Читать книгу Papakind - Isolde Kakoschky - Страница 10
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Die letzten Wochen in der 8. Klasse gingen vorüber. Ehe Franzi es sich versah, war der Sommer da und die Zeugnisausgabe. Es war einerseits nichts Besonderes, aber andererseits eben doch das Ende eines Abschnittes in ihrem Leben und der Beginn von etwas ganz Neuem. Im September würde sie gemeinsam mit Susanne zur Oberschule gehen, um dann in vier Jahren das Abitur abzulegen. Da erfüllte sie schon ein gewisser Stolz.
Aber erst einmal waren Ferien. Und zum allerersten Mal wollte sie in den Ferien arbeiten gehen und ihr eigenes Geld verdienen. Der Vater hatte sie als Urlaubsvertretung für die Telefonistin in seiner Baufirma angemeldet. An jedem Morgen fuhr Franzi nun mit ihm im Dienstwagen in die 20 Kilometer entfernte Stadt und am Nachmittag wieder mit zurück. Die Arbeit bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Fast schon routiniert leitete sie ankommende Gespräche weiter, vermittelte Verbindungen zum Fernamt und gab Auskunft, wenn Besucher kamen. Es machte ihr Spaß und die Kollegen waren nett zu ihr. Das Einzige, was ihr regelmäßig Schauer über den Rücken jagte, waren die schweren Baufahrzeuge, die vor dem Fenster vorbei und auf den Hof fuhren. Sie war schon fasziniert von der Technik, doch immer wieder waren dann die Bilder in ihrem Kopf, als der Unfall mit dem Bus geschah. So ein Bagger konnte genau so gefährlich sein, und ein LKW auch. Doch sie wollte nicht als Memme gelten und redete mit keinem über ihre Ängste.
Nach zwei Wochen nahm sie stolz ihren ersten Lohn in Empfang.
»Na dann, kauf dir was Schönes. Oder was möchtest du damit machen?«, fragte sie die nette Kollegin in der Buchhaltung.
»Ich weiß noch nicht genau«, dachte Franzi nach.
»Vielleicht spare ich was. Aber erst mal lade ich meinen kleinen Bruder jeden Tag zum Baden und zum Eis essen ein.« Das Wetter war hochsommerlich warm und wie dafür gemacht.
Ein paar Tage später kamen die Geschwister am frühen Abend aus dem Schwimmbad zurück. An der Zufahrt zu ihrer Straße stand ein ungewöhnliches Auto.
»Das ist ein Franzose«, vermutete Franziska mit Blick auf das ausländische Kennzeichen.
»Ja, das ist ein Citroen«, verkündete Alexander, der inzwischen um das aparte Gefährt drum herum geschlichen war. Hier, wo nur Trabant und Wartburg das Straßenbild beherrschten und schon ein Skoda aus der Reihe fiel, war dieser große französische Wagen eine Sensation.
»Franziska, Alexander!« In dem Haus, vor dem sie gerade standen, hatte sich unbemerkt ein Fenster geöffnet. »Lauft rasch heim, ihr habt Besuch, aus Frankreich, das ist das Auto!«
Die Geschwister sahen sich an. Was hatten sie mit Frankreich zu tun? Wer kam sie besuchen? Nun rannten sie die letzten Meter und stürzten außer Atem in den Korridor. Doch niemand war da. Plötzlich hörten sie fremde Stimmen, drüben bei der Oma, und lautes Lachen. Sie warfen ihre Badesachen in die nächste Ecke und stürmten zur Oma in die Stube.
Ein schlanker, groß gewachsener Mann und eine kleine, zierliche Frau erhoben sich, als die Kinder eintraten.
»Ah, ihr die Kinder von meine kleine Franzchen!« Der Mann strahlte sie an. »Gute Tag, ich bin Pierre und das meine liebe Frau Charlotte.«
Verwundert sahen Franzi und Alex von einem zum anderen. Die Oma wischte sich eine Träne aus den Augen und begann zu erklären.
»Vor über 25 Jahren, im Krieg, da war Pierre hier als Zwangsarbeiter. Er war noch ein halbes Kind und musste im Werk bei eurem Opa hart arbeiten.« Die Oma wischte sich wieder über die Augen. Die Erinnerung an die Zeit mit ihrem Mann machte sie traurig.
»Euer Opa Fritz war guter Mann«, sprach nun Pierre in gebrochenem Deutsch weiter. »Er mich immer Sonntag bestellt für Holz hacken und Oma Klara hat gekocht und ich jede Woche satt. Sie mich lieben wie eine Kind und kleine Franz für mich wie eine Bruder. Heute ich hier und Opa Fritz lebt nicht mehr.« Nun traten auch bei Pierre Tränen in die Augen. Seine Frau strich ihm über den Arm. Sie hatte kein Wort von dem verstanden, was ihr Mann gerade erzählt hatte, aber sie kannte die Geschichte aus seinen vielen Berichten.
Jetzt ergänzte Franz aus seinen Erinnerungen, denn er sah, dass die Kinder noch viele Fragen hatten. »Mein Vater war damals Meister in der kriegswichtigen Produktion. Er hatte daher auch ein paar Sonderrechte, wie einen Zwangsarbeiter für private Arbeiten zu bekommen. Er konnte nicht ansehen, wie Pierre, der damals kaum älter war als du heute, Franzi, immer mehr abmagerte. Er hatte einfach Angst um den Jungen, der so wenig für den
Krieg konnte wie er selber. So half er im Rahmen seiner Möglichkeiten auch anderen. Aber Pierre, das war wirklich wie ein Sohn für ihn. Ich hätte nicht gedacht, dass ich Pierre noch einmal wieder sehe!« Eine Träne der Rührung bahnte sich den Weg auch über seine Wange.
»Ich hole uns mal einen Schnaps, darauf muss doch angestoßen werden«, unterbrach Gudrun die tränenreichen Erinnerungen.
Nach altem Familienrezept wurde jedes Jahr Johannisbeerlikör selbst angesetzt und zu besonderen Ereignissen hervor geholt. Das heute war auf jeden Fall ein ganz besonderes Ereignis! Die Gläser wurden gefüllt.
»Und wir?«, wollte Alex vom Vater wissen.
»Na ja, Franzi kann einen ganz Kleinen zum Anstoßen bekommen, ausnahmsweise. Du kriegst Saft.«
Alex murrte ein bisschen, aber dann lachte er schon wieder, als sich alle im französischen »Prost« versuchten.
»Au votre santé!« Pierre erhob sein Glas. » Avodsantee!« stimmte die ganze Familie ein.
So saßen sie den ganzen Abend und redeten über alte Zeiten und Franzi staunte, wie gut Pierre noch deutsch sprechen konnte, wo doch der Krieg schon so lange vorbei war.
»Und morgen wir machen eine Ausflug in die Harz«, verkündete Pierre zum Abschied. »Ich doch ein Tourist, muss machen eine Tour!«
Am nächsten Morgen konnten Franzi und Alex gar nicht schnell genug in die Sachen kommen. Pierre und Charlotte hatten in einem Hotel in der Stadt Quartier genommen. Pierre hatte es als das Unverfänglichste angesehen, einfach als Tourist hier einzureisen und sich die kleine Stadt am Rande des Harz als Ausgangspunkt zu wählen.
Es wurde eine schöne Fahrt durch den Wald und über die Berge, sie besuchten Schlösser und Burgen, besichtigten Museen und bestiegen einen Aussichtsturm. Der Vater hatte am Abend noch mit einem Kollegen telefoniert und ihn gebeten, ihn zu vertreten. Bei der Mutter war das nicht mehr möglich gewesen. Sie würde erst am nächsten Tag dabei sein können, dann wollten sie eine Tropfsteinhöhle und den Stausee anschauen. Franzi staunte immer wieder über die Größe des Autos, für das 6 Insassen noch kein Problem zu sein schienen.
»Monsieur Brunot«, sprach Franzi Pierre an. Sie hatte extra vorher die französische Aussprache geübt. »Sie sind doch fast so was wie mein Onkel, kann ich Onkel Pierre sagen?«
Pierre übersetzte seiner Frau Franzis Bitte. Charlotte nickte: »Oui! C´est tres bien!« Pierre und Charlotte umarmten die Kinder. Es war so egal, ob man wirklich verwandt war oder nicht, das Gefühl füreinander zählte. Hier schloss sich der Kreis einer tiefen Freundschaft.
So tränenreich wie die Begrüßung gewesen war, so wurde auch der Abschied. Nach einer gemeinsam verbrachten Woche aßen sie am letzten Abend gemeinsam im örtlichen Ratskeller. Ursprünglich sollten Franziska und Alexander gar nicht mit dabei sein. Es war inzwischen später Abend geworden, keine Zeit für Kinder, noch in eine Gaststätte zu gehen.
Doch Franziska hatte gebettelt. »Bitte Vati, nehmt uns mit, wir sind auch ganz lieb und fallen gar nicht auf. Nicht wahr, Alex?« Alexander bestätigte das im Brustton der Überzeugung.
»Lass mitkommen die Kinder, Franz«, mischte sich nun Pierre ein, so dass der Vater gar nicht anders konnte als ja zu sagen.
»Merci, merci!« Franzi wollte gar nicht aufhören, sich zu bedanken.
Doch nach dem Essen hieß es endgültig, Abschied zu nehmen.
»Ich Tourist, muss noch besuchen Berlin eine Tag!« Pierre brachte mit seiner heiteren Art selbst unter Tränen alle zum Lachen.
»Mein kleiner Pierre!« Die Oma umarmte ihn zum Abschied, was die Worte angesichts seiner Größe eher drollig wirken ließ.
»Wann sehen wir uns wieder?« Diese Frage stand unausgesprochen im Raum. Die politischen Verhältnisse waren nicht dazu angetan, auf einen Gegenbesuch zu hoffen.
»Nicht weinen, wir uns schreiben jetzt ganz oft!« Pierre drückte Franzi an sich.
Und Franzi versprach: »Onkel Pierre, ich lerne die französische Sprache und dann schreibe ich dir auch ganz oft!«
Nach diesen Tagen gab es nichts, was in den letzten Ferientagen noch hätte aufregend sein können. Franziska wollte unbedingt noch einmal die Großeltern in Halle besuchen und durfte allein mit dem Bus fahren. Es kostete sie eine große Überwindung, dort allein einzusteigen. Und auch wenn sie sich längst in Halle gut auskannte, war es für sie eine Herausforderung, allein mit der Straßenbahn zu fahren. Dafür spürte sie ihre Ängste noch viel zu deutlich. Aber sollte sie sich ewig als Kind behandeln lassen? Sie wollte es sich und den anderen zeigen, dass sie erwachsen war.
Als sie bei den Großeltern ankam, traf sie die Oma allein an und berichtete erst einmal lang und breit von den Ereignissen der letzten Tage. Bis ihr etwas auffiel.
»Wo ist Opa Paul?«, wollte sie wissen.
Oma Hilde blickte traurig. »Der sagt mir schon lange nicht mehr, wohin er geht.«
Franzi fragte nicht weiter, sie wollte nicht, dass sich die Oma noch mehr ärgerte.
»Guck mal, ich habe dir was mitgebracht!«, holte sie ein sorgfältig gerolltes Blatt Papier heraus. »Das habe ich gemalt!«
»Oh Franzi, das ist aber schön!« Die Oma betrachtete das Bild, welches ein tanzendes Paar in Volkstracht zeigte. Franzi hatte es im Zeichenkurs mit bunter Kreide gemalt.
»Weißt du was, das lasse ich einrahmen und hänge es in der Stube auf! Gleich nachher fahren wir in die Stadt zum Glaser. Und bei der Gelegenheit können wir noch ein Eis essen. Da machen wir zwei Hübschen uns mal einen schönen Tag.«
Franzi freute sich. Sonst war es immer eher der Opa gewesen, der mit ihr was unternahm. Heute zog sie mit der Oma los.
Die Straßenbahn brachte die beiden ins Stadtzentrum, wo sich in der Fußgängerzone die Glaserei befand. Das Schaufenster war übervoll mit diversen Kunstdrucken dekoriert.
»Wir möchten dieses Bild rahmen lassen«, sprach die Oma ihren Wunsch aus.
»Oh, ein schönes Bild!« Die Dame fuhr sacht mit dem Finger drüber. »Ein Original«, stellte sie mit Kennermine fest.
»Ja, von meiner Enkeltochter!« Die Oma legte den Arm um Franzis Schultern.
»Du bist ja eine richtige kleine Künstlerin!« Das Lob ließ Franzi strahlen.
Am Abend war der Opa immer noch nicht wieder da.
»Ärgere dich nicht, Kind«, tröstete die Oma ihre Enkeltochter. »Er ist eben so. Er meint es nicht böse, aber er kann nicht aus seiner Haut. Weil wir dann oft gestritten haben, haben wir jetzt vereinbart, dass er zwei Tage in der Woche sozusagen von mir frei hat.« Und mit leichtem Sarkasmus in der Stimme fügte sie hinzu: »Er nimmt sie immer im Zusammenhang.«
Franzi schluckte. Und dann dachte sie an das Wort, was Gabi letztes Jahr gebraucht hatte: Schwerenöter! Hatte der Opa doch noch eine Freundin, obwohl er mit Oma verheiratet war?
Als am nächsten Abend der Opa endlich kam, konnte Franziska ihm nicht so unvoreingenommen entgegen laufen, wie sonst. Während sie ihn umarmte, glaubte sie ein fremdes Parfum an ihm zu riechen. Doch da die Oma in keiner Weise darauf reagierte, musste sie sich wohl geirrt haben.
Und als sie am nächsten Tag wieder zurück fuhr, waren diese Fragen schon ganz weit weg und viel wichtigere Dinge drängten sich in ihre Gedanken.