in Ruhe lassen, wenn er nicht auf ihre Kontaktversuche reagierte. Aber damit hatte er sich nur selbst etwas vorgemacht. Er hätte wissen müssen, dass Callan, Seth und Vico nicht so leicht aufgeben würden. Dafür war zu viel zwischen ihnen vorgefallen. Aber er musste einen Weg finden, sie wieder loszuwerden. Niemals durften die de Lucas von seiner Vergangenheit erfahren. Denn dadurch konnte er alles verlieren, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte.
Fieberhaft überlegte Mario, was er jetzt tun sollte. Leider waren seine Möglichkeiten ziemlich begrenzt. Er könnte versuchen, mit ihnen zu reden. Bezweifelte aber, dass sie sich damit zufriedengeben würden. Er hatte das Richtige tun wollen und war ihnen in den Rücken gefallen. Damit hatte er gegen das oberste Gesetz verstoßen, und das würden sie ihm niemals verzeihen. Dafür kannte er seine alten Freunde einfach zu gut.
Plötzlich klopfte es erneut an der Tür und Mario wurde aus seinen Gedanken gerissen. Genervt lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte jetzt keinen Kopf für weitere Probleme und wollte im Grunde nur allein sein. Doch im gleichen Augenblick rief er sich selbst zur Ordnung. Schließlich konnten Lisa und die anderen nichts dafür, dass ihn gerade seine Vergangenheit einholte.
„Ja, bitte“, sagte er mit fester Stimme und atmete tief durch.
Mit aller Kraft versuchte Mario, den Anruf und seine Erinnerungen zu verdrängen. Und als kurz darauf seine Verkäuferin Lisa Farber lächelnd das Büro betrat, hatte er sich so weit im Griff, dass er ihr für die Störung nicht gleich den Kopf abreißen wollte.
„Lisa, was gibt es denn noch?“, fragte er ernst und griff nach einem Papier, damit es so aussah, als hätte er zu tun. „Kann es nicht warten?“
„Ich fürchte nicht“, erwiderte Lisa entschuldigend. „Gerade ist eine Frau angekommen, die Matthias de Luca sprechen möchte. Als ich ihr sagte, dass dieser heute frei hat, wollte sie mit Ihnen sprechen.“
Verwirrt sah Mario Lisa an. Normalerweise benutzte sie diese geschäftsmäßige Anrede nur, wenn jemand von den anderen Mitarbeitern in der Nähe war.
„Hat sie gesagt, wie sie heißt? Oder was genau sie will?“
„Sie heißt Sophie de Luca“, erklang eine weibliche Stimme an der Tür, bevor Lisa die Chance hatte zu antworten. „Und sie ist hier, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen.“
Überrascht setzte sich Mario in seinem Stuhl auf und sah die Besucherin ungläubig an, deren lange blonde Haare ihr offen über die Schulter fielen.
„Sie sind Matthias‘ Cousine?“, fragte er verblüfft und starrte sie ungläubig an, während Lisa leise den Raum verließ. Das kann doch nicht deren ernst sein, ging es ihm durch den Kopf. Wie bitte soll ich mit dieser Frau zusammenarbeiten? Sie sieht kaum älter aus als 18.
Das kann ja heiter werden, dachte er frustriert und ließ seinen Blick über ihren Körper schweifen. Er hatte sich die Schwester seines Chefs ganz anders vorgestellt. Älter und geschäftsmäßiger. Nicht so ein junges Ding, das lieber selbst shoppen ging, als sich um den Verkauf dieser Sachen zu kümmern. Und dann auch noch ihre Garderobe, dachte er spöttisch. Weiße Hose, ein rotes T-Shirt und Sandaletten. Kaum das richtige Outfit, um bei den letzten Vorbereitungen zu helfen und eine leitende Funktion einzunehmen. Auch, wenn ihr die Sachen sehr gut standen.
„Die bin ich“, versicherte Sophie lächelnd, während sie auf Mario zuging, und reichte ihm die Hand. „Und ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.“
Schweigend ergriff Mario ihre Hand, ohne auf ihre Worte einzugehen. Was hätte er auch sagen sollen? Im Gegensatz zu ihr war er alles andere als begeistert. Diese Frau würde nichts als Ärger bringen, davon war er fest überzeugt. Und als sein Körper dann auch noch auf ihre Berührung reagierte, fühlte er sich in seiner Meinung bestätigt. Für so etwas hatte er im Moment wirklich keine Zeit.
Oh, mein Gott, dachte Sophie, als ein Kribbeln ihren Körper durchzog, nachdem sie die Hand des Filialleiters berührt hatte. Wieso hat Matthias mich nicht vorgewarnt? Mit seinen kurzen dunkelbraunen Haaren, dem Drei-Tage-Bart und den grauen Augen konnte sich Mario Hebbeler sehen lassen. Trotzdem konnte sie sich nicht erklären, warum sie so heftig auf ihn reagierte. Das war ihr noch nie passiert. Besonders nicht bei Männern, die sie überhaupt nicht kannte.
Schweigend ließ Sophie seine Hand los und ging ein paar Schritte zurück. So etwas kann ich im Moment wirklich nicht gebrauchen. Sie war nicht an einer Affäre oder einer Beziehung interessiert, schließlich mussten sie zusammenarbeiten. Außerdem war ihr der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht nicht entgangen, mit dem er sie betrachtet hatte, als sie ins Zimmer gekommen war. Auch nicht der leichte Spott in seinen Augen, als sein Blick auf ihre Kleidung fiel. Und sie verfluchte sich selbst, dass sie in diesem Aufzug hier erschienen war.
Aber was hätte ich machen sollen?, dachte sie leicht gereizt und atmete tief durch. Der größte Teil ihrer Sachen war immer noch auf dem Weg von Amerika nach Deutschland. Ihre Auswahl in ihrem früheren Kinderzimmer war somit ziemlich gering gewesen. Aus diesem Grund war sie vom Flughafen gleich zu Matthias gefahren, um dort ihren Koffer abzustellen und einkaufen zu gehen. Aber nachdem sie ihren Cousin nicht in seiner Wohnung angetroffen hatte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als hierher in die Filiale zu kommen. Nur, um zu erfahren, dass Matthias sich heute freigenommen hatte.
„Ihre Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass Matthias heute nicht in die Filiale kommt“, sagte Sophie, als sie Marios prüfende Blicke und sein Schweigen nicht länger ertragen konnte. „Seltsam, davon hat mir Alexander gestern gar nichts erzählt.“
„Es war eine spontane Entscheidung, nachdem er mit seinem Bruder gesprochen hatte“, erwiderte Mario knapp, ohne eine Miene zu verziehen. „Morgen wollte er aber zurück sein.“
Überrascht sah Sophie den Filialleiter an. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Gleich darauf schlug ihre Überraschung in Besorgnis um, denn sie kannte ihren Matthias sehr gut. Schon als Kinder hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, obwohl Matthias fast zwei Jahre älter war. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, eine angefangene Arbeit einfach liegen zu lassen. Außer, er hatte dafür einen wichtigen Grund.
„Ist auf der Farm irgendetwas passiert?“, wollte Sophie besorgt wissen und ließ sich auf einen der Stühle fallen.
Doch Mario zuckte nur mit den Schultern.
„Das müssen Sie Matthias selber fragen“, antwortete er ernst und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Mir steht es nicht zu, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Er ist aber telefonisch erreichbar.“
„Ich bin nicht irgendjemand“, presste Sophie wütend hervor. „Ich bin seine Cousine. Und wir hatten noch nie Geheimnisse voreinander.“
„Dann rufen Sie ihn an“, erwiderte Mario schulterzuckend. „Lassen Sie es sich von ihm erzählen. Ich mische mich da nicht ein. Denn es geht mich nichts an.“
„Gut“, sagte Sophie schroff und griff nach dem Telefon. Von wegen freundlich und hilfsbereit, ging es ihr dabei durch den Kopf, als sie an Matthias‘ Beschreibung denken musste. Eher bissig und abweisend. „Können Sie mir dann wenigstens seine Handynummer verraten? Meins ist kaputt und ich weiß sie nicht aus dem Kopf.“
Prüfend sah Mario Sophie an. Sie war wütend, das war nicht zu übersehen. Und er war sich nicht sicher, ob sie ihre letzten Worte wirklich ernst gemeint hatte. Als sie jedoch nichts weiter tat, als ihn kühl zu betrachten, beugte er sich nach vorne und griff nach dem Geschäftshandy.
„Den Apparat können Sie vergessen“, sagte er mit ernster Miene und zeigte auf den Telefonhörer in ihrer Hand, während er Matthias‘ Nummer auswählte. „Wir haben hier noch keinen Festnetzanschluss. Dieser muss erst freigegeben werden.“
„Heißt das, die Filiale ist im Moment gar nicht erreichbar?“, wollte Sophie ungläubig wissen und legte den Hörer zur Seite.
Mario schüttelte mit dem Kopf und hielt sich das Smartphone ans Ohr.
„Alle Anrufe für die alte Filiale werden direkt auf mein Geschäftshandy weitergeleitet. Jedoch haben wir im Moment weder Internet noch einen Faxanschluss. Ich warte noch …“
Weiter kam er nicht, denn am anderen Ende erklang Matthias‘ Stimme.
„Mario, ist etwas passiert?“
Eine Menge, wollte Mario am liebsten sagen, doch er hielt sich zurück. Schließlich war Matthias in diesem Moment nicht sein Freund, sondern der Cousin von Sophie de Luca, der Schwester seines Chefs.
„Es ist alles in Ordnung“, erwiderte er daher nur, während er Sophie einen kurzen Blick zuwarf.
Jedoch musste er später noch mal ein ernstes Wort mit ihm sprechen. Dieser hätte ihn ruhig vorwarnen können, was da auf ihn zukam.
„Wieso rufst du mich dann an? Du weißt doch, dass ich heute zu Christian nach Judenburg fahren wollte.“
Matthias‘ irritierte Stimme riss Mario aus seinen Gedanken und er zwang sich, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.
„Sicher weiß ich das“, erwiderte er schnell und stand auf. „Nur hier ist jemand, der mit dir sprechen möchte. Ich reich dich mal weiter.“
„Hier“, sagte er leise und gab das Handy an Sophie weiter. Dabei bemühte er sich, nicht noch einmal ihre Hand zu berühren. Dann stand er auf und verließ das Büro.
Schweigend nahm Sophie das Smartphone entgegen und starrte ihm wütend nach. Da er sich aber nicht noch einmal zu ihr umdrehte, bekam er es gar nicht mit und sie stöhnte frustriert auf. So hatte sie sich ihre erste Begegnung mit Mario Hebbeler nicht vorgestellt.
Dann fiel ihr Blick auf das Handy in ihrer Hand und sie hielt es sich ans Ohr. Sie konnte sich später noch mit dem Filialleiter und seiner eher unfreundlichen Begrüßung auseinandersetzen.
„Hallo Matt“, begrüßte sie ihren Cousin schnell und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
„Sophie?“, fragte Matthias überrascht, bevor sie auch nur die Gelegenheit hatte, nach dem Grund seiner Reise zu fragen. „Was machst du denn in Wien? Ich dachte, du wärst noch in Los Angeles.“
Ist das sein Ernst, ging es Sophie durch den Kopf und sie stand auf. Angespannt ging sie im Büro hin und her. Irgendetwas Schreckliches war auf der Farm passiert. Etwas so Schlimmes, dass Matthias hier alles stehen und liegen gelassen hatte, um nach Hause zu fahren. Und das Einzige, was ihn interessierte, war der Grund, warum sie nicht mehr in Amerika war?
„Ich bin am Wochenende zurückgekommen“, sagte Sophie ernst. „Gestern war ich bei Alexander, der hat mir von dem Feuer erzählt. Ich bin froh, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Aber …“
Erneut wurde sie unterbrochen.
„Das hat mir dein Bruder gar nicht erzählt“, antwortete Matthias deutlich verwirrt. „Ich habe versucht, dich anzurufen.“
„Ich weiß“, gab sie zu. „Doch als du in Los Angeles angerufen hast, war ich bereits auf dem Weg zum Flughafen. Und mein Handy hat plötzlich den Geist aufgegeben. Wahrscheinlich ist der Akku kaputt“, ergänzte sie und stöhnte innerlich auf.
Das war nicht das Gespräch, das sie mit Matthias führen wollte. Aber wenn er sich dafür Zeit nahm, konnte sein Grund, nach Hause zu fahren, nicht allzu ernst sein. Was sie im Grunde noch mehr verwirrte. Denn wieso hatte er damit dann nicht bis zum Wochenende gewartet? Doch sie hielt sich mit einer Bemerkung zurück.
„Verstehe“, erklang nach kurzem Schweigen wieder die Stimme ihres Cousins. „Wann fliegst du zurück?“
Und obwohl die Situation alles andere als lustig war, musste Sophie bei diesen Worten lächeln. Es war abgesprochen gewesen, dass er sie in der Wiener Filiale vertreten würde, bis ihre Arbeit in Amerika abgeschlossen war. Und er hatte das wirklich gut gemacht. Doch statt sich jetzt darüber zu freuen, dass sie endlich nach Hause gekommen war, ging er davon aus, sie wäre nur für einen Besuch nach Deutschland zurückgekommen. Dabei hatte seine Vertretung schon länger gedauert, als ursprünglich geplant.
„Ich kehre nicht in die USA zurück, Matt“, erwiderte Sophie belustigt. „Mein Projekt dort ist abgeschlossen und ich wollte nach Hause. Gestern kurz nach deinem letzten Anruf habe ich Alexander über meine Rückkehr informiert.“, erklärte sie ihm. „Er meinte, ich solle dir bei den Problemen in Wien helfen. Also habe ich mir meine Sachen geschnappt und bin heute Morgen von Stuttgart nach Wien geflogen. Aber du warst nicht da.“
Kaum hatte Sophie ihre Erzählung beendet, musste sie über sich selbst lächeln. Zwar war die Geschichte nicht gelogen, doch ganz die Wahrheit hatte sie auch nicht gesagt. Denn sonst hätte sie noch erwähnen müssen, wie unerwünscht sie sich durch das Verhalten von Mario Hebbeler vorgekommen war. Aber sie wollte diese Geschichte nicht zu ernst nehmen. Und schon gar nicht, dass Matthias oder ein anderes Mitglied ihrer Familie davon erfuhr. Sie und der Filialleiter hatten einfach einen schlechten Start gehabt. Das würde sich mit der Zeit schon legen.
„Was ist eigentlich passiert?“, wechselte Sophie das Thema, um endlich auf den Grund ihres Anrufs zurückzukehren. „Du fährst doch bestimmt nicht grundlos so plötzlich nach Hause.“
„Es ist etwas Persönliches“, erwiderte Matthias ausweichend, ohne genauer darauf einzugehen. „Weißt du schon, wo du schlafen wirst?“
Überrascht ließ sich Sophie wieder auf einen der Stühle fallen, denn normalerweise hatten sie keine Geheimnisse voreinander. Im Gegenteil, ging es ihr durch den Kopf. Schon als Kinder waren sie enge Vertraute gewesen. Da sich ihr Bruder Domenik jahrelang die Schuld an der Entführung ihrer jüngeren Schwester Nicole gegeben hatte, wollte sie ihn nicht noch mit ihren Problemen belästigen. Und ihre anderen Geschwister waren entweder einige Jahre älter oder jünger als sie und hatten ganz andere Interessen gehabt.
Bei Matthias war es ähnlich gewesen, erinnerte sich Sophie und musste lächeln. Das hatte sie zusammengeschweißt. Fast täglich hatten sie miteinander telefoniert oder sich E-Mails und SMS geschickt, um den anderen auf dem Laufenden zu halten. Daran hatte sich auch nichts geändert, als sie älter geworden waren. Dass er ihr jetzt nicht die Wahrheit sagen wollte, verletzte sie schon ein bisschen. Obwohl, musste sie zugeben. Ich war ja auch nicht ganz ehrlich zu ihm.
„Du willst also nicht darüber sprechen, das muss ich akzeptieren“, sagte sie daher nur, ohne ihn weiter zu bedrängen. Er würde schon mit ihr reden, wenn er so weit war. „Was die Übernachtung betrifft“, beantwortete Sophie seine Frage. „Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“, gab sie zögernd zu. „Ich werde wohl erst einmal ins Hotel gehen müssen.“
„Oder du wohnst bei mir“, bot Matthias ihr an. „Ich habe am Wochenende mein Türschloss ausgewechselt, da sich meine Exfreundin plötzlich in meiner Wohnung befand. Der Ersatzschlüssel liegt in meiner Aktentasche. Bitte Mario einfach darum, dir meinen Platz zu zeigen. Manuelas altes Zimmer ist so gut wie leer. Und ich weiß doch, wie ungern du im Hotel übernachtest. Außerdem komme ich heute Abend noch nach Wien zurück.“
„Danke“, erwiderte Sophie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich nehme dein Angebot gerne an.“
Denn es stimmte, sie hatte Hotels noch nie viel abgewinnen können. Sie liebte es, flexibel zu sein. Und wollte sich nicht von den vorgegebenen Zeitplänen des Hotels einschränken lassen. Besonders, da ihre Arbeitszeiten mitunter sehr unterschiedlich waren.
„Aber du musst nicht unbedingt zurückkommen“, ergänzte sie belustigt. „Du hast schon so viel Zeit für mich geopfert und dafür bin ich dir auf ewig dankbar. Aber jetzt bin ich hier. Kümmere dich in Ruhe um dein Problem.“
„Ich habe etwas angefangen, also bringe ich es auch zu Ende“, erwiderte Matthias. „Außerdem, bei allem, was bis zur Eröffnung noch gemacht werden muss, wird gerade jede Hand gebraucht.“
Dabei klang seine Stimme so bestimmt, dass Sophie keinen Versuch unternahm, ihm zu wiedersprechen. Denn er hatte recht. Überall hatten Kartons herumgestanden, als sie vorhin angekommen war, und die meisten Regale waren noch leer gewesen. Wenn sie pünktlich fertig werden wollten, mussten sie sich beeilen. Denn so wie der Raum bisher aussah, konnten sie die Filiale auf keinen Fall eröffnen.
„Wenn das so ist, dann bis später“, antwortete Sophie mit einem Lächeln auf den Lippen. „Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.“
Anschließend beendete sie das Telefongespräch und legte das Handy auf den Schreibtisch zurück. Dann stand sie auf und machte sich auf die Suche nach dem Filialleiter.