Читать книгу Lavanda - Isabella Kniest - Страница 11

Оглавление

Heute


Erbarmungslos peitschte der Regen gegen Lilians zerkratzte Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch dies half nicht im Entferntesten, dieser biblischen Sintflut Einhalt zu gebieten.

Ein schlechtes Omen?

Er warf einen kurzen Blick auf die integrierte Achtzigerjahrecockpituhr.

12:50 Uhr.

Nervosität, Ärger und Gram schnitten ihm durch das Gedärm.

Hoffentlich würde das Wiedersehen nicht in einer weiteren Katastrophe enden.

Er brauchte keine Katastrophen mehr. Er hatte genug davon! Für den Rest seines beschissenen Lebens!

Du hast mich hintergangen! Du hast mich belogen!, hallte es schrill durch seinen pochenden Schädel.

Schlaglöcher und in weiterer Folge kaputte Stoßdämpfer in Kombination mit ebenso fertigen Spurstangen und ausgeleierten Gelenkstangen entlockten dem viereckigen, schäbigen Ford Transit aus neunzehnhundertdreiundachtzig ein Ächzen und Keuchen – Lilian ebenfalls.

Und die Stimme war verstummt.

Für den Augenblick, dachte er.

Aber nicht mehr lange, und er würde sie wieder hören … und die dazugehörige Person wiedertreffen.

Adrenalin flirrte ihm stechend durch die Brust.

Er atmete tief durch, blinzelte ein paar Mal, verdrängte weitere unangenehme aufwallende Gefühlsregungen.

Ein letztes Mal. Das letzte Mal. Dann würde er endlich Ruhe finden. Dann musste er endlich Ruhe finden!

Es musste aufhören. Er wollte frei sein. Er wollte seine rabenschwarze Vergangenheit zu einem Abschluss bringen.

Es ging ihm gar nicht mehr um einen Neuanfang, wie dieser stets in Zuversichtsfilmen hochgelobt wurde: All die belastenden Ereignisse des Lebens abhaken, Unveränderbares akzeptieren sowie sämtliche Wunschträume und Sehnsüchte loslassen und weiterziehen. Eine solche Richtung konnte der felsige Weg seines Lebens nicht mehr einschlagen. Er musste dankbar und demütig sein, noch halbwegs vernünftig leben zu können. Denn nunmehrig vegetierte er eher dahin.

Womöglich gelang es ihm mit diesem Termin, dem Horror, der Qual zu entfliehen – zumindest auf dem Papier. Die Erinnerung blieb weiterhin bestehen. Die Erfahrungen ruhten weiterhin in seiner Seele.

Der Schmerz, die Verbitterung, die Angst, die Verunsicherung, die Desillusion würde kein Mensch ihm zu nehmen vermögen. Selbst wenn sein Leben davon abhinge. Lilians Fundament war zerstört, pulverisiert. All sein Glaube, seine zage Hoffnung, seine minimalen Erwartungen – sie waren vernichtet, niedergewalzt und die Erde darunter mit Chemie verseucht worden.

Da konnte nichts mehr wiederaufgebaut werden, da half kein Ausheben des kontaminierten Materials.

Da hätte man ihm die Seele entreißen müssen – seine durch die gesellschaftliche Grausamkeit durchsetzte, vergiftete Seele.

Dabei hatte es einst so zuversichtlich angemutet …

Rote klecksförmige Bremslichter eines haushohen Familienvans vor ihm nötigten ihn, hart auf das Bremspedal zu treten.

Vermaledeiter Verkehr.

Klagenfurt.

Diese Stadt war ihm seit jeher unsympathisch.

Die Leute, die Rushhour, die Gassen und zerklüfteten Einbahnstraßen – und erst recht die Politik!

Klagenfurt ist anders.

Nein, korrigierte er sich. Kärnten ist anders … diese ganze verschissene Welt ist anders geworden!

Aggression und Hass an allen Ecken und Enden! Aber wehe, er regte sich auf! Wehe, er sprach die Wahrheit aus! Wehe, er verhielt sich einmal wie all die ihn umzingelnden niederträchtigen Idioten!

Da gab es ein Paradebeispiel, welches schlichtweg sein gesamtes Leben erklärte: Vor einigen Jahren war Lilian in einer Dienstleistungsfirma beschäftigt gewesen, dessen Geschäftsführer und dienstälteste Angestellte ständig über gewisse unverschämte Stammkunden außerordentlich gejammert hatten. Eines Tages hatte er sich in ein solches Gespräch einzubringen erlaubt und sich ebenfalls über diese geizigen, pingeligen, unfreundlichen Kundschaften echauffiert sowie seinem Chef und den beiden Kollegen eifrig zugestimmt – und was geschah? Im Handumdrehen erhielt er eine Rüge.

»Das sind nun einmal sehr wohlhabende Personen«, hatte der Chef augenblicklich seine Geisteshaltung geändert und Lilian maßregelnd betrachtet. »Das musst du akzeptieren und stets freundlich bleiben. Der Kunde ist König.«

Anfangs war Lilian tatsächlich dumm genug gewesen, sich schuldig zu fühlen, seine Meinung vor anderen Menschen laut ausgesprochen zu haben!

Nachdem sich solche Vorfälle gehäuft und viele weitere differenzierte negative Erfahrungen in ähnliche Richtungen eingeschlagen hatten, hatte er die unumstößliche Tatsache zwangsläufig zu akzeptieren gelernt: Er musste demütig, dankbar und zuvorkommend bleiben – der Rest der Menschheit durfte sich beklagen, sämtliche Eindrücke frei aussprechen und ihren Frust auf ihn abwälzen. Oder auf die Arbeitswelt gerichtet: Er hatte zu lächeln und den Mund zu halten. Seine Kollegen durften jammern, meckern und ihm tagtäglich das Herz ausschütten. Er musste freundlich sein, all die anderen Leute brauchten sich nicht zusammenzureißen. Besonders stutenbissige Drecksweiber waren befugt, sich jedwede Freiheit herausnehmen!

Zwanghaft verstaute er seinen meterdicken Groll tief in seiner pechschwarzen Seele und unterdrückte ein Gähnen.

Seit mindestens fünf Monaten rang Lilian mit hartnäckigen Einschlafstörungen. Tausendmal wälzte er sich von einer Seite zur anderen, bis er irgendwann weit nach Mitternacht in einen dösenden Halbschlaf fallen durfte. Und damit nicht genug, wurde er in solchen kurzen Phasen der Erholung von schrecklichen Albträumen gemartert.

Der Schlafentzug machte sich allmählich in all seinen finstren Lebenslagen bemerkbar: Er hatte kaum noch Appetit, seine Laune lag irgendwo unter dem Gefrierpunkt und seine Konzentration und Aufnahmefähigkeit nahmen sukzessiv ab. Insbesondere um die Mittagszeit schien sich ein gewaltiges Loch in ihm aufzutun und ihn verschlingen zu wollen. Bisher gelang es ihm halbwegs, sich dagegen aufzulehnen und nicht in einen Erschöpfungsschlaf zu sinken. Wäre ja noch schöner gewesen, von Kollegen halb komatös auf der Toilette oder im Firmenwagen entdeckt zu werden! Doch wie lange würde er noch durchhalten? Wie lange würde es ihm gelingen, diese aus Seidenpapier bestehende Fassade aufrecht zu erhalten?

Scheißdreck!

Die Ampel schaltete auf ein saftiges ihn an Frühlingswiesen erinnerndes Grün, und er beschleunigte.

Parkplatz, schoss es ihm quer durch seine erlahmten Gehirnwindungen.

Er brauchte unbedingt einen kostenfreien Parkplatz.

Scheiße.

Lilian besaß kein Kleingeld mehr – ebenso wenig Scheine, und erst recht nicht konnte er mit dem Handy bezahlen. Eine solche App sowie einen Akkumulator mit Near Field Communication benutzte er nicht.

Grundsätzlich verwendete Lilian nahezu gar keine Apps. Allein eine für seine Mails, ein Wecker-Widget sowie einen englischsprachigen MP3-Player. Alles Weitere fiel in die Kategorie ›Neumoderner, spionierender Sondermüll‹ und wurde demzufolge tunlichst von ihm vermieden.

Er bog in eine Gasse ein, deren Namen er nicht erkannt hatte und hielt Ausschau nach einer Parkmöglichkeit.

Erwartungsgemäß wurde er nicht fündig.

Er wendete und fuhr zum Siriusparkplatz. Seines Wissens nach war dieser stets kostenlos gewesen. Hoffentlich hatte sich an diesem Umstand nichts geändert. Ansonsten war er am Arsch – gelinde gesagt.

Eine weitere rote Ampel gebot ihm neuerlich stehen zu bleiben.

Er blickte zur Uhr.

13:05 Uhr.

Es wurde knapp.

Das Licht sprang um und er gab Gas.

Drei Gassen weiter bog ein dunkelgrauer Kombi vor ihm ein – und kroch mit sagenhaften dreißig Kilometern pro Stunden weiter.

Verflucht!

Falls er nicht bald eine Parkmöglichkeit fand, würde er zu spät zum Termin erscheinen.

Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern!

Er durfte sich keinen einzigen Fehltritt leisten, ansonsten sah es wahrhaftig kritisch aus für ihn und seine ohnehin desaströse Zukunft.

Der schleichende Autofahrer blinkte nach rechts und bog ab – und Lilian stieß ein Dankesgebet gen Himmel aus, stieg kräftig aufs Gas und lenkte seinen altersschwachen Wagen in den Südring, dann nochmals nach rechts – und er erreichte sein Ziel.

Eine Schranke ließ Fürchterliches erahnen.

Eine in Blau gehaltene Tafel linkerseits bestätigte seine Vermutung: Selbst diese Parkmöglichkeit war kostenpflichtig geworden.

Verfluchte Scheiße!

Lilian fuhr rückwärts, wendete und düste zurück Richtung Innenstadt.

Da half alles nichts.

Er musste in einem Geschäft darum bitten, kurzzeitig einen ihrer Parkplätze benützen zu dürfen.

Eine Druckerei – wahrscheinlich ein Familienunternehmen, der winzigen Größe nach zu urteilen – erregte seine Aufmerksamkeit.

Lilian manövrierte den Wagen in den ersten der vier freien Stellflächen, schaltete den Motor ab und hechtete zum Eingang. Eine verschmutzte ehemals weiß gewesene Schwingtür trennte den lieblos gestalteten Vorraum von der lärmenden Straße. Drei Schritte weiter tat sich eine zweite Tür auf – bestehend aus Klarglas und eingefasst aus Metall war diese wenigstens verschließbar.

Er klopfte und trat ein.

Ein bissig-stickiger Geruch aus beschichtetem Papier, Staub und Toner schlug ihm entgegen.

Lilian brauchte einen Moment, bis er sich an das dadurch ausgelöste Kratzen in seinem Hals gewöhnt hatte und das Büro genauer in Augenschein nehmen konnte.

Zuallererst fielen ihm zwei Drucker auf – einer stand beinahe direkt in Laufrichtung, ein zweiter war stiefmütterlich in die linke Ecke des quadratischen Raums verfrachtet worden.

Kaputt? Wartungsstau? Oder etwa gar ein vergessenes Abholgerät?

»Guten Tag.«

Eine weibliche Stimme holte ihn aus seiner Gedankenwelt und lenkte seine Aufmerksamkeit nach rechts.

In all den aufgetürmten Papierstapeln, Ordnern und Plakaten hätte er die Frau beinahe übersehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie war jung.

Sehr jung.

Ihre bedrückt anmutende Tonlage hingegen sprach von ausgeprägter Lebenserfahrung und schmerzhaften Schicksalsschlägen.

Innerlich schüttelte Lilian den Kopf.

Woher kamen diese Erwägungen?

Lag es an seinem eigenen erbärmlichen Leben, Mitmenschen augenblicklich einer genauen Analyse unterziehen zu müssen?

»Verzeihung, wäre es –«

Überraschend erhob sich das Mädchen und trat aus der vollgestopften Szenerie hervor – und für einen nichtssagenden Moment veränderte sich Lilians Perzeption. Weder nahm er den Gestank wahr noch die summenden, sie beide einkreisenden Geräte oder die vor sich hin verstaubenden fertiggestellten Druckaufträge. Ausnahmslos sie sah er – ihren traurigen müden Gesichtsausdruck, das mit einem Haarstab befestigte brünette Haar, ihr eng anliegendes, dunkelblaues Businesskleid.

Eine eigenartige Verbundenheit breitete sich in seinem aufgewühlten Innersten aus … etwas wie Sicherheit, Heimatgefühl, Vertrautheit – kurz: Manipulierender, dich vernichtender Irrsinn!

Der zauberhafte Nebelschleier verschwand. An seine Stelle trat regelrechte Abscheu. Abscheu gegenüber des Mädchens Aussehen, dessen erzwungen elegante Körperhaltung und Männer einlullende große runde Augen.

Noch so eine!

Er kannte Frauen. Besonders diesen Schlag.

Sie waren durchtrieben, hinterfotzig, verlogen und egoistisch. Selbst seine Mutter gehörte dieser ausnutzenden Bagage an.

Lilian entdeckte protzige, dunkelblaue Ohrringe und eine ungleich dekadenter aussehende farblich mit ihrem Kleid harmonisierende Halskette.

Geschenke ihrer Ex-Freunde oder dem ihr alles in den Hintern schiebenden Papa?

»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«

Des manipulierenden Miststücks Frage beendete seine Grübelei.

»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich – zeigte er Besorgnis?

Nein. Er zeigte Verdruss.

»Es tut mir leid, das geht nicht.«

Verdammte Scheiße!

Lilian warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr.

Dieser Tusse wegen würde er den Termin versäumen.

»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«

Sie verneinte. »Tut mir leid.«

Ihr verdammtes Tut-mir-Leid konnte sie sich in ihr hübsches Antlitz schmieren!

»Es ist ein Notfall«, drängte Lilian und hielt sich erst gar nicht mehr davon ab, seinen aus Verzweiflung und Verbitterung entstandenen Frust zu verbergen. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«

Es war ihm unmöglich zu erklären, weshalb er ihr sein Herz ausschüttete.

War er dermaßen verzweifelt?

Ja, wahrscheinlich.

Und ebenso wahrscheinlich war es, sich von dieser verzwickten Bürotante nun Vorwürfe anhören zu müssen, welche etwa folgendermaßen lauteten: Sie müssen zeitiger wegfahren und genügend Geld bei sich führen. Alles andere ist unverantwortlich und zeugt günstigstenfalls von nicht vorhandenem Verantwortungsbewusstsein – Charakterzüge, die ein vernünftiger, erwachsener Mensch grundsätzlich aufweisen muss, möchte dieser etwas erreichen im Leben.

Typisch Weiber! Jammern, nörgeln und besserwisserisches Getue – daraus bestand ihr quietschbuntes Barbiepuppen-Leben.

Aber mit ihm nicht!

Sollte dieser Vorzimmerdrachen eine solche Anspielung wagen, würde er ihr anständig die Leviten lesen!

Er war kein pubertierendes Pickelgesicht mehr, das um Aufmerksamkeit und Verständnis kämpfen musste! Er musste gar nichts! Nichts, außer sterben!

Die Furie vor ihm blickte nach links – zu einer an der Wand hängenden runden Plastikuhr. Anschließend wandte sie sich stumm ab und schritt zurück Richtung Arbeitsplatz.

Wollte sie ihm damit klarmachen, er brauche nichts zu sagen, da sie keine weitere Zeit vergeuden wollte und ihm nicht mehr zuhörte?

Sie fasste nach … einer Tasche?

Korrektur: nach einer dekadenten goldfarbigen Tasche.

Sie kramte darin und trat wenige Augenblicke später wieder zu ihm. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie kämen niemals zeitig an. Hier.« Sie streckte die Hand aus. Zwischen ihren Fingern hielt sie zwei Zwei-Euro-Münzen. »Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«

Blinzelnd betrachtete Lilian die schimmernden Münzen.

Er wusste nicht, was er sagen, denken oder tun sollte.

»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«

Irgendwann bootete sein Gehirn und er besah die Frau intensiv. »Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun sie das?«

»Ganz ehrlich?« Sie hob die Augenbrauen an, schien abzuwiegen – und stieß den Atem anschließend hörbar aus. »Mein Chef will niemanden mehr bei uns parken lassen. Wir hatten unzählige, aber vor allem kostspielige Probleme deswegen: Widerrechtlich abgestellte abgemeldete Fahrzeuge, für deren Entfernung letztendlich wir aufkommen mussten. Oder stundenlang blockierte Parkplätze durch Patienten der hundert Meter weiter links befindlichen Zahnarztordination.« Diese vorhin aufgeblitzte Missgunst trat erneut in Erscheinung. »Seit Jahren kämpfen wir dagegen an, weshalb wir uns entschlossen haben, jeden rigoros anzuzeigen, der sein Kraftfahrzeug widerrechtlich abstellt. Würde ich Ihnen somit die Parkerlaubnis geben, würde mein Chef sofort eine Anzeige erstatten, alsbald er Ihren Wagen bemerkt. Ich wiederum müsste ihn über Ihren dringlichen Termin aufklären, was bedeutet hätte, mir eine dreißigminütige Standpauke über unsere neuen Parkvorschriften anhören zu müssen, wie: Es gäbe keine Ausnahmen mehr und ich müsse mich an die Hausregeln halten, schließlich würde mein Lohn nicht von Verkehrsteilnehmern gezahlt. Bla, bla.« Ihr angenervtes Mienenspiel legte nochmals kräftig an Vehemenz zu. »Glauben Sie mir, dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«

Lilian verstand.

Und wie er verstand!

Für diese schonungslose Ehrlichkeit und Freundlichkeit war er ihr unendlich dankbar.

»Vielen Dank.« Zögerlich nahm er die Münzen an sich. »Sobald es mir möglich ist, gebe ich Ihnen das Geld zurück. Versprochen.«

»Ist schon in Ordnung.« Der Bürokraft saloppen Sprechweise gelang es nicht über die Tatsache hinwegzutäuschen, über seine Dankbarkeit erfreut zu sein. Dies zeigten ihm ihre sich schüchtern aufhellenden Gesichtszüge. »Gehen Sie lieber, ansonsten kommen Sie wirklich zu spät.«

Diese minimale Freude klinkte sich augenblicklich in sein Herz ein, füllte ihn mit einer fremdartigen Wärme und Erleichterung.

Oder lag es bloß an des Mädchens Verständnis?

Nochmals bedankte er sich, drehte sich eiligst um, sprintete los –

Und wäre beinahe in einen großgewachsenen, alternden Typ gelaufen.

»Verzeihung.« Ohne sich davon abhalten zu können, warf Lilian dem Mann ein besänftigendes Lächeln zu, welches dieser herzlich erwiderte.

Dabei wollte er niemanden mehr anlächeln! Er wollte niemandem mehr Sympathie oder Mitgefühl entgegenbringen!

»Nicht so eilig, junger Mann«, sprach der grauhaarige Herr beschwingt, dessen markanter Bassbariton auf eine wohlklingende Gesangsstimme schließen ließ. »Ansonsten könnten Sie das Glück Ihres Lebens übersehen.«

»Mir kann Derartiges nie passieren«, erwiderte Lilian ebenso ungewollt. »Glück existiert nicht. Genauso wenig wie Götter oder wahre Liebe.«

Verflucht noch einmal!

Weshalb rutschte er dann und wann in sein altes Verhalten ab? Weshalb gelang es ihm nicht, sich durchwegs kühl und unnahbar zu geben?

Er hatte sich geschworen, niemals mehr etwas über sich selbst preiszugeben! Keine persönlichen Meinungen, keine Wünsche, keine Sehnsüchte, keine Einschätzungen. Ein jedes Wort, das man über sein Innerstes verlor, gab Mitmenschen die Gelegenheit zum Gegenschlag. Gelegenheiten, um dich auszuweiden, zu mobben, schlechtzumachen und letztendlich psychisch umzubringen.

»Na, na. Nicht so negativ.« Des Mannes Grinsen wuchs in die Breite. »Das Leben ist schwer genug, da muss man es sich nicht noch selbst schwerer machen.«

»Man braucht es sich gar nicht selbst schwerzumachen«, entgegnete Lilian trocken. »Dafür gibt es Mitmenschen. Diese schaffen ein solches Kunststück mit Leichtigkeit. Ein gutes Beispiel stellen Freunde oder Familienmitglieder dar: Man glaubt, man könne sich vertrauen und gegenseitig helfen. Stattdessen sitzen die lieben Bekannten dann in der Hängematte, währenddessen du ihnen den verdammten Rasen mähst.«

Der Grauhaarige lachte.

Eigenartig.

Bezüglich seiner spitzen Zunge musste Lilian sich üblicherweise Spott und Häme anhören. Die einzige Ausnahme hatte sein Vater gebildet: Dieser hatte regelmäßig über seine trocknen Tatsachen und den schwarzen Humor gelacht.

Nun, wie dem auch sei. Es wurde allerhöchste Zeit zu gehen.

Um der Bürokraft ein letztes »Auf Wiedersehen« zuzurufen, drehte Lilian sich ihr zu … Und abrupt hielt die Zeit an. Neuerlich legte sich dieses warme Empfinden um ihn und umschmeichelte sein Innerstes wie eine Kaschmirdecke – ausgelöst durch ein unwahrscheinlich offenes, ehrliches Lächeln vonseiten des Mädchens. Diese Geste der Freude brachte ihre Augen, ja ihre gesamte Gestalt zum Strahlen und versetzte seiner Seele einen zarten Stoß …

Lilian schluckte hart, kämpfte gegen die Trance, versuchte seine Gehirnleistung zum wiederholten Male einzuschalten.

Hatte sein Sarkasmus es allen Ernstes vollbracht, eine Frau zu erheitern?

Er konnte es kaum fassen.

Doch weniger die Tatsache an sich, dafür vielmehr diese tief aus des Mädchens Innersten dringende Fröhlichkeit war es, welche ihn vollumfänglich durcheinanderbrachte. Dermaßen durcheinander, alsbald Lilian in seinem Wagen saß, wusste er nicht einmal mehr, ob er sich verabschiedet hatte. Ausnahmslos ein Gedanke kreiste unaufhörlich durch seinen aufgekratzten Geist: Sie sieht wunderschön aus, wenn sie lächelt.

Lavanda

Подняться наверх