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Das vierte Leben
ОглавлениеMein Wunsch:
Ein Mensch, der sich nicht fortpflanzt, trotzdem Gesellschaft wünscht und die Grundbedürfnisse einer Katze respektiert.
Das Ergebnis:
Eine ständig unglücklich verliebte Single-Frau.
Erster Eindruck:
Nasses Katzenfell müffelt.
Chantale bekam mich als Geschenk zum Auszug aus ihrem Elternhaus. Damit sie nicht so allein sei, hieß es. Tiere zu verschenken ist grundsätzlich eine miserable Idee, aber ich wollte mich nicht beklagen. Chantale wirkte nett, roch nicht übertrieben nach Chemie, stellte gutes Futter hin und spielte ausreichend mit mir, sodass ich mir keine Sorgen machen musste um mein Herz.
Dafür aber bald um ihres.
Das menschliche Herz, das lernte ich rasch, ist ganz anders gestrickt als das einer Katze.
Bei uns geht, Pfote hoch und nicht gelogen, die Liebe gern auch durch den Magen. Wenn ihr dann noch diese eine Stelle – meist hinterm Ohr – findet und regelmäßig krault, könnt ihr euch unserer Zuneigung sicher sein. Wenn es außerdem keine anderen lästigen Mitbewohner gibt, bleiben wir gern ein ganzes Leben lang bei euch.
Das klingt anspruchslos?
Ist es wohl auch. Zumindest im Vergleich mit einem Menschen. Ich bin sicher, das liegt daran, dass wir weder Bücher lesen, noch Filme sehen. Zu glauben, dass man für ein Happy End erst leiden muss, ist gequirlte Mäusekacke. Wer seiner Katze wehtut, liebt sie nicht und ist es nicht wert, dass sie ihre Zeit an ihn verschwendet. Basta.
Aber Menschen, vor allem die weiblichen, wie mir scheint, leiden einfach gern.
Chantale war diesbezüglich ein Paradebeispiel.
In unserer ersten gemeinsamen Zeit kamen und gingen die Männer. Manche brachten Blumen (lecker!), andere Parfüm (bäh!) oder Schokolade (würg!) mit. Einer Sackflöhe. War lustig, die kleinen Krabbeldinger zu jagen. Das anschließende Bad allerdings weniger. Vor allem roch ich tagelang wie das Sofa.
Trotzdem konnte Chantale noch lachen. Halbe Nächte hielt sie sich dieses kleine Bimmelding ans Ohr und quasselte mit anderen Frauen. Es ist wirklich erstaunlich, wie lange sie über Dinge spekulierte, die sie ganz einfach hätte herausfinden können.
Wenn ein Mann neu war, ging es zum Beispiel um Schwanzlängen. Der Punkt blieb mir bis zum Schluss ein Rätsel. Wo, bitte schön, soll der sein? Meiner ist wunderbar geformt, schön plüschig und mit einer leichten Quaste am Ende. Wenn sie darüber stundenlange geredet hätte – gut. Das hätte ich irgendwo noch verstanden. Aber über einen unsichtbaren Schwanz?
Ebenfalls komisch erschien mir die Überlegung, ob der Aktuelle wohl Kinder wolle und wie seine Mutter sei. Was ist denn das für eine Frage? Kinder gehören zur Paarung, die Mutter nicht.
Wenn derselbe Mann schon öfter bei uns gewesen war, wurden ihre Gespräche wirklich absurd. Da konnten sie die halbe Nacht darüber reden, wie er einen Satz gemeint hatte. Und was sie da nicht alles hineininterpretierten. Ehrlich, ein Märchenbuch ist ein Tatsachenbericht dagegen. Gern hätte ich ihr gesagt:
Menschenskind, frag ihn doch einfach! Und hör dir seine Antwort auch an.
So aber blieb mir nur der Rückzug ins Bad. Zwischen den Handtüchern eingerollt hörte ich fast gar nichts mehr von diesem Unsinn. Allerdings musste ich am nächsten Tag meistens ein Donnerwetter über mich ergehen lassen, weil Chantale nach dem Duschen überall Haare hatte.
Trotz allem, im Großen und Ganzen, ging es uns gut.
Das änderte sich, als der Baum aufs Essen fiel.
Jeden Winter stellen die Menschen einen Baum ins Zimmer, hängen lauter verführerisches Glitzerzeug darauf und wollen, dass wir die Pfoten davon lassen. Dazu duftete es in der ganzen Wohnung nach Braten – den wir aber auch in Ruhe lassen sollen.
Und das soll das Fest der Liebe sein. Bah! Katzenfolterfest trifft es eher. Dieses Weihnachten ist ein weiterer Beweis, dass Menschen unter Liebe etwas anderes verstehen als wir.
Nicht einmal ihnen selbst macht es Spaß. Zumindest Chantale nicht. Die saß heulend vor dem Baum und schaufelte Eis in sich hinein. Ich konnte sie bereits jammern hören, wenn sie die Hose mal wieder nur im Liegen zu bekam. Um sie aufzuheitern, zeigte ich meine besten Kunststücke. Auch das „Ras-auf-den-Baum“-Spiel, bei dem es darum geht, möglichst schnell möglichst weit rauf zu klettern. Ich schaffte es auch tatsächlich bis zur Spitze! Stolz miauend verkündete ich noch meinen Triumph, als der Baum unter meinen Pfoten zu kippen begann. Mit einem gewagten Satz rettete ich mich auf den Esstisch. Eine Pfote landete im Kartoffelbrei, eine andere in der Sauce. Lecker!
Chantal hatte weniger Glück. Sie wurde zusammen mit dem Fernseher unter den glitzernden Ästen begraben. Im Gegensatz zum Fernseher funktionierte sie danach noch. Es dauerte allerdings eine ganze Weile, bis sie sich befreien konnte und alles wieder aufgeräumt hatte. Zum ersten Mal musste ich ihr – klammheimlich – recht geben: Ein starker Mann wäre manchmal ganz praktisch. Dann hätte sie mich bestimmt auch seltener allein gelassen. So aber ging sie regelmäßig auf die Jagd, wie sie es nannte. Nur roch ihre bisherige Beute oft genug wie etwas, das der Hund im Garten ausgegraben hatte.
Auch den Bumm-Bumm-Baller-Abend verbrachte sie auf der Pirsch. Bevor sie ging, drückte sie mich besonders fest an sich und sagte: „Ich schwöre dir, ab morgen wird alles anders. Nächstes Jahr sind wir nicht mehr allein. Den nächsten behalte ich. Komme, was wolle.“
Ich hielt das damals schon für eine ihrer dümmsten Ideen – und sie hatte eine Menge! Statt das Fenster aufzumachen, drückte sie am Bimmelding herum und fragte eine Wetteräp, ob sie einen Pulli brauchte. Rechtsdrehender Jogurt wurde auch wirklich nur rechts herum umgerührt und auf links gedrehte Hosen hingen immer auch ganz links auf der Wäscheleine. Das heißt, falls sie nicht gerade links und rechts verwechselte. Wenn im Laden gegenüber der Tschickenkebab aus war und es nur noch Kinderkebab gab, kaufte sie sicherheitshalber gar keinen.
Als es wärmer wurde, verbrachte ich viel Zeit auf unserem winzigen Balkon und wurde so Zeuge, wie Chantale ihre Beute schlug. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie kam gerade aus dem Kebabladen und ich reckte erwartungsvoll den Kopf, glaubte schon das zarte Fleisch auf der Zunge zu schmecken, da geschah es.
Sie stolperte und fiel aus der Tür heraus, über die vier Stufen nach unten und prallte gegen einen Mann. Der fiel der Länge nach hin, Chantale samt Kebab hinterher und mit einem hörbaren Flatsch landete mein Essen auf der Straße. Statt auf dem Absatz kehrt zu machen und neues zu besorgen, schleppte sie den schimpfenden Mann zu uns in die Wohnung.
Enttäuscht verzog ich mich auf den Kleiderkasten. Ihr übliches Balzritual kannte ich bereits zur Genüge und es war nichts, was ich auf leerem Magen aushalten konnte.
Daher weiß ich nicht, wie sie es schaffte, aber von diesem Tag aus kam der Mann regelmäßig vorbei, erzählte seine unlustigen Witze, über die er selbst am lautesten lachte. Noch lieber hielt er Monologe, in denen es nur darum ging, wie klug und gewitzt er war. Chantale hing an seinen Lippen, als würde er aus der Vogeljagdfibel vorlesen. Dabei erwies sie sich als unerwartet lernfähig. Schon bald lachte sie an den richtigen Stellen, was ihr ein Po-Tätscheln eintrug. Ich kenne mich damit nicht gut aus, aber ich dachte, nur Pferden wird zur Belohnung auf den Hintern geklopft. Chantale jedoch schien es auch zu gefallen. Zumindest kicherte sie einfältig und hing strahlend an seinen Arm.
Überhaupt genügte ein Satz von ihm und sie sprang. Ehrlich, sie gehorchte besser als jede Töle. Er fand Hosen unweiblich – sie kaufte zwei Rascheltüten voller Röcke. Ihn störte das Nasenpiercing – sie nahm es raus. Er wollte nicht, dass sie in Kneipen unterwegs war – sie blieb daheim. Er schwärmte für Fußball und Boxen – sie lernte jeden Sportbericht auswendig. Er sagte, er fände blonde Haare geil – prompt sah sie aus, als hätte sie das Stroh nicht nur im Kopf, sondern auch oben drauf.
So ging es immer weiter, bis Chantale nicht mehr wie Chantale aussah, roch oder lebte, sondern ein Produkt seiner Wünsche war. Nur meine Existenz blieb erstaunlicherweise unangetastet. Er ignorierte mich und alles, was zu mir gehörte. Wenn wir uns doch einmal begegneten, stieg er einfach über mich hinweg. Ich gebe zu, gelegentlich spielte ich mit dem Gedanken, ihn ein wenig zu ärgern, um herauszufinden, ob er mich auch noch auf seinem Kopfkissen übersehen würde. Oder wenn ich auf den Tisch springen und die Wurst von seinem Brot klauen würde. Aber da ich auf seine Gesellschaft ohnehin keinen Wert legte, verschwand ich normalerweise, sobald er die Tür aufschloss.
Kurz vor dem nächsten „Lass-uns-mal-die-Katze-quälen“-Fest bekam ich mit, wie sich Chantale mit einer Freundin stritt, weil sie sich angeblich selbst aufgegeben hätte. Daraufhin warf ihr Chantale vor, eifersüchtig zu sein – und schon flogen die Fetzen. Am Ende heulten beide und lagen sich in den Armen. Soweit ich es verstand, hatte sie wohl Angst, allein alt zu werden und von einem Schäferhund – welchem Schäferhund??? – aufgefressen zu werden. Lieber würde sie sich ein kleines Bisschen anpassen.
Ein kleines Bisschen?
Ein kleines Bisschen wäre es, wenn mein Trockenfutter in einer blauen Schüssel liegen würde statt in einer grünen. Und nicht wenn ich Schnecken aus dem Badewasser fischen müsste, um sie anschließend zu flambieren.
Aber wie auch immer, es war ihre Sache.
Bis sie es zu meiner machten.
Eines Tages hieß es: „Baby, entweder der Kater oder ich.“
Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie sich dagegen länger wehrte als gegen seinen Männertrip nach Malle. Schlussendlich knickte sie aber auch hier ein. Noch am selben Abend saß ich in einem gut zugeklebten Karton vor dem Tierheim.
Nach der üblichen Einzelhaft wurde ich in einen geringfügig größeren Käfig gesteckt und im Regal verstaut. Da ich davon ausgehen konnte, dass mich Chantale so schnell nicht auslösen würde, musste ich über meinen Schatten springen.
‚Hallo zusammen.‘
Stille.
Und ein gutes Dutzend Augenpaare, die mich, den Neuling, mit unverhohlener Verachtung anstarrten. Oh, wie gut kannte ich dieses Verhalten! Jetzt nur keine Unsicherheit zeigen! Betont gleichmütig säuberte ich meine Pfote, präsentierte gekonnt mein Mordwerkzeug.
Zwischen zwei Schleckern schob ich nach: ‚Ich bin Linus.‘
Nichts.
Na gut, meine Lieben, ihr habt es so gewollt. Dieses Spiel können wir auch gemeinsam spielen.
Geschickt bürstete ich beim Ohrputzen das Fell nach vorn. Selbst eine harmlose Kachelofenpussy schaut dadurch verwegen aus.
‚Und wer seid ihr?‘
Immerhin hatte ich jetzt die Aufmerksamkeit von allen. Wunderbar. Dann auf zum finalen Schlag:
Den Hintern lecken.
Als ich das nächste Mal hochsah, hatte sich die einäugige Katze von gegenüber an die Gitterstäbe gesetzt. Der Schwanz zuckte zwar, aber zumindest klang kein Fauchen mit.
‚Shiva. Neben mir sind Luchs und Sirtaki.‘
Sie nickte mit dem Kopf erst nach links, dann nach rechts.
‚Wir drei sind am längsten hier.‘
‚Am längsten! Am längsten!‘
Ich zuckte überrascht zurück. Wieso schrie mich Shiva plötzlich so an? Mutig fragte ich weiter.
‚Warum wurdet ihr nicht abgeholt?‘
‚Zu alt, zu hässlich, zu krank.‘
‚Aber die anderen werden schon ausgelöst, oder?‘
‚Manchmal.‘
‚Ich werde bestimmt geholt.‘
‚Meinst du? Von wem denn?‘
Belustigung, aber auch eine gewisse Schärfe lagen in Shivas Stimme.
‚Niemand holt dich!‘
Empört fauchte ich. Was bildete sich diese Mieze überhaupt ein? Doch bevor ich zu einer gesalzenen Erwiderung ansetzen konnte, mischte sich eine tiefe Stimme ein.
‚Reg dich nicht auf. Das ist nur Molly. Ein Papagei.‘
Ich presste die Nase so fest ich konnte gegen das Gitter und erspähte einen Hundeschwanz, der an eine alte Flaschenbürste erinnerte. Dann tauchte direkt eine schwarze, wie immer furchtbar nasse Hundenase auf und schnupperte.
‚Du riechst aber lecker. Zum Abschlecken!‘
Brrr!
Wahrscheinlich muss er meinen Ekel irgendwie bemerkt haben, jedenfalls grollte ein erstaunlich sympathisches Hundelachen aus seiner Kehle.
‚Keine Sorge. Hunde und Katzen kommen getrennt in den Freilauf. Ich bin übrigens Blacky. Eine reinrassige Promenadenmischung.‘
‚Reinrassig! Reinrassig! Juden raus!‘
‚Halt den Schnabel, Molly!‘, tönte es von allen Seiten.
Überrascht sah ich mich um. Anscheinend ging der Schreihals nicht nur mir auf die Nerven. Aber wo war er bloß? Während ich noch nach einem bunten Vogel Ausschau hielt, sprach Blacky weiter:
‚Hier kommt kaum jemand dauerhaft raus. Ich wurde schon dreimal mitgenommen. Und jetzt bin ich wieder da. Am ehesten nimmt jemand die Jungtiere mit. Ausgewachsen haben nicht einmal wir Hunde eine Chance. Bei Katzen ist es noch unwahrscheinlicher. Nimms mir nicht übel, aber von euch gibt es einfach zu viele. Bist du eigentlich kastriert?‘
‚Kastriert das Negerpack!‘
Dieses Mal brüllte ich auch mit – und war erstaunt, wie gut es sich anfühlte. Nicht nur, dass ich den aufgestauten Ärger rauslassen konnte, sondern auch das kleine Gemeinschaftsgefühl, das dabei entstand.
Kaum war es ruhig, plauderte Blacky weiter. Er war, wie mir bald klar wurde, die Quasselstrippe nicht nur unseres Raumes, sondern des ganzen Hauses. Trotzdem war es ein Segen, dass ich für seine Nase gut roch. Wen Blacky nicht mochte, der hatte hier ein noch schwereres Leben, als es ohnehin schon war.
Mit beiden Ohren und dem halben Kopf hörte ich ihm zu – der Rest suchte den Papagei. Dass ich ihn tatsächlich entdeckte, war allerdings ein Zufall. Ein hässliches Etwas kletterte an einem abgewetzten Baumstamm hoch und fluchte halblaut ‚Scheiß Asylanten‘ vor sich hin.
Ich schwankte zwischen Entsetzen und dem instinktiven Wunsch, zu töten. Ihr wisst schon – das schwächste und kränkste Tier der Herde muss aussortiert werden. Das Einfangen wäre auch keine große Kunst, denn fliegen konnte das Vieh bestimmt nicht mehr. Dafür war es quasi schon fertig fürs Backrohr. Es fehlten nur noch die Gewürze.
‚Lass es‘, mischte sich Shiva ein. ‚Diese Idee hatten wir alle schon mal. Vor allem bei Vollmond. Einer hat es mal versucht. Antonio. Bastet hab ihn selig.‘
‚Was ist passiert?‘
‚Erzähl die Geschichte, Shiva‘, riefen mehrere Tiere durcheinander. ‚Ja, erzähl sie.‘
‚Wegen mir musst du nicht unbedingt –‘
‚Halts Maul, Neuer‘, kam es nicht wirklich unfreundlich von rechts. Aus einer Höhle schaute ein leibhaftiger Wolperdinger heraus. Mausohren, Katzenschnurrhaare, Hasennase, Hamsterbacken – und das in XXL.
Ich setzte mich vor Schreck erst mal auf das Hinterteil. Zum Glück so, dass sich gleichzeitig den Abstand zwischen uns vergrößerte.
‚Was bist denn du?‘
Ja, ich weiß, das war nicht besonders höflich. Aber bei diesem Anblick wäre euch auch nichts Besseres eingefallen.
Der Wolperdinger würdigte mich keiner Antwort. Aber dafür gab es ja Blacky:
‚Neuer, das ist die Graue Eminenz dieses Refugio, Don Emanuel Alvaraz.‘
So würdevoll er sich auch gegeben hatte, so brach doch gleich darauf wieder das typisch Hündische durch. Ich sah regelrecht vor mir, wie er Männchen machte, mit dem Schwanz wedelte und diesen ganz speziellen Hund-Treu-Doof-Blick aufsetzte.
‚Hab ich es richtig ausgesprochen, Don? Hab ich, sag, hab ich?‘
‚Si, du hast. Du bist buen amigo, mein Guter. Und nun, Shiva, gatta cara, erweise uns die Ehre einer cuento, vertreibe uns aburrimiento.‘
Ich sah, wie sich alle Tiere gemütlich einrichteten und dann den Kopf zu Shiva drehten. Entweder war sie eine begnadete Erzählerin oder es wurde hier alles dankbar angenommen, was ein wenig Ablenkung versprach.
Nach wenigen Sätzen war mir klar, es war Letzteres. Ganz eindeutig Letzteres.
Um es kurz zu machen – ihr wollt sicher auch wissen, was es mit dem Vollmond auf sich hatte und ob Molly da zu einer Art Werwolfpapagei mutierte.
Nein, tat sie nicht. Sie blieb nackt. Die Schreierei muss allerdings beeindruckend im negativen Sinne gewesen sein.
Besagter Antonio war ein übermotivierter Perser, der allen beweisen wollte, dass er mehr als ein asthma- tisches Plüschkissen war. Laut Shiva starb er im heldenhaften Kampf mit einem tobsüchtigen Raubvogel, der ihm faktisch das Fleisch von den Knochen gerissen hatte, um es anschließend zu verspeisen.
Ich vermute, ihm ist beim ersten Biss eine Feder in den Hals geraten und er hat sich die Lunge rausgehustet. Sicher auch ein spektakulärer Anblick, aber als Geschichte relativ ungeeignet. Vor allem, weil Shiva ihn als tragischen Helden darzustellen versuchte, der sein Leben für das Wohl aller geopfert hatte. Worin diese Verbesserung bestand, fragte ich lieber nicht. Vielleicht hatte Molly so lange gelacht, bis sie keinen Ton mehr rausbrachte?
Die Tage im Tierheim verliefen alle nach demselben anödenden Muster. Und nein, ich weigere mich, diese Zeit noch einmal zu erleben, indem ich euch davon erzähle.
Stellt euch einfach vor, ihr seid in ein fensterloses Zimmer von der Größe einer Badewanne gesperrt. Wenn ihr euch auf den Boden legt und streckt, stoßt ihr an den Wänden an. Rund um euch herum sind lauter andere Menschen, die ihr euch nicht ausgesucht habt und die direkt neben eurer Nase pupsen, pinkeln, kacken. Das Essen könnt ihr euch auch nicht aussuchen und wenn ihr euch zweimal hintereinander weigert, den Fraß hinunterzuwürgen, werdet ihr zum Arzt geschliffen, der allerlei unschöne Dinge mit euch anstellt. Wenn ihr Glück habt, bekommt ihr einmal am Tag Auslauf. Der Raum ist etwa so groß wie eure Küche, hat ein Fenster – und ihr müsst ihn euch mit einem halben Dutzend anderer teilen. Keine Manieren, dafür jede Menge Ticks.
Unter den genannten Umständen kann es mir wohl niemand verdenken, dass ich Chantale praktisch in die Arme sprang, als sie die Tür zu meinem Gefängnis öffnete. Ich schleckte sogar ihr Gesicht ab, vergrub meinen Kopf in ihre Halsbeuge und brummte wie eine Hummel.
Die folgenden Wochen waren wieder so, wie ich Chantale kannte.
Sie saß heulend auf dem Sofa, verwechselte mich mit einem Taschentuch und futterte Eiscreme, während die Flimmerkiste lief.
Ich war selig, nass und voll Rotz, aber selig.
Nie wieder Shivas Geschichten zuhören oder Blackys Dauergeplapper oder Mollys unerschöpfliches Schimpfwortvokabular. Nur noch meine Pupse riechen. Und Futter, das nicht nach eingeschlafenen Füßen schmeckte.
Mein Glück währte jedoch nicht besonders lang.
Als die schlimmste Sommerhitze vorbei war, stand er wieder vor der Tür. Einen mickrigen Blumenstrauß in der Hand, ein schmieriges Lächeln im Gesicht und das Zauberwort auf den Lippen:
Liebe.
Natürlich ließ sie ihn herein.
Kurzzeitig erwog ich, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, aber dann sagte sie das einzige, was für mich wirklich zählte: „Der Kater bleibt. Du musst dich mit ihm arrangieren.“
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. Ob der Trottel wusste, was das hieß? Unwahrscheinlich.
Anfangs lief es auch ziemlich gut. Will heißen, wir gingen uns aus dem Weg und übersahen einander demonstrativ, wenn wir uns doch mal begegneten.
Als die Blätter fielen, fing es an.
Zuerst waren es nur Kleinigkeiten.
Ein Kratzer am Sofa, eine verschwundene Wurst, eine ausgegrabene Pflanze.
Er machte nie den Fehler, mir die Schuld in die Pfoten zu schieben, eine Bestrafung oder gar meinen Rauswurf vorzuschlagen, sondern wartete darauf, dass Chantale von „meinen“ Schandtaten genug haben würde.
Wahrscheinlich dauerte es zu lange, denn an Weihnachten fuhr er härtere Geschütze auf und zerbrach heimlich jene Glitzerkugeln, die ich niemals angerührt hätte. Ich wusste nämlich, dass mich Chantale klatschnass heulen würde. Diese quietschbunten Dinger hatte ihre Oma selbst bemalt. Wie oft ich diese Geschichte schon gehört habe, lässt sich nicht einmal mehr an meinen Schnurrhaaren abzählen!
Das gab ein großes Hallo im Tierheim.
Natürlich bekam ich auch das übliche ‚Wir haben es dir doch gleich gesagt‘ zu hören, aber die meisten hielten sich zurück. Blacky versuchte sogar mich zu trösten:‚Das erste Mal ist richtig schlimm. Aber beim nächsten Mal ist es schon leichter. Und ab dem dritten Mal siehst du es irgendwie sportlich.‘
Am Abend wurde es früher als sonst still im Haus. Alle Menschen gingen heim zu ihren Familien und wir blieben zurück. Partystimmung ist was anderes, das könnt ihr mir glauben. Jeder saß in seinem Käfig und hing trübsinnigen Gedanken nach. Sogar Shiva, die sich sonst so abgehärtet gab, wirkte niedergeschlagen.
Einzig Molly krakelte wie üblich, trällerte Lieder, ahmte eine Polizeisirene nach und schlug abwechselnd vor, die Fahnen zu hissen oder den Schwarzen am Fahnenmast aufzuhängen.
Keine Ahnung wieso, aber der Satz rutschte über meine Lippen, bevor ich überhaupt wusste, dass ich daran gedacht hatte:
‚Warum sollte man einen Schwarzen aufhängen?‘
Das brachte Molly aus dem Konzept. Sie war es gewohnt, angeschrien zu werden, aber eine Frage hatte ihr wohl noch keiner gestellt.
Argwöhnisch beäugte sie mich von der Seite.
‚Ich meine es ernst, Molly. Oder weißt du es nicht?‘
Sie trippelte näher.
‚Molly weiß.‘
‚Na dann. Erklär es mir.‘
Ich machte es mir gemütlich, so als würde Shiva eine Geschichte erzählen.
‚Schwarze stinken.‘
‚Tu ich auch. Vor allem bei dem Fraß hier. Das reicht nicht als Grund. Sonst müsstest du ja uns alle hängen sehen wollen. Willst du das?‘
Sie schien ernsthaft darüber nachzudenken und ich begann zu hoffen, dass die angebliche Klugheit der Papageien zumindest bei ihr nicht weit genug reichte, um Knoten zu knüpfen. Seile hingen nämlich genug am Baum.
‚Nicht alle.‘
‚Wen nicht?‘
Langsam wurde es interessant. Auch für die anderen. Die ersten Zuhörer rückten näher an die Gitterstäbe.
‚Hasso guter Hund. Deutscher Hund.‘
Ich warf einen skeptischen Blick in Richtung der armen Töle, die sich immer schlotternd in eine Ecke drückte, sobald sie etwas Flüssiges plätschern hörte. Daher die Sägespäne im Käfig.
‚Was ist mit Belle?‘
‚Ausländisches Gfraster. Erschießen! Sofort erschießen!‘
Belle, eine wunderschöne Pudeldame, zog verächtlich die Lefzen hoch.
‚Und Blacky?‘
‚Unreines Blut. Schlechter Charakter.‘
Blacky winselte und sofort hakte Molly nach:
‚Abschaum. Erschlagt den Abschaum.‘
‚Ok, Molly, das reicht. Warum gehst du nicht und reißt dir noch die letzten Federn vom Leib? Das ist sinnvoller als dein Geschwätz.‘
Beleidigt verschwand sie in der Baumhöhle.
‚Blacky?‘
Nichts.
‚Blacky? Du weißt, dass das Blödsinn ist.‘
Stille.
‚Niemand denkt das. Stimmt doch, oder?‘
Vereinzeltes Miauen und Bellen antwortete.
Interessanterweise wandten einige den Kopf ab. Sieh an, sieh an. Anscheinend war Molly doch nicht die einzige, die so dachte. Selbst die vorher diskriminierte Belle wirkte ablehnend. Herausfordernd mauzte ich sie an – und sie ließ sich tatsächlich zu einer Antwort herab.
‚Weißt du Linus, es ist schon so, dass es, nun ja, wichtig ist, woher man kommt. Abstammung und so. Ich kann dir meinen Ahnen bis in die siebte Generation aufzählen. Wir haben keine dunklen Geheimnisse oder schlechte Gene. Sieh mich an: Ich bin perfekt. Kluger Kopf, starker Körper, geschmeidige Bewegungen.‘
‚Und trotzdem sitzt du hier. Wie erklärst du dir das?‘
‚Bah. Die Menschen haben eben keine Ahnung. Sie würden wahre Schönheit noch nicht einmal erkennen, wenn sie ihnen auf den Schuh pisst.‘
‚Dann bin ich lieber hässlich und darf gegen einen Baum pinkeln.‘
‚Blacky! Endlich. Du redest wieder. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, du hättest es verlernt.‘
Er lachte. Nur kurz und leise, aber er lachte.
‚Niemals.‘
In den folgenden Wochen verlegte ich mich aufs Beobachten. Zuerst nur die anderen Tiere. Ich studierte meine Mithäftlinge wie ein Kätzchen die Mutter beim Jagen. Dann dachte ich tagelang darüber nach, um herauszufinden, warum sie sich so verhielten. Mit der Zeit fielen mir immer mehr Details auf und irgendwann konnte ich weiter denken, als von der Wasserschüssel zum Katzenklo. Mir fehlte nur jemand, mit dem ich mich darüber hätte austauschen können.
Aber auch das sollte sich ändern.
Während eines Auslaufs nahm mich Luchs zur Seite und dirigierte mich in eine ruhige Ecke. Mit ihrem ausgeblichenen, dünn gewordenen Fell und den milchigen Augen erinnerte sie mich immer an ein Stofftier, das zu viel lieb gehabt worden war. Ihre Geschichte interessierte mich schon lange, doch da ich angenommen hatte, ohne Zähne könne sie gar nicht mehr verständlich sprechen, hatte ich sie nie gefragt.
Doch, sie konnte. Gut, es war etwas feucht und ich musste mich erst an die Aussprache gewöhnen, aber dann wurde mir klar, dass diese uralte Katze klüger war als wir alle zusammen. Ich schwor mir, nie wieder jemanden nach seinem Aussehen zu beurteilen. Oder ihm aufgrund seines Alters Fähigkeiten abzusprechen.
Luchs war brillant! Sie verstand es sogar, mir Belles und Mollys Verhalten – und das der anderen – so zu erklären, dass meine Wut auf alles und jeden verrauchte.
‚Angst ist die treibende Kraft hinter den meisten falschen Dingen. Hasso versucht mit seinem aggressiven Verhalten jeden zu verjagen, bevor der in Schlagweite kommt. Er hat Angst, gequält zu werden. Belle hat insgeheim Angst davor, nicht gut genug zu sein, nicht gewürdigt zu werden. Darum betont sie ihre angeblichen Vorzüge. Sie will sich von den anderen absetzen, um gesehen zu werden. Selbst hinter Shivas Arroganz steckt nur Angst. Angst davor, dass sie jemand gern hat und sie dann aus Liebe leidet, wenn er geht.‘
‚Und Molly? Wovor hat Molly Angst?‘
‚Nicht mehr dazuzugehören. Sie wurde so erzogen. Ihr ganzes Umfeld war so. Wenn sie sich ändert, gehört sie nicht mehr zu ihrer Familie.‘
‚Aber die haben sie doch hier abgegeben. Warum hält sie trotzdem daran fest?‘
‚Warum hoffst du noch immer darauf, dass diese Menschenfrau dich holen kommt?‘
Mist. Durchschaut. Und das von einer fast blinden Katze.
‚Linus, im Grunde sind wir alle gleich. Egal ob versnobter Pudel, nackter Papagei, Mischling oder Rassetier – wir sehnen uns nach einem Zuhause. Nach einer menschlichen Hand, die sich liebevoll um uns kümmert. Nach einem Platz, an dem wir in Frieden und Würde alt werden können. Und nach jemandem, der uns in der letzten Stunde zur Seite steht, uns festhält und im richtigen Moment gehen lässt. Dafür sind wir bereit, alles zu tun. Wir verleugnen uns selbst, verbiegen uns und schlucken jede Gemeinheit – in der Hoffnung darauf, dass sich alles zum Guten wendet.‘
Wahrscheinlich hätten mich ihre Worte friedlich und nachsichtig stimmen sollen.
Taten sie aber nicht.
Im Gegenteil. Ich fühlte, wie die Wut zurückkehrte. Auf mich selbst, die anderen und ganz besonders auf die Menschen. Niemand sollte sein Wesen verändern müssen, um geliebt zu werden. Gut, ein bisschen Rücksichtnahme gehörte schon dazu. Aber wer mit einer Katze zusammenleben wollte, musste sich eben vorher schon darüber im Klaren sein, dass sie Krallen hatte. Ihr diese zu ziehen war der falsche Lösungsansatz! Überhaupt – wie kamen die Menschen eigentlich dazu, zu erwarten, dass wir uns so verhielten, wie sie das wollten? Der Hund hatte treu und ein bisschen doof zu sein. Die Mieze verschmust und leise.
Aber was hatten wir von der ganzen Anpasserei?
Nichts.
Wenn wir nicht mehr gut genug oder einfach nur im Weg waren, setzten sie uns vor die Tür. Oder gaben uns im Tierheim ab. Falls sie die Güte hatten, uns irgendwann wieder auszulösen, sollten wir ihnen in ewiger Dankbarkeit um die Beine streichen.
Aber nicht mit mir! Es hat sich ausgeschnurrt!
Ich würde mich nie wieder so verhalten, wie es von einem Kater erwartet wurde. Stattdessen würde ich mich von allen Zweibeinern fernhalten, sie aus der Ferne beobachten. So, wie ich jetzt die anderen Tiere studiert hatte, würde ich bei jeder Gelegenheit die Menschen beobachten. Ihre Gesichter, was sie taten und wie sie etwas sagten. Sie würden mich mit nichts mehr überraschen können. Insbesondere sollte mich niemand mehr überrumpeln, mit oberflächlicher, kurzlebiger Freundlichkeit einlullen – um mich dann mir nichts dir nichts rauszuwerfen.
Und das Wichtigste: Wenn ich niemanden ins Herz schloss, würde es auch nicht wehtun.
Von jetzt an durfte die Suche nach dem Ticket für die Regenbogenbrücke ohne mich stattfinden, denn wenn ich so darüber nachdachte, verstand ich gar nicht mehr, warum ich die Ewigkeit hatte ausgerechnet an einen Menschen gekettet verbringen wollen. Total bescheuert!
Chantale kam mich noch zweimal holen.
Das erste Mal brachte mich der Mann heimlich ins Heim. Wahrscheinlich machte er ihr weiß, ich sei weggelaufen. Sie fand mich relativ schnell und schloss von da an alle Fenster.
Bei der nächsten Rückgabe fauchten wir beide vor Wut. Angeblich hatte ich das riesige weiße Kleid angepinkelt. Ein reiner Vorwand! Jeder konnte doch riechen, dass die gelben Flecken von dem Mann waren.
Tagelang kochte ich in meinem Käfig vor mich hin. Nicht einmal Blacky wagte es, mich anzusprechen. Sogar die Menschen merkten, dass mit mir nicht gut Leckerlis fressen war. Es dauerte eine ganze Weile, bevor ich wieder in den Auslauf durfte.
Und was erfuhr ich dort als erstes?
Luchs war gestorben.
Ein junges Mädchen hatte sie geholt, wollte ihr angeblich die letzten Tage verschönern. Wenig später brachte der Vater zusammen mit dem heulenden Kind eine völlig verstörte Katze zurück. Orientierungslos war Luchs in der fremden Wohnung herumgeirrt und schließlich eine Treppe hinabgefallen.
Statt sie zum Tierarzt zu bringen – der hätte ja was gekostet – brachten sie sie ins Tierheim zurück.
Luchs starb noch in derselben Nacht. Sie muss furchtbare Schmerzen gehabt haben. Niemand, nicht einmal Shiva schaffte es, mir davon zu erzählen. Aber allen stand noch das Grauen ins Gesicht geschrieben.
Das gab mir den Rest. Ich begann Menschen zu hassen.
Als Chantale vor mir stand, heulend natürlich, wusste ich: Dieses Mal würde sie bezahlen!
Es war eine Kleinigkeit, die Erdnüsse, die ich Molly geklaut hatte, in den Kuchenteig fallen zu lassen.
Zufrieden sah ich ihr beim Sterben zu.
Ich bin sicher, sie litt dabei genauso wie Luchs.
Nur eine Sache hatte ich nicht ausreichend bedacht:
Chantale holte mich nur dann aus dem Tierheim, wenn sie gerade niemand anderen hatte. Ich würde daher eine sehr lange Zeit mit einem verwesenden Kadaver in der Wohnung festsitzen. Falls kein Wunder passierte und sich jemand ernsthaft Sorgen um Chantale machte oder ich lernte, den Klodeckel zu öffnen, würde ich dieses Mal also verdursten.
Na bravo …
An einem besonders heißen Sommertag, während die Sonne unbarmherzig durch die Glasfront brannte, schwor ich mir:
Nie wieder Menschen! Weder diesseits noch jenseits der Regenbogenbrücke. Lieber ein endgültiges Nichts.
Dann schloss ich die Augen.