Читать книгу Gefangen! Ein Geheimnis mit Folgen - Isabella Defano - Страница 6
3. Kapitel
Оглавление„Das kann doch nicht wahr sein“, fluchte Mario laut, als vor ihm erneut eine Ampel auf Rot umschlug.
Irgendwie hatte er heute kein Glück. Erst der Anruf von Callan. Dann tauchte diese Sophie de Luca plötzlich auf. Und nun hatte sich auch noch das Ampelsystem gegen ihn verschworen. Dabei musste er sich wirklich beeilen. Wenn die Informationen im Internet stimmten, hatte er bis zum Ende der Öffnungszeit nur noch eine halbe Stunde Zeit. Sonst müsste er einen weiteren Tag warten, bis er die Chance hatte, mit seinem ehemaligen Schulkameraden zu sprechen. Und das wollte er auf gar keinen Fall.
Wütend klopfte Mario mit den Fingern auf das Lenkrad und starrte die Ampel an.
„Jetzt werde endlich grün“, schrie er sie an, obwohl es natürlich überhaupt nichts nützte.
Doch er wusste genau, wozu Callan und die anderen fähig waren. Er hatte es oft genug miterlebt. Und nur weil seit ihrer letzten Begegnung ein paar Jahre vergangen waren, hatten sie sich bestimmt nicht geändert. Umso wichtiger war es daher, jetzt keine Zeit zu verlieren. Sie hatten bereits seine private Handynummer herausgefunden und wussten, wo er arbeitete. Es war also nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich für seinen Verrat von damals rächen würden.
Endlich, ging es Mario durch den Kopf, als die Ampel umschlug, und er fuhr schnell weiter. Dabei überlegte er, was genau er Karl erzählen wollte. Er konnte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Nur wenige Menschen wussten, was er als Kind durchgemacht hatte und dabei sollte es auch bleiben. Trotzdem musste er ihm genug Informationen geben, damit er ihm helfen konnte. Und hoffentlich würde das ausreichen, seine alten Freunde loszuwerden. Ohne dass die Familie de Luca von seiner Vergangenheit erfuhr.
Erleichtert atmete Mario auf, als er schließlich sein Ziel erreichte.
„Gerade noch rechtzeitig“, flüsterte er nach einem kurzen Blick auf seine Uhr und stieg aus dem Auto aus.
Ohne auf die Umgebung zu achten, eilte er in das Gebäude hinein und stieg die zwei Treppen bis zur Kanzlei hinauf. Dort angekommen fiel sein Blick sofort auf eine Frau Mitte 20, deren blonde Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden waren. Und die einen schwarzen Hosenanzug trug.
Schweigend ging Mario näher auf sie zu. Doch da die Rechtsanwaltsfachangestellte damit beschäftigt war, Gegenstände in ihre Aktentasche zu werfen, hatte sie sein Hereinkommen gar nicht bemerkt.
„Hallo“, sagte Mario ruhig, als er direkt vor dem Tresen stand und die junge Frau drehte sich erschrocken um.
„Ich …“, stotterte sie kurz, dann atmete sie tief durch. „Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie einen Termin?“
Mario schüttelte mit dem Kopf.
„Ich möchte gerne noch heute mit Dr. Altmann sprechen“, erwiderte er ernst. „Ist er noch da?“
„Ja“, antwortete die junge Frau zögernd. „Doch wir machen jetzt Mittagspause. Und am Nachmittag hat Dr. Altmann mehrere Mandantengespräche. Ich kann Ihnen aber einen Termin geben“, ergänzte sie lächelnd und blätterte in dem Terminplaner herum, der vor ihr auf dem Tresen lag. „Zum Beispiel am Freitag, um elf Uhr.“
„Danke, aber ich muss sofort mit ihm sprechen“, erwiderte Mario angespannt und sah sich suchend um. „Es ist wichtig. Ich kann nicht noch drei Tage warten. Bitte“, ergänzte er mit einem schwachen Lächeln. „Sagen Sie ihm, dass ich hier bin. Mein Name ist Mario Hebbeler. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er wird sich freuen, mich zu sehen.“
Unschlüssig sah die junge Frau Mario an und warf dann einen Blick auf ihre Uhr. Schließlich nickte sie knapp und griff nach dem Telefon. Nur wenige Sekunden später konnte Mario durch den Hörer die Stimme seines alten Schulkameraden hören.
„Loreen, was gibt es denn? Ich dachte, Sie wären schon weg.“
„Ich wollte auch gerade gehen“, erwiderte die junge Frau, ohne Mario aus den Augen zu lassen. „Hier ist aber noch jemand, der Sie sprechen möchte. Er sagt, sein Name sei Mario Hebbeler und Sie seien zusammen zur Schule gegangen.“
„Mario?“, erklang die überraschte Stimme des Anwalts. „Das ist ja eine Überraschung. Sagen Sie ihm, dass ich gleich komme. Und dann gehen Sie in die Pause.“
„Natürlich“, versicherte sie lächelnd. „Bis später.“
Dann legte sie auf und wandte sich wieder Mario zu.
„Dr. Altmann ist gleich da. Nehmen Sie doch solange im Wartebereich Platz“, ergänzte sie und zeigte auf die Stühle auf der anderen Seite.
Mario nickte.
„Danke.“
„Kein Problem“, erwiderte die Rechtsanwaltsfachangestellte höflich und griff nach ihrer Tasche. „Mich müssen Sie jetzt aber entschuldigen. Ich möchte in meiner Mittagspause noch etwas erledigen.“
Anschließend nickte sie ihm noch einmal höflich zu und verließ dann die Kanzlei, während sich Mario auf einem der Stühle niederließ.
Mario musste nicht lange warten. Nur wenige Minuten später ging die Tür neben dem Tresen auf und Karl Altmann kam lächelnd auf ihn zu.
„Mario, das ist aber eine Überraschung. Was führt dich zu mir?“
Schwach erwiderte Mario das Lächeln und stand auf.
„Ich habe da ein Problem und könnte deine Hilfe gebrauchen. Hättest du etwas Zeit für mich?“
Karl Altmann nickte und sah auf die Uhr.
„Für einen alten Klassenkameraden habe ich immer Zeit“, versicherte er lächelnd. „Außerdem ist es schön, dich wiederzusehen. Vor sieben Monaten während unseres Klassentreffens warst du plötzlich einfach verschwunden. Dabei wäre es schön gewesen, deine Nummer zu bekommen. Immerhin leben wir in der gleichen Stadt. Wir könnten uns auch einmal so zu einem Kaffee treffen.“
„Im Moment ist es eher ungünstig. Die Arbeit frisst mich auf“, erwiderte Mario entschuldigend. Obwohl er nicht wirklich an einem privaten Treffen interessiert war.
Schließlich waren sie nie enge Freunde gewesen. Was vor allem daran lag, dass er nach seinen Erlebnissen in Berlin lieber auf Abstand geblieben war.
„Nicht so schlimm. Das kann ich doch verstehen“, antwortete Karl lächelnd, dann wurde er ernst. „Ich habe von dem Feuer in deiner alten Filiale gehört. Bist du deshalb hier?“
Mario schüttelte mit dem Kopf.
„Nein. Bisher steht noch nicht fest, wie es zu diesem Brand gekommen ist. Außerdem kümmert sich unser Firmenanwalt in Stuttgart um alle rechtlichen Angelegenheiten der Firma. Mein Anliegen ist privat“, ergänzte Mario nach kurzem Zögern. „Jedoch befürchte ich, dass es sich auf meine Arbeit auswirken könnte. Deshalb wollte ich mit dir sprechen.“
Fragend sah der Anwalt Mario an, dann warf er erneut einen Blick auf seine Uhr.
„Bis zu meinem nächsten Termin habe ich noch etwas Zeit. Lass uns in mein Büro gehen. Dort kannst du mir alles in Ruhe erzählen.“
Dankbar sah Mario seinen ehemaligen Schulkameraden an und folgte ihm in sein Büro. Dort zeigte er auf eine Sitzecke, die sich gleich neben der Tür befand und sie setzten sich hin.
„Also, wie kann ich dir helfen?“, wollte Karl neugierig wissen und sah Mario fragend an.
„Ich werde von drei Männern verfolgt“, begann Mario zu berichten. „Am Anfang war es nur ein Brief, der für mich abgegeben wurde. Dann tauchten sie in der Filiale auf und versetzten eine meiner Mitarbeiterinnen in Angst und Schrecken. Und heute Morgen bekam ich einen kurzen Anruf auf meinem Privathandy. Keine Ahnung, wie sie an die Nummer gekommen sind.“
Schweigend starrte Karl Mario an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Kennst du diese Männer?“
Mario nickte zögernd.
„Jedoch haben wir uns viele Jahre nicht gesehen“, ergänzte er ernst. „Sie haben durch einen Zeitungsartikel erfahren, wo ich mich aufhalte.“
„Und sie haben dich bedroht?“
„Nun ja, vielleicht nicht mit Worten“, musste Mario zugeben. Denn bisher hatten Callan und seine Jungs ihn nur wissen lassen, dass sie ihn gefunden hatten. „Aber ich kenne sie. Ich weiß, dass sie irgendetwas vorhaben. Und das ist bestimmt nichts Gutes.“
„Wie kommst du darauf?“
Mario stöhnte leise auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Callan, Seth und Vico gehörten früher zu einer Straßengang. Sie kamen wegen schweren Raubes mit Todesfolge fünf Jahre ins Gefängnis. Damals waren sie 16.“
Ungläubig sah Karl Mario an.
„Woher kennst du solche Leute?“
„Das spielt jetzt keine Rolle“, wich Mario der Frage aus. Und bereute es fast, nicht zu einem fremden Anwalt gegangen zu sein. „Wichtig ist nur, dass die drei gefährlich sind. Ich möchte sie nicht in meiner Nähe haben. Oder in der Nähe der Filiale. Kann man da irgendetwas machen?“
„Ich fürchte, das wird schwierig“, musste Karl zugeben. „Ich nehme mal an, sie haben ihre Gefängnisstrafe abgesessen. Somit können sie dafür nicht mehr belangt oder bestraft werden. Und nur, weil du dich von ihnen bedroht fühlst, wird die Polizei nichts unternehmen. Auch eine gerichtliche Verfügung wirst du unter diesen Bedingungen nur schwer erhalten. Du bist weder angegriffen worden, noch wurdest du direkt bedroht. Und ein Brief, ein Anruf und ein Besuch zählen noch nicht als Stalking. Du kannst ihnen aber Hausverbot für die Filiale erteilen.“
Frustriert stand Mario auf.
„Das ist alles?“, fragte er fassungslos. „Gibt es sonst keine Möglichkeit, mich vor ihnen zu schützen?“
„Mario“, sagte Karl ruhig und stand ebenfalls auf. „Solange sie nicht irgendetwas Gesetzwidriges tun, wird es schwer werden, etwas gegen sie zu unternehmen.“
„Verstehe. Ich muss also warten, bis sie mir den Kopf einschlagen“, erwiderte Mario sarkastisch. „Nur ist es dann zu spät. Sie haben zwei Menschen getötet, Karl“, ergänzte er wütend. „Sind in Dutzende von Häusern eingebrochen. Und sie haben sich bestimmt nicht geändert, nur weil sie ihre Strafe abgesessen haben.“
„Mario, glaub mir. Ich würde dir wirklich gerne helfen“, versicherte Karl entschuldigend. „Auch wenn ich es kaum glauben kann, dass du mit solchen Leuten Kontakt hattest. Während unserer Schulzeit bist du fast immer für dich geblieben und hast dein eigenes Ding gemacht. Es war unmöglich, an dich heranzukommen.“
Schweigend sah Mario Karl an. Seine Einschätzung war gar nicht so falsch. Er hatte auf die harte Tour lernen müssen, wie zerstörerisch Freundschaften sein konnten. Oder wie weit man bereit war zu gehen, nur um die Anerkennung der anderen nicht zu verlieren. Das hatte ihn verändert.
Aber Karl konnte die Wahrheit nicht wissen. Denn nur wenige Menschen wussten, wie groß die Schuld war, die er auf sich geladen hatte. Und er konnte nicht zulassen, dass die Geschichte nach all der Zeit an die Öffentlichkeit kam.
„Es hatte nichts mit euch zu tun“, sagte Mario daher nur. „Die Pflegefamilie, die neue Umgebung. Ich musste damals mit vielen Dingen klarkommen. Außerdem war ich schon immer ein Einzelgänger.“
Was nicht einmal gelogen war. Denn nachdem er auf diese schmerzhafte Weise erfahren musste, dass es besser war, niemanden zu vertrauen, hatte er es vorgezogen, alleine zu sein. Eine Einstellung, die er bis heute nicht abgelegt hatte. Daher ließ er sich auch nur selten auf Freundschaften oder Beziehungen ein. Wobei selbst diese in der Regel ziemlich oberflächlich blieben.
Karl nickte.
„Da hast du wohl recht“, erwiderte er nachdenklich. „Trotzdem solltest du nicht vergessen, ich bin für dich da. Wenn irgendetwas passiert, auch nur die kleinste Drohung, sag mir Bescheid. Dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.“
„Danke“, antwortete Mario angespannt und reichte seinem ehemaligen Schulkameraden die Hand. „Ich weiß das zu schätzen.“ Auch wenn es kein großer Trost war.
Dann verabschiedete er sich von Karl und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen.
Mario hatte keine Lust, zurück zur Filiale zu fahren, daher fuhr er nach Hause. Dabei ging er das Gespräch mit Karl in Gedanken immer wieder durch und suchte nach einer Aussage, die er anders hätte formulieren können. Irgendetwas, was als Drohung durchgehen würde. Aber egal wie lange er auch grübelte, ihm fiel nichts ein.
„Ich frage mich nur, ob dein Chef weiß, wer du wirklich bist.“
Das war die einzige Drohung gewesen, die Callan direkt ausgesprochen hatte. Doch damit konnte er schlecht zu einem Anwalt oder zur Polizei gehen, ohne dass seine Vergangenheit ans Licht kam. Und damit hatte seine alte Gang ganz bestimmt gerechnet.
Schon deutlich besser gelaunt verließ Sophie das Modegeschäft und brachte die Tüten zu ihrem Mietwagen. Jetzt wo sie sich ein paar neue Kleidungsstücke zugelegt hatte, fühlte sie sich gleich viel wohler in ihrer Haut. Denn, anders als heute, musste sie morgen nicht in völlig ungeeigneten Sachen an ihrem neuen Arbeitsplatz erscheinen. Was hoffentlich nicht nur Mario Hebbeler, sondern auch seine Angestellten davon überzeugte, dass sie ihren Job durchaus verstand.
Kaum schweiften ihre Gedanken ab zu ihrer eher kühlen Begrüßung in der de-Luca-Filiale, legte sich Sophies gute Laune. Gerne hätte sie noch einmal in Ruhe mit dem Filialleiter gesprochen, bevor sie morgen durch die Arbeit eingespannt wurden. Nach allem, was sie heute gesehen hatte, gab es bis zur Eröffnung noch genug zu tun. Und sie hielt es für besser, einen genauen Plan zu erarbeiten, wann welcher Arbeitsschritt erledigt werden sollte. Statt alles in die Hände einer Mitarbeiterin zu legen, die erst gut ein Jahr im Unternehmen tätig war.
„Auch, wenn sie sich gut mit dem Filialleiter versteht“, flüsterte Sophie leise.
Leider kannte sie jedoch weder Marios Handynummer noch seine Adresse, sodass das klärende Gespräch bis morgen warten musste. Es sei denn …
Ohne noch einmal darüber nachzudenken, griff Sophie nach ihrem Handy, welches dank des neuen Akkus wieder funktionierte, und wählte die Nummer ihres Cousins. Es klingelte eine ganze Weile und sie wollte schon aufgeben, als Matthias das Gespräch dann doch noch annahm.
„Ja, was gibt’s?“, fragte er belustigt. Gleich darauf wandte er sich jemand anderem zu. „Schatz warte, ich muss kurz telefonieren. Vielleicht ist etwas passiert.“
Überrascht hörte Sophie zu, wie kurz darauf das Lachen einer Frau erklang, das immer leiser wurde. Bis schließlich eine Tür zuschlug. Seltsam, ging es ihr durch den Kopf. Matthias hatte ihr gar nicht erzählt, dass seine Freundin Rahel auch mit zur Farm gefahren war. Oder hatte er schon wieder jemand Neues?
„Matthias, bist du noch dran?“, fragte sie zögernd, als am anderen Ende nichts mehr zu hören war.
„Ja, ich bin noch da“, erwiderte Matthias lachend. „Ich habe nur gewartet, bis Rahel das Zimmer verlassen hat. Jetzt können wir uns in Ruhe unterhalten. Wie war dein erster Tag?“
Also ist Rahel doch noch aktuell, ging es Sophie durch den Kopf. Und sie überlegte kurz, was sie auf seine Frage antworten sollte. Dann entschied sie sich für die Wahrheit.
„Es war eine Katastrophe“, gab sie stöhnend zu und stieg in den blauen Mietwagen ein. „Ich sah aus wie 18, und so wurde ich auch behandelt. Und das nur, weil ich gezwungen war, Sachen anzuziehen, die ich während der Schulzeit getragen habe. Außerdem ist dieser Mario Hebbeler gar nicht so nett, wie du ihn beschrieben hast. Jedenfalls nicht zu mir. Im Gegenteil, ich kam mir vor wie ein Eindringling.“
„Oh“, war alles, was Matthias dazu sagte. „Dann hattest du also keinen guten Start.“
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Sophie bedrückt. „Obwohl die Bezeichnung erster Tag ziemlich übertrieben ist. Ich war höchstens ein oder zwei Stunden dort, dann konnte ich wieder gehen. Für die noch anfallenden Arbeiten war ich nämlich nicht richtig angezogen. Dabei hatte ich alles so gut geplant“, ergänzte sie frustriert. „Ich wollte zu dir fahren. Meine Sachen abgeben. Passende Kleidungsstücke einkaufen. Und dann morgen zur Filiale fahren, um mit der Arbeit zu beginnen.“
„Stattdessen musstest du erfahren, dass ich nach Hause gefahren bin“, ergänzte Matthias belustigt.
„Das ist nicht witzig“, wies Sophie ihn zurecht. „Was war denn nun so wichtig, dass es nicht warten konnte? Heute Morgen wolltest du nichts sagen. Und erzähl mir nicht, du wolltest einfach nur ein bisschen Zeit mit deiner Freundin verbringen“, ergänzte sie ernst. „Dann schreie ich. Immerhin hättet ihr dafür auch in Wien bleiben können.“
„Sorry. Aber es ging wirklich um Rahel“, gab Matthias entschuldigend zu. „Ich habe dir doch erzählt, dass meine Ex in meiner Wohnung aufgetaucht ist. Sie hat sich einen Nachschlüssel anfertigen lassen und auf mich gewartet. Leider genau an dem Tag, wo mich meine Freundin mit einem Besuch überraschen wollte. Das hat Valentina natürlich ausgenutzt, um mich bei Rahel schlechtzumachen.“
„Und deine Freundin hat ihr geglaubt?“, fragte Sophie ungläubig. „Jeder weiß doch, dass Valentina eine Lügnerin und Stalkerin ist.“
„Rahel nicht. Ich habe ihr nämlich nie von ihr erzählt“, erwiderte Matthias frustriert. „Ich dachte, es wäre nicht notwendig, da meine Ex mich schon eine ganze Weile in Ruhe gelassen hat. Das war ein Fehler, der fast meine Beziehung zerstört hat. Aber jetzt haben wir uns ausgesprochen und alles geklärt“, ergänzte er glücklich. „Wir werden morgen früh zusammen nach Wien zurückkommen, um beim Einräumen zu helfen.“
„Morgen?“, fragte Sophie überrascht. „Ich dachte, du kommst heute Abend schon zurück?“
„Das hatte ich vor“, gab Matthias belustigt zu. „Aber meine Eltern haben uns alle zum Abendessen eingeladen. Sie wollen Rahel gerne noch etwas besser kennenlernen, bevor wir wieder verschwinden. Da konnte ich nicht Nein sagen. Immerhin ist sie die erste Freundin, die von meiner Mutter ohne Schwierigkeiten akzeptiert wird.“
„Na ja, sie ist ja auch die Erste, mit der du länger als ein paar Wochen zusammen bist“, spottete Sophie. „Noch keine Langeweile?“
„Nein“, versicherte Matthias lachend. „Im Gegenteil. Ich möchte sie am liebsten jeden Tag um mich haben.“
„Dann hat es dich wirklich ganz schön erwischt“, erwiderte Sophie lächelnd. „Und das freut mich für dich. Viel Spaß heute Abend und grüß die anderen von mir. Wir sehen uns dann morgen.“ Dann fiel ihr ein, warum sie Matthias eigentlich angerufen hatte, und sie atmete tief durch. „Warum ich aber anrufe“, ergänzte sie mit ernster Miene. „Kennst du die Adresse von Mario Hebbeler? Ich möchte gerne noch einmal in Ruhe mit ihm sprechen.“
„Jetzt?“, fragte Matthias überrascht. „Kann das nicht bis morgen warten?“
„Nein“, versicherte Sophie entschlossen. „Es gibt noch so viel zu tun und die Eröffnung ist in wenigen Tagen. Was wir jetzt brauchen, ist ein Plan, wann welche Arbeiten durchgeführt werden sollen. Und von wem.“
„Aber Lisa Farber kümmert sich …“, versuchte Matthias zu sagen, wurde aber sofort von Sophie unterbrochen.
„Frau Farber ist erst seit einem Jahr im Unternehmen“, erwiderte sie ernst. „Die anderen Kolleginnen haben vor wenigen Wochen angefangen. Meiner Meinung nach sind sie so einer großen Verantwortung gar nicht gewachsen. Solange Frau Herzog ausfällt, muss daher eine andere Lösung gefunden werden. Sonst besteht die Gefahr, dass wir es nicht pünktlich zum 1. November schaffen.“
Dazukommt, ging es Sophie durch den Kopf. Dass sie nicht wusste, was genau da zwischen dem Filialleiter und der Verkäuferin ablief. Und sie wollte kein Risiko eingehen.
„Wahrscheinlich hast du recht“, gab Matthias nach kurzem Zögern zu. „Du kennst dich mit diesen Dingen besser aus als ich. Trotzdem, ich weiß nicht, ob es so klug ist, Mario damit in seiner Wohnung zu überfallen. Er hat nicht gerne Besuch, und selbst mich hat er noch nie zu sich eingeladen.“
„Aber du weißt, wo er wohnt?“, hakte Sophie nach, die trotz der Warnung ihres Cousins an ihrem Vorhaben nichts ändern wollte.
„Ja“, erwiderte Matthias unschlüssig. „Seine Wohnung liegt in Währing, in der Nähe vom Pötzleinsdorfer Schlosspark. Ich schick dir die genaue Adresse gleich per SMS. Trotzdem“, ergänzte er ernst. „Denk noch einmal darüber nach. Ihr beide müsst in Zukunft eng zusammenarbeiten. Nicht dass es dadurch zu Spannungen zwischen euch kommt.“
„Das wird es nicht“, versicherte Sophie und legte auf. Denn schlimmer als jetzt konnte es nicht mehr werden.
Deutlich schneller als gedacht hielt Sophie vor dem weißen Gebäude, in dem sich laut Matthias SMS die Wohnung des Filialleiters befand. Doch, statt auszusteigen, blieb sie im Auto sitzen und dachte noch einmal gründlich über ihr Vorhaben nach. Sie fühlte sich im Recht. Ohne eine gewissenhafte Planung konnte ein Projekt nicht fehlerfrei fertiggestellt werden. Das hatte sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen, als sich durch kleine vermeidbare Fehler die Fertigstellung ihres Auftrags in Amerika um Monate verzögert hatte.
Trotzdem, sie konnte Matthias Bedenken nicht von der Hand weisen. Anders als sie kannte er das Team. Er hatte sich vor Ort um alles gekümmert und wusste, wozu die einzelnen Mitarbeiter fähig waren. Sie hingegen hatte die Filiale heute zum ersten Mal gesehen. Hatte nur wenige Worte mit Frau Farber gewechselt und die anderen Mitarbeiterinnen noch gar nicht kennengelernt. Was wusste sie also schon vom Stand der aktuellen Arbeiten? Außerdem waren nicht Mario Hebbeler und sein Team Schuld daran, dass sich der Umzug um Wochen verzögert hatte. Oder, dass es in der alten Filiale zu einem Feuerausbruch gekommen war.
Tief atmete Sophie durch und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Vielleicht sollte ich wirklich noch etwas warten, bevor ich Verbesserungsvorschläge mache, ging es ihr durch den Kopf. Schließlich war nicht sie für die Filiale verantwortlich, sondern Mario Hebbeler. Und sie hatte auch nicht vor, ihm seinen Platz streitig zu machen.
„Aber genau das wird er annehmen, wenn ich jetzt zu forsch rangehe und alles in die Hand nehmen möchte“, sagte sie nachdenklich und atmete tief durch. Und das wollte sie auf keinen Fall. Schließlich hielt ihr Bruder Alexander große Stücke auf ihn.
Plötzlich fiel ihr Blick auf eine junge schwarzhaarige Frau, die langsam in ihre Richtung kam.
„Lisa Farber“, flüsterte Sophie überrascht, als sie die Person erkannte. „Was macht sie denn hier?“
Die Antwort darauf sollte sie bald bekommen. Denn die junge Frau ging genau auf das Haus zu, indem sich die Wohnung des Filialleiters befand.
„Ich wusste doch, dass zwischen den beiden etwas läuft“, sagte Sophie und spürte einen Stich im Magen. „Kein Wunder, dass er Matthias nicht in seine Wohnung lässt.“
Bedrückt setzte Sophie das Fahrzeug in Bewegung, um zur Wohnung ihres Cousins zu fahren. Dabei verstand sie selbst nicht, warum sie sich auf einmal so schlecht fühlte. Schließlich konnte es ihr egal sein, mit wem sich der Filialleiter in seiner Freizeit traf. Trotzdem bekam sie die Gefühle nicht aus dem Kopf, die seine Berührung in ihrem Körper ausgelöst hatte. Und sie fragte sich, wie sie es schaffen sollte, mit ihm zusammenzuarbeiten.
„Man“, stöhnte Mario auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Bereits seit Stunden versuchte er, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ständig schweiften seine Gedanken ab. Dabei gab es bis zur Eröffnung noch so unglaublich viel zu tun.
Doch es half nichts. Er konnte an nichts anderes denken als an seinen Besuch bei seinem ehemaligen Schulkameraden. Er hatte sich von seinem Besuch so viel erhofft. Stattdessen stand er mit seinem Problem ganz allein da. Aber das ist ja auch nichts Neues, dachte Mario sarkastisch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Schon damals hatte die einzige Hilfe, die er bekommen hatte, darin bestanden, ihn von Berlin nach München zu schicken. Als könnte er damit seine Vergangenheit auslöschen.
Gut, ging es ihm durch den Kopf. Er bereute es nicht. Seine Pflegeeltern hatten ihm ein liebevolles Zuhause gegeben, das er so vorher noch gar nicht kannte. Doch niemand hatte sich um seine seelischen Wunden gekümmert. Ihm geholfen, seine Schuldgefühle zu verarbeiten. Ständig hatte er nur gehört, es wäre nicht seine Schuld gewesen. Doch für ihn waren es bis heute nur leere Worte. Denn er wusste genau, was er getan hatte. Nur seinetwegen hatten zwei Menschen ihr Leben verloren. Und das konnte er sich einfach nicht verzeihen.
Als es plötzlich an der Wohnungstür klingelte, wurde Mario aus seinen Gedanken gerissen. Gereizt, aber auch etwas verwirrt stand er auf, denn er erwartete niemanden. Zwar lebte er schon seit einigen Monaten in dieser Wohnung, doch er kannte seine Nachbarn nicht. Und Besucher konnten das Gebäude nur betreten, wenn man ihnen unten die Eingangstür öffnete.
Nach einem kurzen Blick durch den Türspion riss Mario die Wohnungstür auf und zog die verblüffte Lisa Farber herein, noch bevor sie ihn begrüßen konnte.
„Lisa, was machst du hier?“, fuhr er sie an und sah sich kurz im Treppenhaus um, bevor er die Tür zumachte. „Hoffentlich hat dich niemand gesehen.“
Besonders nicht die drei Männer, denen im Moment seine ganze Aufmerksamkeit galt. Denn auf keinen Fall wollte er riskieren, dass Lisa oder ihrem Sohn etwas passierte.
„Ich habe mir Sorgen gemacht und wollte mit dir reden“, rechtfertigte sich Lisa und sah Mario verletzt an. „Oder ist das jetzt schon ein Verbrechen? Schließlich bist du plötzlich abgehauen.“
„Tut mir leid, Lisa“, entschuldigte er sich schnell. „Du kannst ja nichts dafür. Ich bin im Moment einfach nicht gut drauf.“
„Das ist mir klar“, erwiderte Lisa besorgt. „Doch du musst auch mal abschalten. Seit Wochen vergräbst du dich in deiner Wohnung und lässt niemanden an dich ran. Selbst an meinem Geburtstag bist du nicht aufgetaucht. Fabian fragt jeden Tag, wann du wieder einmal vorbeikommst. Und langsam weiß ich nicht mehr, was ich meinem Sohn sagen soll. Natürlich ist mir klar, dass du gerade viel zu tun hast“, ergänzte sie lächelnd. „Die neue Filiale, das Feuer und jetzt auch noch Sophie de Luca. Aber ist dir klar, dass wir uns heute auf der Arbeit zum ersten Mal seit Wochen überhaupt unterhalten haben? Du bist kaum noch du selbst.“
Schweigend sah Mario Lisa an. Auch wenn er es nicht gerne zugab, sie hatte mit ihrer Einschätzung völlig recht. Seit Callan, Seth und Vico in sein Leben zurückgekehrt waren, hatte er sich noch mehr zurückgezogen als früher. Besonders von Lisa und ihrer Familie. Denn sie war es gewesen, die damals den drei Männern in der Filiale ganz allein gegenüberstehen musste. Die panische Ängste durchlitten hatte, weil niemand da gewesen war, um ihr zu helfen. Und das alles nur seinetwegen. Nur weil er sich nicht dazu durchringen konnte, das Richtige zu tun und zu verschwinden.
„Es tut mir leid“, erwiderte er aufrichtig und nahm Lisa fest in die Arme. „Ich will einfach verhindern, dass dir etwas passiert.“
„Wie meinst du das?“, wollte Lisa verwirrt wissen und schob ihn von sich weg. „Warum sollte mir etwas passieren?“
Mario schüttelte mit dem Kopf.
„Ich kann es dir nicht sagen“, antwortete er frustriert und seine Hände verkrampften sich zu Fäusten. Sie durfte niemals erfahren, was er damals getan hatte. „Nur, dass es im Moment in meiner Nähe nicht sicher ist. Ich habe ein paar Probleme, um die ich mich kümmern muss. Bis dahin möchte ich dich bitten, dich von mir fernzuhalten. Das Gleiche gilt auch für Fabian und deine Eltern“, ergänzte er bedrückt. „Versprich es mir.“
Er musste Callan und die anderen dazu bringen, einen Fehler zu machen. Doch auf keinen Fall sollte dabei jemand anderes als er selbst verletzt werden. Er hatte es nicht anders verdient. Lisa, ihre Eltern und vor allem ihr kleiner Sohn waren völlig unschuldig. Sie hatten nichts weiter getan, als ihn in ihrer Familie aufzunehmen. Ganz egal, wie sehr er sich auch dagegen gewehrt hatte.
Schweigend sah Lisa ihn an. Mario konnte sehen, wie sehr sie mit sich kämpfte. Für sie war er immer ein Held gewesen. Jemand, auf den sie sich verlassen konnte. Noch nie hatte er so etwas von ihr verlangt. Aber im Moment war es die beste Lösung.
„Gut“, sagte Lisa schließlich und sah ihn traurig an. „Wenn das deiner Meinung nach das Beste ist. Doch du solltest mit jemandem reden. Wenn schon nicht mit mir, dann wenigstens mit meinem Vater. Auf Dauer machst du dich so nämlich kaputt.“
Mit diesen Worten ließ sie Mario stehen und verließ die Wohnung.