Читать книгу Lavanda - Isabella Kniest - Страница 13

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Lavanda hasste den Sonnenschein. Davon brannten ihr die Augäpfel, des Weiteren schmerzte dieser ihr in der Seele. Diese übertrieben kitschige Fröhlichkeit, die lachenden Personen um sie herum. Sie ertrug es nicht. Nicht mehr. Jahrelang hatte sie es erduldet, sich ihren Mitmenschen angepasst, all die unerträglichen besserwisserischen Sprüche, die Ratschläge, das infantile Hochjubeln der Hoffnung akzeptiert – ja, sich sogar mitreißen lassen.

Ein einziges Mal.

Ein einziges Mal hatte sie echte Hoffnung verspürt, sich hübsch, begehrenswert, genug gefühlt.

Dabei war Lavanda es nie gewesen. Niemals in ihrem Leben würde sie genügen. Dies bildete nicht ihr Schicksal.

Manch ein Mensch fand sein persönliches Glück, erhielt Zuspruch, wurde erfolgreich, verwirklichte seine Träume und erreichte seine hochgesteckten Ziele.

Ihr gelang nichts davon. Nicht einmal die unscheinbarsten Wünsche wollten in Erfüllung gehen – trotz jahrelanger Bemühungen, trotz des Besiegens diverser Ängste, trotz Veränderungen und Ausdauer.

Nichts hatte funktioniert.

Im Gegensatz zu den meisten Personen hatte sie keine teuren Urlaube, ein Penthouse oder einen PS-starken fahrbaren Untersatz verlangt – einzig friedvolle Momente mit dem meistgeliebten Menschen in ihrem Leben.

Ein Spaziergang. Ein langes, gemeinsames Wochenende im Bett. Ein Kinoabend oder ein Restaurantbesuch. Gemeinsames Shopping – ja, für Männer klang dies ausnahmslos nach Geldverprassen und kreischenden Weibergefechten um einen überteuerten Designerfetzen. Sie hingegen stellte sich etwas gänzlich anderes darunter vor: Anprobieren von Dessous, welche neben ihr ebenfalls ihn ansprachen – immerhin kaufte sie solche Teile hauptsächlich für ihn, nicht für sich selbst. Elektronikartikel gustieren. Shops und Produkte bestaunen, die ihm zusagten – ob dies nun Kettensägen, Computer, Mode oder Tuningartikel für sein Fahrzeug gewesen wären, war ihr völlig gleich. Gemeinsam eine schöne Zeit verbringen – sich küssen, sich lieben, über anregende Themen sprechen.

Das war alles.

Das war ihr Wunsch, ihre Sehnsucht, ihr einziges gottverdammtes Verlangen.

Nichts davon hatte sich jemals erfüllt. Nichts davon würde sich jemals erfüllen.

Alleine in ihrer Vorstellung …

Tja, womöglich klang ihr Idealbild nicht unbedingt nach Emanzipation. Im Gegensatz dazu war sie eine der wenigen alles selbst bewerkstelligenden Frauen.

Einzig für die Reparatur ihres Computers hatte sie sich Hilfe suchen müssen – und man hatte sie ausgenommen wie eine Weihnachtsgans und überdies ihr geliebtes Gerät mutwillig zerstört.

Abgebrochene Prozessorpins sagten genug, mit welcher Gewalt man ihren Computer bearbeitet hatte.

Nach diesem Vorfall hatte Lavanda sich autodidaktisch sämtliches Wissen angeeignet, um ihre Geräte selbstständig zu reparieren oder zusammenzubauen.

Seit Lebzeiten hatte sie sich alleine durchgeschlagen. Sie hatte keine Freundinnen, die sie um Hilfe bitten konnte. Eher war sie es, die all ihren Mitmenschen Tipps und Informationen gab und zu beinahe jeder Frage eine Antwort wusste.

Wusste sie jedoch einmal etwas nicht, hieß es sofort: Du kannst nicht andauernd »keine Ahnung« sagen, davon wirst du dumm. Du musst alles wissen.

Falls sie nach Informationen oder einer Hilfestellung in einem Geschäft verlangte, erhielt sie kaum Rückmeldungen – eher noch wurde ihr das Gefühl übermittelt, zu blöd, zu langweilig, zu fraulich zu sein.

Lavanda stellte die Zahnbürste in den perlmuttfarbenen Becher, welcher von einer hochglänzenden Messinghalterung an der elfenbeinfarbenen Fliesenwand befestigt worden war, und zog sich das dunkelblaue Etuikleid über. Um nicht übermäßig viel Zeit zu verplempern, dennoch adrett, selbstbewusst und businesslike zu wirken, befestigte sie ihr Haar mit einem goldfarbigen Haarstab.

Der einzige Nachteil: Dieses günstige Ding würde ihr vermutlich den gesamten Tag über in ihre sensible Kopfhaut drücken und ihr in weiterem Verlauf Kopfschmerzen bereiten.

Sie seufzte, betrachtete sich nochmals im Spiegel – und bemerkte die sich monatlich ausdehnenden Geheimratsecken, den sich teilweise nach hinten verlagernden Haaransatz …

»Männliche Glatzenbildung«, hatte ein Arzt ihr erklärt. »Wogegen man nicht wirklich viel ausrichten kann.«

Sie solle Nahrungsergänzungsmittel nehmen und ein Hormonshampoo verwenden. Allerdings würde dies den Haarverlust lediglich etwas verlangsamen – wenn überhaupt.

Dabei lag Glatzenbildung nicht in ihrer Familie. Überhaupt litt niemand in der Verwandtschaft an krankhaftem, genetischem oder anderweitigem Haarausfall, weder väterlicherseits noch mütterlicherseits, weder Großeltern noch andere weitschichtige Verwandte …

Sieh nicht zu genau hin, dachte sie und wandte sich zur frei stehenden Retro-Badewanne. Deren Krallenfüße und Armaturen wiesen dieselbe polierte Messingbeschichtung auf mit welcher auch die Zahnbürstenhaltung und Mischbatterien des Doppelwaschbeckens veredelt worden waren. Der Fliesenboden zeigte sich in einem schimmernden Dunkelbraun. Dieser Kontrast zur hellen Wandverfliesung verlieh dem Raum eine ebenso behagliche wie exklusive Atmosphäre.

Ja, das Bad war ihr großer Stolz – und dementsprechend teuer war die Anschaffung gewisser Möbel und Sanitäranlagen gewesen. Obwohl Lavanda grundsätzlich relativ genau auf ihre Finanzen achtete und keinen unnötigen Protz kaufte, bereute sie diese Anschaffung keine Sekunde.

Es war ihr wichtig, sich vollkommen wohl und geborgen zu fühlen. Da fielen drei- oder viertausend Euro mehr oder weniger nicht mehr ins Gewicht.

Ihr Bungalow.

Knapp neunzig Quadratmeter maß dieser. Gewiss, er fiel übermäßig groß aus für eine alleinstehende Frau. Ursprünglich hatte Lavanda ja eine Fünfzig-Quadratmeter-Eigentumswohnung angepeilt. Durch die Verschiebung eines Immobilienbesichtigungstermins – die Eigentümerin der überschaubaren Wohnung in der Klagenfurter Innenstadt war durch eine ernst zu nehmende Lungenentzündung ans Krankenbett gefesselt worden – hatte Lavandas Maklerin ihr unverhofft dieses wunderbare Objekt angeboten.

Kaum eine halbe Stunde hatte die Besichtigung gedauert – und Lavanda hatte den Kaufvertrag herzklopfend unterzeichnet.

Es gab nichts zu bemängeln. Keine übertriebenen Verunreinigungen oder Spuren des Verlebens, eine sonnige, abgelegene Lage vor einem üppigen Mischwald, viele Fenster … und das besondere Highlight: Lediglich eine einzige Innenwand, welche sich zielstrebig durch den rechteckigen Bau zog. Dadurch war es Lavanda möglich gewesen, beinahe sämtliche Räume ihren Vorstellungen anzupassen oder sogar neu zu erschaffen.

Konkret hatte Lavanda drei Wände aufstellen lassen, um WC und Bad separieren zu können sowie ein groß angelegtes Büro zu erhalten …

Eine abrupt hochzüngelnde Übelkeit knotete ihr den Magen zusammen, und psychische Schmerzen durchlöcherte ihre Seele.

Noch einen kleinen Raum hatte sie dadurch erhalten: ein lang gehegter Wunschtraum.

Seit einem Jahr hatte sie ihn nicht mehr betreten.

Lavanda besah den goldfarbigen Flüssigseifenspender.

Niemals mehr würde sie diesen verfluchten Raum betreten. Niemals mehr würde sie sich in irgendeiner Form mit fester Seife beschäftigen.

Sie würgte Tränen und Übelkeit hinunter, atmete schubweise durch und straffte die Gestalt.

Zwar hatte sie durch die neue Einteilung etwas an Wohnzimmerfläche verloren – aber was soll’s! Fern schaute sie nicht mehr allzu viel. Und da die Küche mit zwanzig Quadratmetern aufwartete, fand ihr Esstisch eben dort seinen gebührenden Platz.

Lediglich einen einzigen Minuspunkt konnte man dem Anwesen abziehen: Es fehlte ein Keller. Stattdessen besaß das Haus einen niedrigen großflächigen Dachboden – was für ihre Verhältnisse völlig ausreichte. Im Übrigen ersparte Lavanda sich dadurch unzähliges Treppensteigen am Tag, um Lebensmittel, Wäsche und Getränke von unten nach oben zu schleppen, sowie wöchentliche Reinigungen des Untergeschosses.

Sie griff nach dem Waschlappen und benetzte diesen mit warmem Wasser.

Ihre größte Freude war es gewesen, ihren Namen neben der in hellelfenbein gehaltenen Landhausstil-Tür anzubringen.

Lavanda Pirker.

Ihr Reich.

Ihr Rückzugsort.

Ihre Selbstständigkeit.

Zumindest einen Wunsch hatte sie sich durch harte Arbeit selbst erfüllt: ein Eigenheim.

Sie wusch sich das Gesicht und cremte es ein. Anschließend öffnete sie die Brisuren mit dem ovalen Kyanit-Gehänge, welche sie neben dem breiten Doppelwaschbeckenrand gelegt hatte, und befestigte diese an ihren Ohrläppchen.

Sie mochte Schmuck farblich abgestimmt auf ihr Outfit.

Genauso verhielt es sich mit ihrer restlichen Garderobe: Strümpfe, Strumpfhosen, Dessous, Nachtgewand, Mäntel, Schuhe, Handtaschen.

Was sie in den letzten Jahren an Dessous und Strumpfwaren zu viel gekauft hatte – knapp an die zweihundert Stück Höschen und Beinbekleidung waren es geworden –, hatte sie bei Schuhen und Taschen gespart. Zehn Paar Schuhe – darunter fielen ebenso ihre geliebten Winterstiefel sowie Flipflops für den Hochsommer – bildeten ihr gesamtes Sammelsurium. Handtaschen beliefen sich auf sechs Stück. In Schwarz, Grün, Gold, Weiß, Rot und Creme deckten diese die gesamte Bandbreite an Farben ab.

Schon seltsam.

Noch vor wenigen Jahren hatte sie sich keine Sekunde Gedanken um ihr Äußeres gemacht. Gewand trug sie, bis es sich aufgelöst hatte. Unterwäsche kaufte sie alle paar Jahre im Zehnerpack in einem Discounter.

Nun besaß sie eine immense Auswahl an verschiedensten Slips, Strings, Tangas und Brazils. Ungeachtet dessen hatte sich kein Mann für sie interessiert.

Ob sie mit durchlöcherter Unterwäsche durch die Welt lief oder sich aufgeilende Dessous anzog – sie fühlte sich deshalb nicht attraktiver oder selbstbewusster.

Einziger psychologischer Marketing-Gag, dachte sie bitter.

Nachdem Lavanda die dunkelblaue Halskette angelegt und die schwarzen Strumpfhosen übergestreift hatte, schritt sie in die Küche und bereitete sich Ham and Eggs zu.

Sie brauchte etwas Deftiges zum Frühstück. Allerdings erst zwei Stunden nach Abgang des Weckers. Kurz nach ihrer Aufwachphase hätte sie sich eher übergeben, als etwas Essbares hinunterzubringen.

Durch das dauerhafte Untergewicht musste Lavanda auf kalorienreiche Kost achten. Glücklicherweise arbeitete ihr Stoffwechsel äußerst fleißig – Schilddrüsen- sowie Nierenprobleme war von ihren Ärzten ausgeschlossen worden –, womit sie sich zumindest um Fettpölsterchen und einen Postkastenarsch nicht zu sorgen brauchte. Ihre durchgängigen Kreislaufbeschwerden sowie die gelegentlich auftretende Appetitlosigkeit machten ihr dennoch zumeist stark zu schaffen.

Nun, man kann nicht alles haben, dachte sie und briet sich den köstlich duftenden Beinschinken goldbraun an.

Lästige Beschwerden und Krankheiten gehörten zum Leben dazu. Damit konnte sie sich locker abfinden. Mit Einsamkeit jedoch nicht, weshalb sie es tunlichst vermeiden wollte, jemals die Pension mitzuerleben.

Lavanda betrachtete die im Farbton Magnolia gehaltene Küche, dachte daran, wie sie mit einem Partner hätte glücklich werden können.

Hätte.

Es würde niemals passieren. Dazu war sie schlichtweg nicht gut genug. Ihr Schicksal war es, lebenslang alleine und einsam zu bleiben und tagtägliche Schmerzen zu erleiden. Daran zugrunde zu gehen.

Halt.

Sie war längst daran zerbrochen.

Sie hatte alles verloren.

Nicht alles, korrigierte sie zynisch. Ein Dach über den Kopf habe ich noch. Aber dafür auch den passenden Kredit.

Kein Vorteil ohne Nachteil, oder?

Auf den Schinken setzte sie zwei Spiegeleier.

Schon komisch. In ihren Teenagerjahren hatte sie vermutet, niemals ein Spiegelei kredenzen zu können. Denn jedes Mal war ihr der Dotter aufgerissen, und sie hatte erzwungenermaßen Rührei daraus machen müssen.

Nun gelang es ihr nahezu jedes Mal.

Lag es an der Tatsache, ausschließlich die Dotter zu verwenden? Mit Eiweiß hatte sie es nicht mehr versucht. Dadurch ausgelöste Hautunreinheiten und Übelkeitsattacken hatten sie dazu bewogen, das Gelbe vom Ei zu verwenden und den Rest davon wegzuschütten.

Andauernd fühlte sie sich schuldig dabei. Lebensmittel wegzuwerfen haftete etwas Asoziales, Dekadentes, Undankbares an. Immerhin verhungerten Menschen in anderen Ländern …

Andererseits wäre sie bescheuert, würde sie Produkte verspeisen, von welchen sie krank wurde, oder?

Lavanda beantwortete ihre Frage mit einem Ja, nahm den gefüllten Porzellanteller mit dem Rosenmuster und setzte sich an den beige lackierten Holztisch – den Rücken diesem einen speziellen verschlossenen Zimmer zugedreht.

Menschen waren grausam, Menschen waren eine einzige gottverdammte Plage, eine Nötigung, eine Zumutung.

Der Mensch missbrauchte andere, der Mensch stellte sich über andere. Er mordete, verletzte, verurteilte, zerstörte, belog, betrog – und ignorierte.

Da halfen selbst der Forschergeist, die Kreativität und die hochgepriesene Menschlichkeit nicht mehr, um die Statistik des ›ehrbaren, anständigen, zivilisierten Menschen‹ hochzuhalten.

Obwohl das Frühstück mundete, gelang es diesem nicht, Lavandas Laune anzuheben.

Pech gehabt.

Laut Psychologen, Hipstern und upgegradeten Hippies war die Schuld ja stets bei einem selbst zu suchen – unbedeutend der Vergangenheit, unbedeutend der Ungerechtigkeit.

Oder mit den Worten dieser okkulten Psychogesellschaft ausgedrückt: Bei misshandelnden Eltern aufwachsende Kinder hatten sich in einem früheren Leben große Sünden aufgebürdet, womit ihr nunmehriger fürchterlicher Lebensumstand die gerechte Strafe darstellen sollte.

Sie kaute den letzten Happen, spülte diesen mit stillem Mineralwasser hinunter und machte sich daran, das Geschirr und die Anrichte zu säubern.

Nach getaner Arbeit fasste sie nach ihrer Tasche, schlüpfte in schwarze flache Schuhe und trat aus dem Haus. Sie wandte sich zum Postkasten und lugte durch den Schlitz.

Leer.

Typisch.

Mit diesem eigenwilligen bedrückenden Gefühl, welches sie jeden Tag aufs Neue ereilte, versperrte sie die Haustür und blickte zur oberhalb angebrachten nostalgischen fünfeckigen weißen Wandleuchte.

Sie liebte diesen Vintage-Kram. Alte Handwerkskunst, qualitativ hochwertige Flohmarktwaren, handgeschmiedete Gartenzäune, geschwungene Türgriffe, gefräste und verschnörkelte Oberflächen.

Im Gegensatz dazu verachtete sie glatte, kühle Schränke; schneeweiße Fliesen; Plastikmöbel.

Wohnräume mussten einladend, beschützend und gemütlich sein. Was brachte ihr da ein futuristisches Design?

Ähnlich verhielt es sich mit der Form eines Gebäudes. Nackte Beton- oder Holzquader hatten weniger mit einer menschlichen Behausung denn vielmehr mit einem Schutzbunker gemein.

Wenn die Welt bereits solcherweise kalt ist, sinnierte sie. Muss nicht noch mein Haus wie ein Kühlschrank anmuten.

Und der Schmerz wuchs an, umschloss sie wie ein heißblütiger Liebhaber.

Sie drehte sich zurück Richtung Hofeinfahrt, horchte dem monotonen Rauschen des Regens.

Tiefe Pfützen auf dem hellgrauen Asphalt weiteten sich mehr und mehr aus. Milliarden Tropfen trommelten auf im zagen Wind tänzelnde Birken- und Ahornblätter, welche wenige Meter von ihrem Grundstück entfernt eine natürliche Grenze zwischen Natur und Zivilisation erschuf. Der graue Regenschleier nahm Lavanda die Möglichkeit, die zwanzig Kilometer weit entfernte sich an klaren Frühlingstagen mächtig und erhaben präsentierende Koschutta zu bestaunen. Ihr gefiel deren kantige Felsformationen, insbesondere der funkelnde Schnee in den Wintermonaten, und wie dieser sich von einem tiefblauen Himmel hervorhob.

Nun, ein heftiges Regenwetter wie das heutige mochte sie gleichermaßen – und wesentlich mehr, wenn es Wochenende gewesen wäre …

Laufend überquerte sie den Parkplatz, öffnete flott die Wagentür ihres dunkelgrünen Kleinwagens, stieg ein und fuhr los.

An der Hauptstraße angekommen, bemerkte sie ein Pärchen, welches geschützt durch einen hellblauen Regenschirm eng umschlungen an ihr vorüber stolzierte.

Wie üblich schritt der extrem großgewachsene Mann selbstbewusst neben der platinblonden vollbusigen kleinwüchsigen kurvigen Frau.

Existierten keine Männer mehr ohne krampfhaft unterdrückte Minderwertigkeitskomplexe? Gab es keine Männer mehr, welche sich einmal nicht auf einen Ego-Trip der Extraklasse befanden und sich zur Abwechslung physisch wie psychisch ebenbürtige Partnerinnen aussuchten?

Gab es niemanden, der zu seinen Schwächen und Stärken stand, sich nicht aufplusterte wie ein liebestrunkener Pfau und sich als das Zentrum der Welt wahrnahm? Ein Mann, welcher ebenso verunsichert und verängstigt durch die Welt ging, wie sich ohnehin beinahe ein jeder manchmal fühlte – anstatt zu maulen, zu lügen und zu unterdrücken seine Schwächen und Unsicherheiten zugab und freiwillig um Schutz und Hilfe bat, wie es normalerweise die weibliche Gattung Mensch tat?

Sich gegenseitig stützen, beschützen, lieben? Stellte dies nicht für einen jeden Menschen ein Grundbedürfnis dar?

Sie jedenfalls empfand das zwingende Verlangen, einen Partner zu schützen wie sich von ihm beschützen zu lassen.

Ein Ergänzen … ein Verstehen … ein liebevolles Miteinander pflegen …

Stattdessen hatte man sie stehengelassen. Wie ein Stück Dreck hatte man sie ignoriert. Einfach ignoriert – kein Wort hatten Männer verloren.

Besonders dieser eine nicht …

Ein brutaler Stich durchfuhr ihr wundes Herz, krampfte dieses zusammen und trieb Lavanda beinahe Tränen in die Augen.

Es lag etliche Jahre zurück – dennoch war der Schmerz allgegenwärtig.

Kein Wunder.

Nie hatte sie eine Verabredung, Umarmungen, Küsse oder gar Sex erfahren.

Ignoriert war sie in der Jugendzeit worden, ignoriert wurde sie im Erwachsenenalter. Dann, mit knapp achtundzwanzig begegnete sie einem Mann, welcher sie regelrecht umgeworfen hatte – und selbst dieser hatte sie beiseitegeschoben.

Aber was predigten Menschen andauernd: Wenn du dem Richtigen begegnest, spürst du das. Dann weißt du das.

Es war eine einzige Lüge!

Eine einzige gottverdammte, verschissene Lüge!

Eine Lüge, welche sie dieses verschissene Leben hatte durchhalten lassen! Eine Lüge, welche ihr Sinn und Zuversicht geschenkt hatte.

Tja … nun war es vorbei.

Ihre Liebe war aufgebraucht. Ihre Hoffnung war nicht mehr vorhanden. Ihr Schmerz war zu groß, um noch einen Tag länger zu überstehen.

Dennoch stand sie andauernd aufs Neue auf.

Wozu überhaupt?

Wozu tat sie sich diese elendige Qual weiter an? Wozu sich nach jemandem sehnen, welcher ohnehin nichts mit ihr zu schaffen haben wollte?

Wozu existieren?

Ihr Leben hatte großteils aus Schmerz, Angst, Sorgen und Kummer bestanden.

Sie würgte einen eifrig anwachsenden Kloß in ihrem pochenden Hals hinunter.

Falls sie jemals eine Beziehung eingehen sollte, musste es sie nochmals umhauen. Es müsste sie der Schlag treffen, ansonsten würde es nicht funktionieren.

Exakt dieser Sachverhalt konnte bereits rechnerisch niemals mehr zutreffen. Da würde sie eher in den Euromillionen gewinnen, als ein zweites Mal die Liebe ihres Lebens zu begegnen und mit dieser zusammen alt werden zu dürfen.

Sie gab Gas. Je mehr sie an Geschwindigkeit zulegte, desto schneller rotierten ihre Gedanken.

Die Erinnerungen … das Gejammer … die fortwährend niederträchtigen Fallstricke des Lebens.

Weshalb wurde sie von gleichaltrigen Männern andauernd ignoriert? Weshalb wurde ihre persönliche Meinung, ihre Lebensanschauung, ihre Lebenserfahrung besonders von Männern aufs Härteste bekämpft? Und weswegen, verdammt noch einmal, wurden stets ihr verzwickte Blicke zugeworfen?

Weder hatte sie ihr Haar jemals schreiend bunt gefärbt, noch trug sie ekelerregende Piercings oder präsentierte der Gesellschaft geschmacklose Tattoos – und beträchtlich weniger regte sie sich über ebensolche von ihr ungern gesehene Äußerlichkeiten anderer auf.

Einst, vor vielen Jahren, hatte sie eine jede Person angelächelt. Sie war dankbar und freundlich gewesen. Um einen jeden hatte sie sich gesorgt, sich eingesetzt, sich Schwierigkeiten eingehandelt.

Was hatte sie für ihr Verständnis und Mitgefühl im Gegenzug erhalten?

Hass, Ignoranz, Neid.

Alleinig ihre Träume und Hoffnungen auf eine liebevolle Beziehung – auf eine verfickte Gefühlserwiderung vonseiten eines Mannes – hatten sie am Leben erhalten.

Wie sehr sie sich stets bemüht hatte! Sie hatte gekämpft dafür, war geduldig und verständnisvoll gewesen.

Jahrelang.

Jahrzehntelang.

Nun gelang es ihr nicht mehr, die aufkommenden Tränen zurückzudrängen.

Bemühe dich.

Sei zufrieden.

Man bekommt nicht immer das, was man will.

Träume können sich immer erfüllen.

Es liegt allein an dir selbst. Erreichst du deine Ziele nicht, warst du schlichtweg nicht ausdauernd genug.

Wenn es mit einer Sache nicht funktioniert, sucht man sich eben etwas anderes.

Vielleicht findest du ja mit fünfzig deinen Traummann.

Mit fünfzig, dachte sie hasserfüllt wie verzweifelt, werde ich nicht mehr am Leben sein. Dafür werde ich Sorge tragen. Auf subtile, endgültige Weise.




Seit sechs Jahren arbeitete sie in dieser überschaubaren Druckerei. Der Job war in Ordnung, ihr Chef, Herr Huber, zumeist ein besserwisserischer Plagegeist, welchem es nicht bewusst war, wie unberechenbar das Leben sein konnte. Freilich, er hatte ebenfalls seine Erfahrungen gemacht, einige Höhen und Tiefen durchlebt, nichtsdestotrotz und im Gegensatz zu ihr hatte er seine Fröhlichkeit beibehalten.

Dies schuf Raum für zwei Vermutungen: Entweder war sie tatsächlich zu schwach und empfindlich für diese Welt – etwas, das ihr ständig vorgeworfen wurde –, oder ihr Chef war noch nicht solcherweise tief hinabgefallen in die Verdammnis.

Gleichgültig, welcher Tatbestand zutraf: Ihr gefiel keiner davon.

Wütend und frustriert – ja, das war sie, jeden einzelnen gottverdammten Tag – warf sie die billig anmutenden druckfrischen Visitenkarten seitlich auf ihren großflächigen Bürotisch.

Diese unscheinbaren, Augenkrebs hervorrufenden Egoaufpolierer – weshalb sonst wurden solche Informationsträger dem Kunden ständig mit stolzgeschwellter Brust überreicht? – sollten heute abgeholt werden.

Das Layout war ein einziger, haarsträubender Graus!

Tiefrote feine Doppellinien auf der linken und rechten Seite, ein grimmig dreinschauender, giftgrüner Gartenzwerg im rechten oberen Eck und mittig der Firmennamen in Helvetica und Kapitälchen inklusive kursiv geschriebener Adresse und Telefonnummer – jedes einzelne Wort eingefasst mit einer blitzblauen Kontur!

Mit Sicherheit war dieses grafische Wunderwerk dem verwirrten Geist eines farbenblinden, sich selbst überschätzenden Langzeitstudenten entsprungen …

Für einen solchen fremdschämenden Dreck gab dieser Idiot fünfzig Euro aus!

Das erinnerte Lavanda stark an die vielen hirnrissigen Wunschkennzeichen, welche da neuerdings überall zu sehen waren und hauptsächlich aus undefinierbaren Anfangsbuchstaben und sinnlosen Zahlenreihen bestanden.

Lavanda begriff es nicht.

Wozu über zweihundert Euro für eine Nummerntafel ausgeben, wenn diese rein gar nichts aussagte? Da tat es genauso eine reguläre, zugewiesene Nummer.

Ach, natürlich!

Es ging abermals ums Ego.

Ein zugewiesenes Kennzeichen war zu alltäglich, zu gewöhnlich, zu langweilig – und deutete auf Armut hin.

Da stürzte man sich lieber in Unsummen und fuhr mit einem AS1, LK5, BM10 herum, um über seine kaum noch zu zahlenden Leasingraten und Glasfaser-Monatsrechnungen hinwegzutäuschen und sich autark und unnachahmlich zu fühlen.

Lavanda ergriff die schneeweiße Kaffeetasse und füllte diese mit kühlem Quellwasser aus dem in der angrenzenden Küche stehenden Wasserspender. Währenddessen drifteten ihre Gedanken zurück zur grässlichen Visitenkarte.

Walky.

So lautete der eigentümliche Name der Firma.

Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Dienstleistungen ein solches Geschäft anbot.

Wurden dort Gartenzwerge für verzwickte Personen feilgehalten – wie Pensionisten, Busfahrer, Magistratsbedienstete oder Postpartner-Inhaber?

Na egal …

Spätestens nach zwei Jahren würde dieses Geschäft wieder verschwunden sein – Konkurs … wie der Großteil der Jungunternehmer, Start-ups und verzweifelten Ein-Mann-Betriebe … Pardon – Ein-Personen-Betriebe. Ansonsten fühlte sich die niederträchtige Gattung ›weiblicher Mensch‹ bekanntlich diskriminiert.

#Metoo

#Sexismus

#Emanzipation

Die Atemluft gepresst ausstoßend schaltete Lavanda den Laserdrucker ein, platzierte die Tasse neben den vierundzwanzig Zoll Bildschirm und setzte sich auf den maroden Bürostuhl, dessen Rückenlehne bereits beängstigend wackelte.

Rechnungen mussten geschrieben, E-Mails durchgecheckt und ausgedruckt, Kunden angerufen werden.

Weiblicher Bullshit, verschissene Horoskope sowie die naive Annahme, positive Gedanken brächten positive Erlebnisse, würden ihr diese Arbeiten nicht erleichtern.

Das, was du anderen wünschst, wird dir selbst auf eine ähnliche Weise widerfahren!

Beinahe hätte sie laut aufgelacht.

Hätte dieser Spruch nur im Ansatz der Wahrheit entsprochen, hätte sie längst ein Himmelreich besitzen müssen.

Wie viel Gutes sie den Menschen jahrelang gewünscht hatte – aus tiefstem Herzen, aus echter Nächstenliebe …

Doch wie üblich war das exakte Gegenteil eingetroffen.

Nein, an solchen Märchendreck glaubte sie nicht mehr.

Sie glaubte gar nicht mehr – sie wusste. Alle anderen verschissenen Sprüche konnten sich diese zurückgebliebenen Saftsäcke in ihre breitgesessenen und mit Transfetten ausgepolsterten Ärsche schieben!

Ja, die ewige Jammerei bezüglich des Übergewichts …

Dabei war Fakt: Neunzig Prozent aller adipösen Personen fraß schlichtweg zu viel.

Ja, es gab wenige wahrhaftig leidtragende Menschen, welche an einer Krankheit litten und/oder durch Medikamente zunahmen. Für solche Menschen hegte sie sogar das bisschen Mitgefühl, welches sie noch ihr eigen nennen durfte.

Doch wie sagte ihr Hausarzt stets?

Ein jeder Mensch litt an einer Krankheit.

Selbst wenn es bloß lästige Schweißfüße waren. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen. Darum brauchten Menschen nicht über Gewichtsprobleme zu jammern, wenn diese meistens erst gar nicht die Disziplin aufbrachten, um zu sagen: Nein, heute schlinge ich keinen Rieseneisbecher hinunter, heute verkneife ich mir meinen Kaffee mit Schlagsahne und leere keine ganze Chipspackung, sondern belasse es bei meiner Hauptspeise.

Du wirst schon sehen, spätestens mit dreißig wirst auch du dick!

Dies stellte die wunderbare Äußerung einer neidigen alternden mit ihrem Leben nicht zurechtkommenden Drecksfotze dar – geradewegs an eine achtzehnjährige Lavanda gerichtet.

Einige Jahre hatte Lavanda sich deshalb gesorgt und vermutet, dann erst recht von Männern und der Gesellschaft im Allgemeinen ignoriert oder belächelt zu werden.

Tja, meine Gute, dachte sie bissig. Nun bin ich jenseits der dreißig und noch immer schlank und wohlproportioniert wie zu meinem zwanzigsten Geburtstag.

Und pass erst einmal auf, hallte es ihr besserwisserisch durch den Verstand, wenn du dein erstes Kind bekommen hast.

Lavanda lächelte grimmig.

Wenn sich durchvögelnde Frauen unbedingt quengelnde, ressourcenfressende, egomanische Monster in diese ohnehin überbevölkerte Welt setzen wollten, durften sie sich über Hängebrüste, wabbelige Hintern und Bäuche, welche an aufgeschwemmte Holzpilze erinnerten, nicht beschweren. Besonders dann nicht, wenn Mütter in ihrer Schwangerschaft eifrig »für zwei« aßen. Nicht jeder besaß gute Veranlagung. Aber exakt diese half beim Abnehmen oder Gewichthalten enorm.

Wem beispielsweise die Veranlagung für ein Sixpack fehlte, konnte täglich hundert Kilometer rennen und Gewichte stemmen – Muskeln würden sich nicht entwickeln. Nicht zuletzt deshalb fand Lavanda es fürchterlich, was Werbung durch jahrzehntelange Suggestion angerichtet hatte: Frauen mussten schlank, mittelgroß und mit einem üppigen Vorbau glänzen, gänzlich enthaart und logischerweise schneeweiße Zähne besitzen. Natürlich aussehende Kunstnägel waren genauso wenig verkehrt wie eine ganzjährige gesunde Bräune und blondes, volles Haar. Und letztendlich durften Markenartikel niemals fehlen: Fendi-Sonnenbrillen, Dolce&Gabbana Handtaschen, Kleider von Versace oder Chanel – und teure Designerdüfte gleichnamiger Marken.

Das daraus irgendwann Mobbing gegen ›hässlichere‹ Menschen resultierte, war lediglich eine Frage der Zeit.

Jetzt, unzählige Selbstmorde später, wurde auf Political Correctness gesetzt, und alles, was abstoßend und dezidiert andersartig war, wurde in die Modebranche gezwängt. Ob Frauen mit Pigmentstörungen, Verkrüppelungen, immensem Übergewicht oder anderen Besonderheiten der Natur – alles war gern gesehen, und Toleranz wurde erwartet.

Was hingegen niemand bemerkte: Der normale Durchschnittsmensch wurde weiterhin in die Ecke gedrängt.

Normal war langweilig. Normal war öde. Normal war unbedeutend.

Eigenartigerweise wurde aber ein jeder sich etwas auffälliger kleidende Mensch schief angeblickt …

Die verschrobenen Ansichten der modernen Gesellschaft würde Lavanda niemals begreifen. Umso dankbarer war sie, die Buchhaltung und Fakturierung abarbeiten zu dürfen, erforderten diese Tätigkeiten nämlich größere Konzentration, womit ihre Gedanken zumindest für die nächsten drei Stunden etwas Ruhe gaben.

Etwas – da es ihr partout nicht gelingen wollte, diesen verdorbenen Geschmack der Nutzlosigkeit abzuschütteln oder überhaupt einen rechten Sinn in ihrem Leben zu entdecken.

Es wurde ihr zu viel.

Zu viel Hektik, zu viel Lärm, zu viel Verantwortung, zu viel Verpflichtung, zu viel Arbeit, zu viel Einsamkeit.

Wozu lebte sie?

Um zu arbeiten? Zu lernen? Schmerzen zu erdulden? Missverstanden und eiskalt ignoriert zu werden, sich blöde Sprüche anzuhören –

Ein das Büro betretender Kunde schob ihren inneren Disput zur Seite.

Es handelte sich um einen ausgesprochen attraktiven Kerl ihres Alter.

Ein wenig abgehetzt und ruhelos blickte er sich um.

Anscheinend hatte er sie noch nicht bemerkt.

Kein Wunder, bei den vielen verstaubten Geräten um sie herum und den sich hochtürmenden Papierstapeln …

Heute zumindest war ihr dieser chaotische und zumeist nervige Umstand zu etwas nütze. Dadurch war es ihr nämlich möglich, diesen Feschak etwas länger und genauer zu betrachten.

Was ihr zuallererst auffiel, war seine himmlische Frisur.

Zugegeben, ehe sie einem Kerl auf den Hintern blickte – was sie ohnehin nur äußerst selten tat –, waren ihr Gesicht und Haarpracht wichtiger. Was half ein knackiger Po, wenn die Vorderseite nicht ansprach?

Nun, in diesem Fall brachte des Mannes welliger bis gelockter, brünetter Undercut ihr Herz ungewollt auf Trab – wenn man den Schnitt derart bezeichnen durfte, fiel das Deckhaar doch relativ lang und füllig aus und die üblicherweise kürzer geschnittenen Stellen waren kaum zu erkennen.

Lag es an den angedeuteten Locken? Nach genauerem Betrachten schien der Stufenschnitt eigentlich gar nicht vorhanden zu sein. Das seitliche weniger dicht ausfallende Haar erweckte einen solchen jugendlich-frischen Eindruck des Friseurhandwerks. Stattdessen hatte der Kunde die für einen Mann mittellange Haarpracht offenbar bloß mit den Händen und minimalem Einsatz von Gel locker nach hinten gestreift.

Das Ergebnis: Eine luftige, schnell zu bewerkstelligende Frisur, welche diesem Kerl eine nahezu verboten sexy-verruchte Aura verpasste und Frauen höchstwahrscheinlich anzog wie … Fliegen vergammeltes Hühnerfleisch.

Sie fragte sich, wie sein Haar in der Sonne anmuten mochte. Wahrscheinlich schimmerte es bronzen- und kupferfarben – ähnlich wie das ihre. Ihr Deckhaar zeigte sich im strahlenden Licht golden bis Dunkelblond, die unteren Schichten warteten mit einem Kupferstich und Bronzentönen auf. Fatalerweise hatte sie im Laufe der letzten zehn Jahre beinahe zwei Drittel ihre Fülle einbüßen müssen.

Er hingegen zeigte exakt das Haarvolumen, welches sie einst besessen hatte: nicht zu füllig – wie ein dunkler Typ –, dafür reichlich feines Haar, welches sich fröhlich-verspielt manchmal mehr und manchmal weniger lockte.

Sie selbst besaß ebenfalls leicht lockiges Haar. Einige Jahre lang waren diese sogar sehr ausgeprägt, an anderen wiederum gänzlich verschwunden gewesen.

Einen ähnlichen Umstand vermutete sie in seinem Fall. Und erheblich mehr fragte sie sich, weshalb sie sich derart viele Gedanken um die Mähne eines wildfremden Mannes machte …

Offenbar haderte sie mit ihrem sich seit fünf Jahren schleichend ergrauenden und schütter werdenden Kopfschmuck.

Es waren vereinzelte schneeweiße Haare, welche sich da vermehrten. Allerdings wollte Lavanda diese nicht färben. Grundsätzlich wäre es ihr sogar recht zu ergrauen. Schneeweißes, langes Haar hatte seinen Reiz. In ihrem Fall jedoch hing dieser unausweichliche Alterungsprozess mit einer anderen, schmerzhaften Tatsache zusammen: zu ergrauen – und nach wie vor ungeküsst zu sein.

Des Öfteren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich einen Escortservice zu bestellen – einen halbwegs ansehnlichen Typ mit Erfahrung und Einfühlungsvermögen, welcher mit ihr schlief und sie danach noch etwas in den Armen hielt … ihr für wenige Stunden ihren Freund vorspielte.

Sogar Mehrkosten würde sie dafür in Kauf nehmen.

Dann, wenn der Mann seinen Job getan hätte, würde sie sich in die Badewanne legen und sich die Pulsadern aufschneiden.

Sie verdrängte die Traurigkeit, verdrängte die Übelkeit, verdrängte die Tränen und konzentrierte sich auf das Jetzt.

»Guten Tag.«

Des Traumhaar-Verschnitt-Kerls Haupt schnellte in ihre Richtung – und ein heißkalter, beinahe nicht wahrnehmbarer Schauer huschte über Lavandas Haut.

Seine dunkelblauen Augen – waren sie dies eigentlich? Mit Sicherheit konnte sie es nicht sagen – muteten an, ihr bis ins Herz und in ihre schmerzende Seele zu blicken.

Einbildung, dachte sie über sich selbst erbost, alsbald sie bemerkte, wie dieser Beau ihr sympathisch wurde.

Das hatten wir bereits dreimal, ein viertes Mal können wir uns getrost sparen.

Sympathien zu erwecken, damit man sie ausnahm, damit man sie um den Finger wickelte, damit man sie letzten Endes wortlos stehenließ – sogar als Kunde!

Ihre Wut wuchs an, ihre zuvor aufkeimende minimale Positivität erstarb abrupt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Sie erhob sich, um im Zweifelsfall ohne Zeitverlust die richtige Bestellung herauszusuchen oder USB-Sticks oder andere Datenträger entgegenzunehmen.

»Verzeihung, wäre es –«

Weshalb hielt der Mann inne? Sie wusste es nicht. Und es interessierte sie nicht weiter. Sie wollte diesen Kerl bloß schnellstens loswerden. Vor allem, alsbald sie seines Outfits gewahr wurde.

Eine schwarze wertig aussehende Lederjacke ohne verspielten Firlefanz wie Buttons oder übertrieben schimmernde Druckknöpfe, darunter ein versnobtes weißes Hemd mit ausladendem verwegenem Kragen kombiniert mit einer eng geschnittenen schwarzen Jeans und schwarzen Schuhen.

Ergo: ein typischer Weiberaufreißer auf der Suche nach einem schnellen Fick. Jemand, welcher sich niemals für sie interessieren und wesentlich weniger anbaggern würde.

Jemand, welcher es nicht wert war, sympathisch gefunden zu werden.

Ein Mann – überflüssig und lästig wie Warzen.

»Holen Sie einen Druckauftrag ab?«

»Nein, ich wollte lediglich darum bitten, ob ich für eine halbe Stunde Ihren Parkplatz benützen dürfte.«

Nicht noch einer!

Seit Jahren baten Personen um kurzzeitiges Parken. Dabei besaß die Firma bloß vier Stellplätze, dementsprechend eng konnte es an geschäftigen Tagen werden.

Dennoch verstand Lavanda die niemals enden wollende Fragerei.

In Klagenfurt waren Parkplätze Mangelware. Und die neu gestalteten Kurzparkzonen? Diese hatten zwar das durch unzählige Pendler hervorgerufene Parkchaos eingedämmt, dafür musste nun weitaus tiefer in die Tasche gegriffen werden, um Erledigungen in der Innenstadt und im inneren Gürtel machen zu dürfen. Zudem war die Parkzeit auf vier Stunden begrenzt worden. Für eine Hauptstadt ein unmöglicher Zustand.

Und ebenso für sie! Denn nahezu jeden Tag musste sie fragenden Personen eine Absage erteilen. Manch einer von ihnen wurde dann ausfällig, andere straften sie mit angewiderten Blicken.

Lavanda gab dennoch nie nach. Das Gejammere Ihres Chefs, falls sie jemandem eine Parkerlaubnis erteilte, wog zu schwer und belastete tausendmal mehr als das schlechte Gewissen, einem Menschen in Not nicht geholfen zu haben.

»Es tut mir leid«, versetzte sie. »Das geht nicht.«

Überraschende ehrlich anmutende Hilflosigkeit legte sich über des Schnösels Miene. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine – was auch sonst? – goldene dekadente Armbanduhr, und eine regelrechte Panik vermengt mit Aggression nahm seinen ebenmäßigen Gesichtskonturen, allen voran den sanft geschwungenen Augenbrauen, ihre Grazie.

»Es wäre lediglich für eine halbe Stunde. Ist es nicht irgendwie möglich?«

Der verstörte Ausdruck war nicht gespielt. Dieser Mann stand mächtig unter Zugzwang. Fatalerweise konnte sie ihm nicht aushelfen – obwohl sie es gerne getan hätte. Nicht aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes, nicht aufgrund dieser unsäglichen Sympathieentwicklung, sondern einzig ihrer neurotischen Hilfsbereitschaft wegen.

Seit jeher hatte sie Menschen helfen wollen – seit jeher hatten Menschen sie deshalb ausgenutzt.

Würde sie niemals daraus lernen? War es unmöglich, diesen Reflex auszuschalten?

Widerwillig schüttelte Lavanda den Kopf. »Tut mir leid.«

Ihr verfluchtes schlechtes Gewissen knotete ihr den Magen zusammen. Und des Typs wütendes wie flehendes Mienenspiel? Dieses war nicht eben unterstützend dabei, ihr eigenes Gefühlstohuwabohu zu bändigen.

Verdammte Scheiße!

Was wollte alle Welt eigentlich von ihr? Andauernd wurde sie um Hilfe gebeten! Und wer half ihr? Niemand! Kein verschissener Mensch!

»Es ist ein Notfall«, erwiderte er drängend, frustriert … restlos verzweifelt. »Normalerweise bitte ich nicht um einen Gratisparkplatz. Allerdings sind sämtliche kostenlose Abstellplätze belegt, und ich habe nicht genügend Kleingeld dabei, um ein Ticket zu ziehen. Hätte ich das Geld, würde ich nicht hier stehen und wie ein Bittsteller auf den Knien rumrutschen. Ich habe einen dringenden Termin um halb zwei in der Richtstraße. Ich schaffe es nicht mehr, falls ich nicht sofort losgehe.«

Lavanda blickte zur billigen Plastikuhr auf der von ihr rechts gelegenen dünnen Ytong-Mauer.

Es war fünfzehn Minuten nach eins.

Das schaffte er nie.

Die Richtstraße lag Minimum dreißig Gehminuten von der Druckerei entfernt.

Da sah sie bloß eine Möglichkeit …

Sie drehte sich um und schritt zurück zu ihrem Arbeitsplatz, an dessen linken Seite ein unauffälliger dunkelroter Kunststoffstuhl stand. Auf diesem verfrachtete Lavanda jeden Morgen ihre Handtasche. Ebendiese Handtasche war ihr Ziel. Lavanda öffnete sie, suchte etwas darin, und zog zwei Zwei-Euro-Münzen hervor, welche sie angesichts eigener Kleingeldnot stets als Reserve bei sich führte.

Sie trat zu dem Attraktivling und reichte ihm die Münzen. »Von uns aus zu Fuß bis zur Richtstraße? Sie würden niemals zeitig ankommen. Hier. Parken Sie in der groß angelegten Tiefgarage in der Anderluhstraße. Dann schaffen Sie es möglicherweise.«

Die Richtstraße zog sich durch die halbe nordseitig gelegene Innenstadt – was bedeutete, dass es sich vermutlich um einen Termin bei Gericht handelte. Nervosität wie Redefreude seinerseits sprachen dafür. Sein elegantes Äußeres sowie Mimik und Gestik, welche eher Ruhe und Zartheit ausstrahlten, tendierten dagegen auf eine verschlossene, wortkarge Person, was wiederum auf enormen Druck rückschloss – etwas, das Menschen zumeist durch Anklagen, Trennungen oder Testamentseröffnungen erfuhren.

Verwirrt blickte Letztgenannter auf das schimmernde Kleingeld. Er wirkte wie in Trance. Eine weitere unpässliche Reaktion für einen Mann seines Kalibers.

»Hier, nehmen Sie«, befahl sie drängender. »Ansonsten kommen Sie ernsthaft zu spät.«

Sein gedankenferner Augenausdruck verschwand, und an seine Stelle trat diese Lavanda aufwühlende verruchte Intensität. Kein Beäugen … ein Erforschen. Ein in sie Eindringen und sie restlos Vereinnahmen.

»Verzeihen Sie die Frage … weshalb tun Sie das?«

Sie hielt sich davon ab, ihre hochkletternde Unsicherheit durch ein peinliches Räuspern in die Schranken zu weisen und sich dadurch erst recht lächerlich zu machen. Stattdessen atmete sie einmal tief durch, verteufelte sich tausendmal im Geiste für ihre grenzdebilen und klischeehaften gefühlsmäßigen Reaktionen und begann mit ihrer hoffentlich halbwegs verständlichen und vernünftig anmutenden Erklärung.

Sie berichtete über die widerrechtlich abgestellten Kraftwagen, die abgemeldeten Fahrzeuge, die von der Druckerei beglichenen Abschleppkosten, die Dauerparker – und das vorprogrammierte Gejammer seitens ihres Chefs, sollte sie diesem von des Attraktivlings Notsituation und der daraus resultierten Parkerlaubnis unterrichten müssen.

»Glauben Sie mir«, brachte sie ihren Vortrag zu einem erbärmlichen Ende. »Dieses Gezeter will ich mir nicht mehr antun. Besonders nicht für jemanden, welcher eine einfache Parkgelegenheit braucht und den ich niemals mehr in meinem Leben wiedersehen werde. Verstehen Sie?«

Weshalb irgendjemanden noch mit Samthandschuhen anfassen? In ihrem Fall war dies nicht eben oft geschehen. Eher noch bewusst getreten worden war sie. Neidzerfressene Personen liebten es, durch kränkende Meldungen andere zu verletzen, zu unterdrücken, zu denunzieren.

Eine ihr Gänsehaut bescherende Erkenntnis blitzte in des schönen Mannes Antlitz auf und half ihr, die entsetzlichen Eindrücke der Vergangenheit und Gegenwart zur Seite zu drängen und sich die Frage zu stellen, was genau in dessen hübschem Köpfchen vorging.

»Vielen Dank.« Zögerlich, ja nahezu andächtig, jedoch zu keiner Zeit unterwürfig nahm er die Münzen an sich. »Sobald es mir möglich ist, gebe ich Ihnen das Geld zurück. Versprochen.«

Stolz ohne Überheblichkeit. Dankbarkeit ohne Falschheit. Verzweiflung ohne brachialen Hass.

Im Gegensatz zu ihr hatte dieser Mann sich noch ein Mindestmaß an Menschlichkeit behalten können …

»Ist schon in Ordnung«, meinte sie salopp. Es gelang ihr partout nicht, ein schmales Lächeln zu unterbinden, wofür sie sich wesentlich mehr hasste. »Aber jetzt gehen Sie lieber, ansonsten kommen Sie wirklich zu spät.«

»Ja, vielen Dank.« Seine Nervosität fachte hoch. Flott drehte er sich um, hechtete los –

Und wäre beinahe in Lavandas Chef gelaufen.

Der Schönling presste ein überraschtes und dadurch mindestens eine Oktave höheres »Verzeihung« hervor.

Lavanda musste sich eingestehen, seine wohlklingende Stimmlage hörte sich selbst in dieser witzigen Situation toll an.

»Nicht so eilig, junger Mann«, intonierte ihr großgewachsener Chef, dessen kecker Kurzhaarschnitt sich seit drei Jahren gänzlich silbern präsentierte. »Ansonsten könnten Sie das Glück Ihres Lebens übersehen.«

Innerlich schnitt sie eine Grimasse.

Es war typisch. Nicht ein einziges Mal konnte sich dieser neunmalkluge Mensch seine Pseudo-Weisheits-Sprüche verkneifen.

Bemerkte dieser Depp nicht, dass solche Äußerungen zumeist nervten und manch eine Person überdies verletzten?

Wie sie selbst? Oder womöglich sogar den Attraktivling?

Herr Huber wusste nichts über das Schicksal seines Gegenübers, dementsprechend zurückhaltend sollte er – und die restliche rotzfreche, hinterfotzige Gesellschaft – sich geben!

»Mir kann Derartiges nie passieren«, erwiderte der Parkplatzsuchende sogleich. Eine beträchtliche Ladung Sarkasmus gepaart mit Verbitterung schwang in seinem Tonfall mit. »Glück existiert nicht. Genauso wenig wie Götter oder wahre Liebe.«

Irgendwie konnte sich Lavanda des Eindrucks nicht erwehren, dass Feschak diese Äußerung gar nicht hatte tätigen wollen – was sie tief in ihrem Innersten berührte.

Die hochkriechende Scham, die Wut auf sich selbst, die Versagensgefühle - sie kannte den Emotionstsunami zu gut, der in solchen Momenten losgetreten wurde.

Obwohl Feschak ihr allmählich leidzutun begann, war sie dankbar für diesen ungewollten Ausrutscher seinerseits, brachte er doch tiefer liegende Auffassungen zutage und befeuerten diese Vermutungen. Vermutungen über unschöne Lebenserfahrungen, Schicksalsschläge oder einschneidende Erlebnisse.

»Na, na. Nicht so negativ«, gab Herr Huber grinsend und auf diese ihr allzu bekannte überheblich anhörende Weise zurück. »Das Leben ist schwer genug, da muss man es sich nicht noch selbst schwerer machen.«

Aber ansonsten ging es diesem Tölpel gut, oder?

Ernsthaft!

Manchmal musste Lavanda sich wirklich fragen, ob der Großteil der Bevölkerung das Glück gepachtet hatte. Wie sonst waren derartige hirnverbrannte Meldungen zu erklären?

»Man braucht es sich gar nicht selbst schwerzumachen«, entgegnete Attraktivling trocken. »Dafür gibt es Mitmenschen. Diese schaffen solche Kunststücke mit Leichtigkeit. Ein gutes Beispiel stellen Freunde oder Familienmitglieder dar: Man glaubt, man könne sich vertrauen und gegenseitig helfen. Stattdessen sitzen die lieben Bekannten dann in der Hängematte, währenddessen du ihnen den verdammten Rasen mähst.«

Ihr Chef lachte.

Und sie?

Für sie war diese Aussage urkomisch wie erfrischend ehrlich zugleich. Ein Genuss – und obendrein eine regelrechte Befreiung für ihre Seele, weshalb sie sich erst gar nicht bemühte, ihre exorbitante Freude niederzuhalten, und dem sich ihr zuwendenden Parkplatzsuchenden ein breites Lächeln zuwarf.

Ebendiese äußerst selten zum Vorschein tretende Freude ihrerseits schien den Mann irgendwie zu erschrecken … oder bildete sie sich dies ein?

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stolperte Attraktivling aus dem Büro.

Damit war ihre mentale Frage beantwortet.

Typisch, dachte sie. Wozu habe ich diesen Drecksack in Schutz genommen?

Bislang waren sämtliche Männer zur Seite gewichen, alsbald sie diese angelächelt hatte. Einer dieser elendigen Drecksäcke war sogar vom Trottoir auf die Straße gesprungen!

Nein, es war keine Einbildung gewesen. Nein, sie reagierte nicht über. Nein, sie war nicht schizophren oder litt an einer bipolaren Störung oder anderen psychischen Beeinträchtigungen.

Man nahm andauernd Abstand von ihr.

Weil sie nie genügte. Weil irgendetwas an ihr einen jeden Menschen – und insbesondere Männer – verscheuchte. Weil sie deshalb seit jeher an Einsamkeit und Alleinsein litt.

Darum wurde ihr die Idee mit dem Escortservice und dem darauffolgenden letzten Vollbad zunehmend attraktiver.

Lavanda

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