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Kapitel II - Kasia

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Dunkel ist es in meiner Wohnung. Heute lasse ich die Dunkelheit regieren, wenngleich ich es sonst nicht leiden kann, nicht richtig sehen zu können. Aber heute ist alles anders. Ich muss nicht einmal den Drang unterdrücken, Licht zu machen, er ist nicht da. Mein Handy hört in meiner Hand nicht auf zu vibrieren. Hayley muss immer wieder die Wahlwiederholung drücken, nachdem ich sie vorhin einfach weggedrückt habe.

Seit zehn Minuten lehne ich jetzt schon an meiner Wohnungstür, die Tränen sind getrocknet, mein Hals ist zum Zerreißen rau.

Schnaufen stoße ich mich von der Tür ab, gehe rüber ins Wohnzimmer, schmeiße meine braune Ledertasche auf den Sessel in der Ecke am Fenster und gehe weiter in mein angrenzendes Schlafzimmer. Mit routinierten Bewegungen entkleide ich mich vollständig, tapse nackt in das Badezimmer auf der anderen Seite der Wohnung. Wie abwesend lasse ich mir ein heißes Bad ein, der Spiegel beschlägt fast sofort. Vielleicht wäre eine kalte Dusche besser? Um mich wieder zu fassen?

Dieser eine Satz in dem Schreiben hat mein Leben völlig aus den Fugen gerissen. Erst, als ich die Zeile gelesen habe, habe ich realisiert, was auf mich zukommt. Habe erst vorhin begriffen, wie schwer nun die Realität, welches Gewicht der Wahrheit auf mir liegt. Schon wieder.

Heute kann ich nichts mehr unternehmen. Heute kann ich niemanden mehr anrufen. Ich WILL heute niemanden mehr anrufen.

Erneut vibriert mein Handy, ich höre es bis ins Badezimmer. Kurz darauf ertönt der Rufton meines Festnetzanschlusses – der Anrufbeantworter wird sich darum kümmern.

„Hier ist Kasia Myers, ich bin nicht zu erreichen, hinterlass eine Nachricht, vielleicht melde ich mich“, höre ich meine Stimme. Danach ein Piepen.

„Kasia, verflucht noch eins! Geh an dein verschissenes Telefon! Wir müssen darüber reden! Es bringt uns gar nichts, wenn du dich jetzt in einem Schneckenhaus versteckst! Falls man das Loch, was du Wohnung nennst, so sehen will.“ Ja, meine beste Freundin gibt nicht auf.

Bei ihren Worten muss ich schmunzeln, denn meine Wohnung ist wirklich ein Loch. Zumindest im Vergleich zu New York und was wir dort hatten. Aber Hayley kennt meine Bleibe gar nicht, hat mich noch nie hier besucht.

Und ich bin nicht mehr in New York, ich bin in San Francisco, seit sechs Monaten bereits. Ich bin hier her gekommen mit einem Traum, einer Zukunft. Jetzt scheint alles zerstört. Unweigerlich, ohne, dass ich etwas dagegen unternehmen kann, wird sich alles ändern. Nichts wird sein, wie es war. Nichts wird wieder werden, wie ich es mir wünsche.

Sollte ich vielleicht zurück gehen? In den Schoss der Sicherheit, den mir nur meine Familie und Freunde bieten kann? Soll ich zu meinen Eltern ziehen, um mir von ihnen den nötigen Trost zu holen?

Nein, beim besten Willen nicht. Ich bleibe hier, auch wenn es bedeutet, dass ich allein den Weg bestreiten muss.

Ich werde Mom und Dad anrufen, sobald sie ihre Familienbesuche in Europa beendet haben. Ursprünglich wollte ich sie begleiten, wollte meine schon längst vergessene Heimat besuchen. Als ich fünf geworden bin, sind wir nach New York gezogen. Dank meiner Eltern, die stolz auf ihre Herkunft sind, spreche ich nicht nur fließend Englisch, sondern auch Polnisch und Deutsch. Wer weiß, wann es mir einmal von Nutzen sein wird.

Aber ich bin nicht mitgeflogen, denn ich habe schon einige Tage auf den Brief, der nun schwer in meiner Tasche liegt, gewartet. Dass das Schreiben bereits am Montag in meinem Briefkasten sein würde, hat mich gleichermaßen überrascht und überfordert. Es hat bis heute, Freitag, gedauert, bis ich ihn endlich geöffnet habe. Und auch nur durch Hayley, konnte ich den Brief öffnen.

Den genauen Wortlaut werde ich nie vergessen, so gern ich das auch würde. Jeder Versuch, die Gedanken daran beiseite zu schieben erfordern viel Kraft.

Kopfschüttelnd wickele ich mich in ein großes Badetuch ein, lasse das Wasser aus der Wanne und wische über den Spiegel am Waschbecken. Ich betrachte mich lange, mache drei Schritte nach hinten, um mehr von meinem Körper zusehen. Sanft streiche ich mir über die unbedeckten Tattoos.

Ich bin feige, war ich schon immer, schießt es mir durch den Kopf. Keines meiner Körperbilder würde existieren, wenn ich nicht schon in früher Kindheit Entspannungsübungen gelernt hätte. Baldrian tut das Übrige. Ohne diese beiden Helfer, hätte ich vermutlich schon nach dem ersten aufgehört. Selbst Hayley weiß nicht, dass ich so ein Angsthase bin.

Bei dem Gedanken an meine beste Freundin, überkommt mich die Scham. Es ist nicht meine Art, sie einfach zu ignorieren. Schnell ziehe ich mir etwas über und greife nach meinem Handy.

„Ich hasse dich!“, ertönt ihre von Tränen erstickte Stimme nach dem ersten Klingeln.

„Ich weiß.“

„Einen Scheiß weiß du, Katarzyna!“, schreit meine beste Freundin. „Du bist meine verdammte beste Freundin und ignorierst mich einfach! Ich dachte, du würdest dich von der verfickten Golden Gate Bridge stürzen!“

„Sei bitte nicht so melodramatisch“, flüstere ich, ernte dafür ein verächtliches Schnauben. „Ehrlich, Hayls, ich habe dich doch nicht aus Böswilligkeit ignoriert. Ich musste doch selbst erst alles schlucken. Man bekommt doch so eine Nachricht nicht jeden Tag, es gibt kein Handbuch, wie man richtig reagiert.“ Langsam wird Hayleys Schnauben zu einer gleichmäßigen Atmung. Mir ist bewusst, dass es ihr ebenso schwer fällt, wie mir, doch wir müssen Ruhe bewahren. So gut es geht. Auch wenn es nicht nur mich betrifft, aber ich kann mir nicht auch noch Gedanken um ihren seelischen Zustand machen. Es soll nicht fies sein, aber es ist, wie es ist. Ich bin krank, ich brauche sie funktionierend.

„Wann rufst du in der Klinik an?“, will meine Freundin nach ein paar schweigsamen Minuten wissen.

„Gleich morgen, falls samstags das Büro besetzt ist. Ansonsten Montag“, versichere ich.

„Du rufst doch wirklich an?“ Ich muss einen lauten Seufzer unterdrücken. „Kasia, ich meine es ernst. Bitte ruf wirklich in der Klinik an“, fleht sie leise. „Soll ich zu dir kommen? Dann kann ich dich begleiten. In ein paar Stunden wäre ich bei dir.“

„Rede doch nicht so einen Unsinn“, unterbreche ich lächelnd. „Die Prüfungen stehen vor der Tür, dann kommt doch auch bald das große Thanksgiving Treffen deiner Familie, von Weihnachten fange ich gar nicht erst an. Du kannst jetzt unmöglich nach San Francisco kommen.“

„Du weißt schon, dass mir das alles nichts bedeutet, wenn es dir nicht gut geht, oder? Außerdem würde es wahrscheinlich kaum auffallen.“ Ich höre ihre tief sitzende Enttäuschung über ihre Eltern. Das Verhältnis war nicht immer das Beste, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass ihre Eltern es nicht böse meinen. Hayley ist im Luxus aufgewachsen, ihr Vater ist ein schwer arbeitender Mann, ihre Mutter weiß, wie man große Feste veranstaltet und wie man das Geld mit beiden Händen in die Wirtschaft trägt. Hayley, vom Wesen her eher sparsam und mit wenig zufrieden, kann dem Lebensstil nur wenig abgewinnen. Natürlich, keiner beschwert sich, wenn er sich alles leisten kann, aber Hayley braucht den ganzen Prunk und die Aufmerksamkeit nicht.

Obwohl aufgewachsen zwischen Geld und keine Sorgen haben müssen, sind wir doch auf dem Boden geblieben – denken wir.

„Lass uns bei unserem Plan bleiben“, bitte ich. „Du schreibst deine Prüfungen, ich bereite mein erstes Semester vor, du feierst Thanksgiving und Weihnachten zu Hause, Sylvester geht dann die Party bei uns ab. Wir beide bei knapp zwanzig Grad auf der Golden Gate Bridge, wo wir uns das größte Feuerwerk der Westküste anschauen werden.“

Dieses Vorhaben steht, seit dem ersten Tag in der Abschlussklasse. Damals hatten wir beide noch keine Sorgen. Zumindest keine ernstzunehmenden. Irgendwann haben wir uns dann von einander entfernt, fanden uns wieder und Hayls ging pünktlich zu Semesterbeginn an die renommierteste Schule für junge Musiker in New York, steht vor ihren ersten Prüfungen. Ich, meinerseits, habe mich verstecke. Vor Hayley, vor der Welt und vor ihm. Nein, in diese Richtung dürfen meine Gedanken jetzt auf keinen Fall abdriften. Ich muss im Hier und Jetzt bleiben, darf mich nicht ablenken lassen.

„Ok, ist gut“, holt Hayley mich aus meinen Erinnerungen zurück. „Fürs erste belassen wir es dabei. Sollte aber irgendetwas sein, steige ich ins nächste Flugzeug und komme zu dir. Du musst da nicht allein durch. Ich erwarte, dass du mich anrufst, wenn sich etwas ändert oder wenn du neue Informationen hats oder wenn du mich einfach brauchst. Ich bin bei dir. Ich bin dein Leben, du meines. Handeln wir danach.“

„Ich weiß, Hayls“, flüstere ich. Meine Stimme bricht, ich stehe kurz vor einem neuerlichen Zusammenbruch. Ein dicker Kloß bildet sich in meiner Kehle, lässt mich nur schwer schlucken. „Hayley?“ Ein leises Grunzen ist die Antwort. Auch meiner Freundin kämpft mit ihren Gefühlen. „Ich habe Angst, Hayley. Unendliche Angst.“ Erneut laufen mir die Tränen über meine Wangen. Schnell wische ich sie so gut es geht wieder weg. Heute habe ich genug für mindestens drei Wochen geweint.

„Ich weiß, Kasia. Ich habe auch Angst“, entgegnet sie mir. „Aber wir schaffen das. Davon lassen wir uns nicht unterkriegen. Hast du ihn schon angerufen?“

„Warum sollte ich?“, gifte ich Hayley an. „Es geht ihn nun wirklich nichts an. Ich brauche seine falsche Freundlichkeit und sein Mitleid nicht.“ Entschieden stampfe ich mit dem Fuß auf. „Bitte erwähne ihn nicht mehr.“

„In Ordnung“, wispert Hayls. Ich bin am Ende meiner Kräfte.

„Du solltest endlich schlafen gehen“, bestimme ich sanft. In New York muss es weit nach Mitternacht sein und meine beste Freundin muss morgen ihren Freund im Tattoo Studio unterstützen. So verbringt sie ihre Wochenenden, seit sie und Logan ein Paar sind. Hayley lenkt ein, wir wünschen uns eine Gute Nacht und legen auf.

Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen, starre an die weiße, eher graue Decke. In meiner Wohnung fehlt es noch an einigen Dingen, die es zu einem gemütlichen Heim machen. Jetzt frage ich mich, ob eine Veränderung überhaupt noch von Nöten ist.

To Make Your Heart Remember Me

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