Читать книгу Papakind - Isolde Kakoschky - Страница 8

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»Gudrun, dein Vater hat mich heute im Büro angerufen.« Franz wusste, dass es kein leichtes Gespräch mit seiner Frau werden würde. »Helene ist gestorben.«

»Dann sind wir sie jetzt los«, konstatierte Gudrun.

»Ein bisschen Mitleid stünde dir gut«, entgegnete ihr Mann.

»Mitleid? Nein, sie hat mir zu viel genommen.«

»Aber sie hat dir doch auch viel gegeben«, widersprach Franz.

»Egal, ich will nicht mehr drüber reden, tot ist tot.«

In diesem Moment trat Franziska in die Stube.

»Wer ist tot?«, wollte sie wissen.

»Ach, kennst du nicht, eine entfernte Bekannte.« So, wie es die Mutter sagte, blieb ihr die nächste Frage im Halse stecken. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass es nur diese fremde Frau, diese Helene sein konnte. Aber was hatten ihre Eltern damit zu tun? Oder irrte sie sich? War es doch nicht Helene gewesen, über die Vati und Mutti gesprochen hatten?

Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht.

»Hast du alle Sachen fertig?«, wollte die Mutter nun wissen. Der Sommer ging dem Ende zu.

Nachdem die Kinder aus dem Ferienlager zurück gekehrt waren, sollte es nun die letzten 10 Ferientage mit den Eltern ins Erzgebirge gehen und direkt nach der Rückkehr war am nächsten Tag wieder Schule. Es mussten also alle Sachen für die Reise und für die Schule fertig sein. Das wollte Franzi auch der Mutti sagen, als sie ins Zimmer kam.

»Ja, alles fertig, ich habe auch Alex noch geholfen, er hat auch alles komplett.«

»Gut, dann wascht euch und ab ins Bett, morgen geht es sehr früh raus, bis nach Seiffen ist ein langer Weg.«

Am nächsten Morgen brachte ein großer Reisebus die Urlauber in das Städtchen im Erzgebirge. Das gemütliche Ferienheim kannten sie schon vom vorigen Jahr und der Vater hatte bereits geplant, wann sie wohin wandern wollten. Obwohl es nicht mehr so warm war, hielt sich das Wetter doch ganz gut und die Pläne wurden nicht von Regengüssen durchkreuzt.

Franziska genoss das Zusammensein mit ihren Eltern und dem Bruder und alles, was ihr gerade noch als wichtige Frage erschienen war, trat in den Hintergrund. Und auch über das, was in der Schule alles auf sie zukommen würde, wollte sie sich jetzt noch keine Gedanken machen.

Viel zu schnell war dann die schöne Zeit vorbei, am späten Abend kam die Familie wieder zu Hause an und am nächsten Morgen begann auch schon das neue Schuljahr.

Zum ersten Mal liefen die Geschwister nur noch eine kurze Strecke gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege.

»Verena!« »Franziska!« Die Freundinnen fielen sich in die Arme. Nur einmal hatten sie sich während der Ferien gesehen. Besuche bei den Großeltern, Ferienlager, Urlaub mit den Eltern, und das immer zu verschiedenen Zeiten, da blieb kein Raum für Treffen. Doch jetzt standen sie endlich wieder gemeinsam vor der Schule, dem Gebäude, das nun für die nächsten Jahre ihr Domizil werden würde.

»Kennst du schon welche von den neuen Mitschülern?«, fragte Franzi ihre Freundin.

»Ja, ich bin ja schon zwei Wochen wieder in der Stadt und habe mal rumgefragt. Es gibt da ein paar nette Mädchen, mit einer habe ich mich schon etwas angefreundet.«

Die Worte hinterließen bei Franzi ein ungutes Gefühl in der Herzgegend. Doch fürs Erste ließ sie sich nichts anmerken. Jetzt mussten sie erst mal sehen, wo denn nun der Klassenraum sein würde. Es war ja alles neu für sie. Die Klassen stellten sich auf dem Hof auf und der Direktor versuchte, das Gemurmel mit seiner kräftigen Stimme zu durchdringen und die neuen Mitschüler zu begrüßen.

»Oh je, sind das aber viele!« Franziska erschrak über die ungewohnte Menge an Kindern, die sich in den Klassenraum drängten. Es war nicht leicht für die neuen Schüler, allesamt Mädchen, sich noch einen Platz an einem der Tische zu sichern.

Von der Tür aus beobachtete Herr Kollberg das Treiben, ehe er sie hinter sich ins Schloss zog.

»So, ich glaube, nun sollte mal langsam Ruhe einkehren!«, ermahnte er seine Schüler.

»Guten Morgen erst einmal! Für alle, die mich noch nicht kennen, ich bin Herr Kollberg, euer Klassenlehrer. Ich weiß, dass es jetzt nicht leicht sein wird, ihr müsst euch erst kennen lernen. Aber ich bin sicher, in ein paar Wochen sieht das schon ganz anders aus. Am besten wird sein, ihr stellt euch alle mal einander vor.«

Der Erste stand auf. »Ich bin Lutz und ich bin hier der Klassensprecher.« In einer anderen Ecke des Raumes sprang der Nächste hoch: »Und ich bin Karli, und ich bin hier der Klassenkasper!« Alles lachte.

»So, nun haben wir die Wichtigsten schon beieinander«, bremste Herr Kollberg die beginnende Unruhe. Nach und nach stellten sich nun alle Schüler einander vor. Eine der letzten war Franziska.

»Ich bin Franzi«, sagte sie leise. »Und was bist du noch?« warf Herr Kollberg die Frage ein. Er hatte wohl von ihrer alten Schule die Information bekommen, dass sie dort im Schülerrat war.

»Ja, sie ist klein, das sieht man doch!«, war Karlis Stimme zu vernehmen. Wieder lachten alle und Franzi wurde rot.

»Setz dich, hör nicht auf ihn. Wir haben noch mehr Zeit zum Kennenlernen«, rettete Herr Kollberg die Situation und Franzi war froh, dass es bald darauf zur Pause klingelte.

Der Rest des Tages war angefüllt mit normalen Unterrichtsstunden. Es gab viele neue Lehrer, aber auch ein paar aus der alten Schule waren mit übernommen worden. So mussten sich auch die anderen Schüler an Neues gewöhnen und Franziska fühlte sich nicht ganz so allein.

Zu Hause traf sie mit ihrem Bruder zusammen und tauschte mit ihm die Erfahrungen aus. Doch Alexander schien den Schulwechsel viel leichter zu verkraften als sie selber. Er zählte gleich ein paar Freunde auf, mit denen er schon mal gemeinsam im Kindergarten gewesen war und die er nun wieder getroffen hatte. Sie beneidete Alex um sein frohes, lockeres Wesen.

Am nächsten Tag wollte sich Franziska am Nachmittag endlich wieder mit Verena treffen. Sie wollte ihr doch noch so viel erzählen, worüber sie sich seit dem Besuch in Halle den Kopf zerbrach. Aber Verena hatte keine Zeit. Es verging noch ein Tag und noch einer. Einmal musste Verena der Mutter helfen, einmal mit ihrer Schwester üben, einmal ihren Bruder abholen, sie hatte nie Zeit.

Vielleicht will Verena nur nicht den weiten Weg zu mir machen, überlegte Franziska. So stieg sie in der nächsten Woche einfach auf ihr Fahrrad und fuhr zu ihrer Freundin. Doch noch ehe sie ankam, verschlug es ihr schon die Sprache. Da saß doch ihre Reni mit dem anderen Mädchen aus ihrer Klasse Arm in Arm auf der Treppe vor dem Haus. Sie schwatzen und kicherten und schienen Franzi gar nicht zu bemerken. Franziska spürte den Kloß in ihrem Hals und drehte das Fahrrad um. Nein, hier wollte sie nicht bleiben! Verena hatte eine neue Freundin und hatte sie angelogen. Die Enttäuschung saß tief und schmerzte.

Am nächsten Morgen wartete Franziska an der Hausecke vor der Schule bis Maria vorbei kam.

Maria war ein Nachbarsmädchen. Irgendwie wollte keiner mit ihr wirklich befreundet sein. Sie hatte ein paar Pfunde zu viel, konnte bei keinem Spiel richtig mithalten und immer musste man auf sie warten. Doch heute war das genau passend. Verena sah schon in die Richtung, aus der Franzi kommen musste, als sie Hand in Hand mit Maria auf den Schulhof kam. Franzi winkte Verena nur von Weitem zu und lief mit Maria in den Klassenraum. Es war eine bittere Genugtuung, doch ohne diese kleine Rache wäre Franziska mit dem Verrat der Freundin nicht klar gekommen.

Deshalb willigte sie auch am Nachmittag ein, als Maria sie fragte, ob sie mit zu Regina kommen wollte. Regina war eher eine Einzelgängerin. Ab und zu erkaufte sie sich ein wenig Zuwendung, wenn sie Schokolade mit in die Schule brachte, die ihre Oma aus dem Westen Deutschlands geschickt hatte. Diesmal hatte die Westoma ihr einen Kassettenrecorder geschenkt. Damit war sie die Einzige in der Klasse, die so was hatte und bei Franzi regte sich die Neugier. Außer Franzi und Maria war auch noch Heidi mit zu Regina gekommen. Die Mädchen waren allein in der Wohnung und tanzten ausgelassen durch das Zimmer. Lautstark sangen sie mit: »Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit…«

In dem Moment hörten sie Geräusche im Flur. Blitzschnell drückte Regina die Stopp-Taste, doch es war schon zu spät. Das »…hojahojaho…« blieb den Mädchen im Halse stecken, als der Mann in der Tür stand. Er füllte den Rahmen in voller Höhe aus, während Regina förmlich in sich zusammen sank.

»Darf ich erfahren, was das ist!«, dröhnte seine Stimme durch den Raum. »Ich habe dir verboten, andere Gören mit her zu bringen! Und dann noch das Gedudel! Gib die Kiste her!«

»Nein!«, bettelte Regina, »den habe ich von meiner Oma.«

»Ist mir egal! Wenn die Alte dir was schenkt, wollen deine Geschwister auch was davon haben!« Er riss dem Mädchen den Recorder aus der Hand und stellte ihn hinter sich ab.

Die drei Freundinnen hatten wie gebannt auf die Szene gestarrt. In Franzi kroch Angst hoch.

»So, mein Fräulein, dann wollen wir mal miteinander reden.« Er sagte das ganz ruhig, doch Franziska spürte, dass diese Ruhe nichts Gutes zu bedeuten hatte.

»Und ihr geht besser und ich will euch hier nicht wieder sehen!«, richtete er das Wort an die Mädchen. Und zu Regina gewandt: »In deinem Interesse!«

Mit diesen Worten öffnete er seinen Gürtel und zog ihn aus den Schlaufen der Hose. Der Mann schloss hinter Heidi, Maria und Franzi die Zimmertür. Im Flur hörten sie noch, wie Regina wimmerte.

»Bitte nicht, nicht mit dem Gürtel.«

Doch im nächsten Augenblick folgte schon ein grauenhaftes Klaschen und das laute Weinen von Regina.

Die Mädchen stürzten ins Treppenhaus und rannten, bis sie auf der Straße waren. Außer Atem setzten sie sich auf den Bordstein.

»Wie kann er nur sein Kind so verhauen?« fand Franzi langsam wieder Worte.

»Na, weil sie nicht sein Kind ist«, klärte Heidi die anderen auf. »Der Kerl ist ihr Stiefvater.«

»Aber ihre Mutti muss doch was sagen, sie ist doch ihr Kind?«, stellte sich Franzi die Frage.

»Vielleicht weiß sie es ja gar nicht«, mutmaßte Maria.

In dem Moment waren alle drei froh, liebevolle Eltern zu haben.

Am Abend lag Franziska im Bett und dachte über das Erlebte nach. Waren alle Stiefväter so? Im Märchen gab es meistens böse Stiefmütter. Die waren auch nicht nett. Sie kannte sonst keinen mit einem Stiefvater oder einer Stiefmutter. Im Nebenraum hörte sie das tiefe gleichmäßige Atmen ihres schlafenden kleinen Bruders. Sie lächelte bei dem Gedanken an den lebhaften Jungen, der schon oft etwas angestellt hatte. Hatte der ein Glück, nicht bei Reginas Stiefvater zu leben.

Und sie überlegte, wie man dem Mädchen helfen konnte. In ihrer alten Schule war Franziska im Schülerrat gewesen. Aber damals hatte sie ja noch nichts von Reginas Sorgen gewusst. Jetzt müsste sie wieder gewählt werden, dann könnte sie zum Lehrer gehen, ohne als Petze angesehen zu werden. Frau Breitling hätte gewusst, was zu tun war. Und Herr Kollberg würde es auch wissen.

Schon bald darauf sollten die Schüler bestimmen, wer von ihrer Klasse sie im Schülerrat vertreten sollte. Eine Liste mit Namen wurde aufgestellt, auch Franzi war dabei, und die Diskussion begann. Obwohl sie neu war, hatte Franzi schon bald einige Befürworter auf ihrer Seite. Herr Kollberg ließ die Kinder abstimmen.

»Also, wie ich sehe, sind die meisten für Franziska Zandler«, fasste er das Ergebnis zusammen. Da erhob sich Karli.

»Nee, ich würde die Neue nicht wählen. Wir wissen doch noch gar nicht, wie die beschaffen ist!« Selbst Herr Kollberg musste lachen.

»Na ja, Karl, so unrecht hast du nicht. Aber sieh mal, ein Teil von eurer Klasse kennt die Franziska schon viele Jahre und die haben alle für sie gestimmt. Sie hat das ja schon vorher an ihrer alten Schule gemacht und da sollten wir ihr hier doch auch eine Chance geben. Die meisten deiner Mitschüler sehen das genauso.«

Karl sah seinen Lehrer an und nickte. »Na gut, dann versuchen wir es mit ihr.« Diesmal lachte keiner.

Nun kam so viel Interessantes auf Franziska zu, das ihre Freizeit in Anspruch nahm. Sie ging noch immer zum Zeichenunterricht. Einmal in der Woche war Schwimmen. Zusätzlich zum Unterricht hatte sie noch einen extra Deutschkurs, wo sie kleine Geschichten und Gedichte schrieben und rezitieren übten. Damit wollten sie irgendwann bei Veranstaltungen auftreten. Und dann noch die Arbeit im Schülerrat, da trat die zerbrochene Freundschaft zu Verena immer mehr in den Hintergrund. Nur ab und zu wurde sie traurig bei dem Gedanken. Sie wusste nicht, dass es Verena genauso erging.

Inzwischen war Franziska 13 geworden. »Jetzt bist du ein richtiger Teenager, wie das heutzutage heißt«, hatte der Vati zu ihr gesagt und ihr den ersten BH geschenkt. Seit dem Sommer hatte sie deutlich an Oberweite zugelegt. Sie war zwar immer noch recht klein, aber langsam wurde aus dem Kind ein junges Mädchen.

Wenn ihr Bruder sie einmal nackt sah, ärgerte er sie oft: »Franzi hat Busen!«

Franziska war sauer, aber was sollte sie auch von einem zehnjährigen erwarten! »Und Alex ist ein Blödmann«, gab sie Sticheleien zurück.

Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht stritten. Das gute Geschwisterverhältnis war fürs Erste vorbei. Aber das Schlimmste für Franzi war, dass bei jedem Streit die Mutter für Alex Partei ergriff, selbst wenn sie gar nicht wusste, wie der Streit entstanden war. Und beim Vati konnte sich Franzi nicht ausheulen, weil der gerade über die Woche auf einer entfernten Baustelle als Bauleiter arbeitete und nur am Wochenende heim kam. Dann aber wollte ihn Franzi nicht mit dieser Kinderkacke nerven. Sie kam schon alleine klar. Im schlimmsten Fall war da ja noch Oma Klara, die sich gerne ihrer Enkelin annahm. Dann saß sie bei der Oma in der Stube und erzählte von ihren Erlebnissen oder die Oma berichtete was von früher. Manchmal sahen sie auch Bilder an, von Oma und Vati von früher und je älter Franzi wurde, um so mehr entdeckte sie kleine Ähnlichkeiten zu sich. Es gab Momente, da wollte Franziska schon die Oma fragen, ob sie was von dieser Helene wusste, aber sie traute sich dann doch nicht, es schien ein Tabu in der Familie zu sein.

»Du, Oma, ich muss dir was erzählen«, begann Franzi eines Tages zu berichten. Am Abend zuvor hatten sie mit dem Deutschkurs einen Auftritt vor Frauen zum Frauentag gehabt. Ihre Rezitationen kamen sehr gut an. Und bei Einem kam Franziska besonders gut an.

»Oma, er heißt Heiner und ist eine Klasse über mir. Wir haben immer zusammen geübt. Und gestern hat er mir erst den Stuhl weg gezogen, so dass ich mich daneben gesetzt habe, und dann hat er mir beim Aufstehen geholfen«, fasste Franzi den Abend kurz zusammen. Wie sehr ihr Herz geklopft hatte, als der Junge sie festgehalten hatte, verschwieg sie lieber. Aber die Oma merkte trotzdem, dass da etwas anders war, als wenn die Enkelin sonst von Schulkameraden erzählte. Und mit ein bisschen

Wehmut dachte sie, nun wird das kleine Mädchen schon langsam erwachsen.

Von nun an verbrachte Franziska viel Zeit mit Heiner. Sie waren gemeinsam beim Deutschkurs, gingen zusammen zum Schwimmen, Heiner wartete vor dem Klubhaus, wenn Franzi Zeichenunterricht hatte und selbst auf dem Schulhof sprachen sie immer öfter zusammen, allen albernen Sprüchen der Mitschüler zum Trotz. Seit dem schien sich aber das Band zwischen Franzi und Verena immer mehr zu lösen. Hatten sie sich zwischenzeitlich auch wieder zusammengerauft, den Heiner mochte Verena gar nicht und je öfter sie das deutlich sagte, um so mehr stellte sich Franzi auf Heiners Seite und gegen Verena.

Das Schuljahr ging dem Ende zu, als die Klasse zu einem Ausflug mit dem Bus aufbrechen wollte. Franziska, Maria und Heidi, die alle irgendwie in der Nähe wohnten, saßen zusammen auf einer Bank beim Busbahnhof. Sie waren etwas zu früh da und beobachteten die Busse, die zu den Haltestellen fuhren. Ein Bus fuhr eben los. In dem Moment rannte eine Frau darauf zu. Der Fahrer versuchte noch zu bremsen, doch es war zu spät. Der Bus hatte die Frau überrollt. Sie lag nun unter dem Bus zwischen den Rädern. Blut floss aus einer großen Wunde, die Frau war ohne Besinnung.

Die Mädchen sahen mit aufgerissenen Augen minutenlang auf die Szenerie und wollten kaum glauben, was sie gerade mit angesehen hatten. Mit Notsignal bogen Polizei, Notarzt und Krankenwagen auf dem Platz ein. Dann war es unnatürlich ruhig. Plötzlich durchdrang ein markerschütternder Schrei die lähmende Stille. Franzis Stimme klang so verzerrt und schrill, dass sich sofort alle Augen ihr zuwendeten. Maria und Heidi sahen ihre Mitschülerin erschrocken an. Sie war totenblass, fühlte sich eiskalt an und begann trotz der sommerlichen Wärme fürchterlich zu zittern. Die beiden versuchten, auf Franzi einzureden, doch die registrierte sie gar nicht. Seit dem Schrei hatte sie keinen Ton mehr von sich gegeben.

Eine Menschentraube hatte sich auf dem Platz gebildet und stand um den Unfallort herum. Nur die Mädchen hockten hilflos auf der Bank. Mit einem Mal sprang Franzi auf und noch ehe jemand zufassen konnte, war sie schon vor der Bank zusammengebrochen.

»Hilfe!«, riefen Heidi und Maria wie aus einem Mund.

Im Krankenwagen hatten sie begonnen, die schwer verletzte Frau zu behandeln. Doch einer der Sanitäter war auf die Mädchen aufmerksam geworden, er kam hinzu und sah sich die am Boden liegende Franzi an. »Sie hat einen Schock«, vermutete er. »Ich glaube, es wird besser sein, wir nehmen sie mit ins Krankenhaus.« Er legte ihr vorsichtig die Beine hoch und langsam kam das Mädchen wieder zu sich. Über Funk wurde noch ein Krankenwagen angefordert und Franzi ins Krankenhaus transportiert.

»Frau Zandler, Ihre Tochter liegt hier bei uns auf der Station, es wäre schön, wenn Sie bald kommen könnten.« Der Stationsarzt hatte Gudrun im Büro der Stadtverwaltung, wo sie stundenweise arbeitete, angerufen.

»Um Himmels Willen, was ist passiert?« Der Schreck fuhr ihr gewaltig in die Glieder.

»Das würde ich gerne mit Ihnen persönlich besprechen.«

»Ist gut, ich komme und ich informiere auch meinen Mann«, entgegnete Gudrun.

»Hallo Franz«, rief sie sofort ihren Mann an.

»Kannst du gleich mal her kommen? Franziska ist

im Krankenhaus. Am Telefon wollten sie mir nichts sagen. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Franz war genau so erschrocken wie seine Frau.

»Natürlich komme ich, aber eine halbe Stunde brauche ich doch. Wir treffen uns dann im Krankenhaus.«

Zehn Minuten später stand Gudrun im Schwesternzimmer. »Sie können ruhig zu ihrer Tochter gehen«, wies ihr eine freundliche Krankenschwester den Weg. »Der Arzt wird nachher mit Ihnen sprechen, wenn Ihr Mann da ist.«

»Aber was hat Franziska denn?« Gudrun wollte nicht ganz unvorbereitet zu dem Kind kommen.

»Soweit ich weiß, ist es ein schwerer Schock, aber mehr kann Ihnen wirklich nur der Arzt sagen.« Damit musste Gudrun fürs erste zufrieden sein.

Als sie ins Zimmer kam, lag Franzi blass und klein in den weißen Laken. Sie starrte ins Leere und schien sie gar nicht zu bemerken.

»Franziska, Liebes, was ist passiert?« Die Mutter strich ihrer Tochter übers Haar. »Egal was es war, es wird alles wieder gut, ganz bestimmt.« Sie musste ihr etwas Tröstendes sagen. Doch von ihrer Tochter kam keine Antwort. So setzte sie sich auf die Bettkante und hielt Franzis Hand. Ewig lang schien ihr die Zeit, bis endlich die Tür aufging und Franz hereinkam.

»Franzi, mein Engel, was ist denn passiert?«, fragte nun auch er seine Tochter. Kaum merklich drehte Franzi den Kopf. »Vati, Mutti, ich kann nichts dafür.« Eine Träne lief ihr über die Wange. In dem Moment trat der Arzt ins Zimmer.

»Oh, das ist aber ein gutes Zeichen, wir reden ja wieder, junge Dame! Ich möchte mal kurz mit deinen Eltern sprechen, dann kommen sie gleich wieder zu dir.«

Die drei verließen das Krankenzimmer. »Ihre Tochter hat einen schweren Schock«, begann der Arzt zu erklären.

»Ja, aber wieso und von was? Sie wollte heute mit der Klasse einen Ausflug machen. Was ist denn nur passiert, so reden Sie doch!«, drängte die Mutter den Arzt.

»Ach so, deshalb waren die Mädchen also auf dem Busbahnhof.« Der Arzt nickte verstehend. »Und dort wurden sie unfreiwillig Zeugen eines schweren Verkehrsunfalls, eine Frau wurde von einem Bus überfahren und ist leider inzwischen verstorben. Kennen Sie die Frau?« Er nannte den Namen, doch sowohl für Gudrun wie auch für Franz war es eine völlig Unbekannte. Sie schüttelten die Köpfe.

»Dann verstehe ich nicht, wieso Ihre Tochter plötzlich in solch einen Schockzustand gefallen ist. Sie war ohnmächtig, nicht mehr ansprechbar und bis Sie kamen, hat sie nicht geredet. Hat sie vielleicht schon einmal solch einen Unfall erlebt, an den sie sich jetzt erinnert?« Irgend etwas musste doch der Auslöser gewesen sein, vermutete er.

»Nein, gar nicht!«, antwortete die Mutter überzeugt.

»Dann kann ich es auch nicht erklären«, entgegnete der Arzt. »Wir werden Franziska zur Sicherheit eine Nacht hier behalten. Morgen früh kann sie nach Hause, wenn es ihr gut geht.«

Die Eltern nickten und der Arzt verabschiedete sich. Franz sah seine Frau an. »Nein, dass kann doch nicht sein, dass sie daran eine Erinnerung hat.«

Gudrun lehnte sich bei ihrem Mann an die Brust.

»Wir werden die Schatten der Vergangenheit nicht los.«

Franz hielt seine Frau fest. »Glaub nicht so was, alles wird wieder gut!«

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