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8.

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Frank Grabowski sah aus dem Fenster hinaus ins Dunkle. Es wurde einfach nicht hell. Er war schon vor knapp zwei Stunden mit seiner Freundin aufgestanden, weil er mit Andrea noch in Ruhe einen Kaffee trinken wollte, bevor sie zur Arbeit musste. Sie war vor einem Vierteljahr auf Probe, wie sie es halb im Spaß halb im Ernst nannte, bei ihm eingezogen. Dadurch hatte sie es nicht mehr so weit zur Arbeit. Gleich um die Ecke zur Bäckerei in der Berliner Straße, unweit des S-Bahnhofs Pankow. Jetzt war es mittlerweile sieben Uhr geworden und keinen Deut heller. Er hatte noch etwas Zeit. Von hier bis zum Landeskriminalamt brauchte er ca 45 bis 50 Minuten. Erst mit der U-Bahn bis Wittenbergplatz und dann noch 600 Meter Fußweg zur Keithstrasse. Er zündete sich eine neue Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es war erst die dritte am heutigen Morgen. Wenn Andrea bei ihm war, zügelte er seine Nikotingier. Ein Lächeln huschte über sein hageres Gesicht. Er freute sich auf Weihnachten mit ihr. Sie wollte ihn ihren Eltern vorstellen. Grabowski hatte etwas Bammel davor, fühlte sich wie ein kleiner Junge und das mit vierzig. Er selber hatte keine Eltern mehr. Bis jetzt war der Monat für die 2. Mordkommission recht ruhig verlaufen. Grabowski hoffte, es bliebe auch so. Er hatte nichts dagegen, weiter alte Fälle aufzuarbeiten oder Überstunden abzubummeln. Bei der Vorstellung musste er selber lachen. Er drückte die Zigarette aus und ging in den Flur, um sich die Jacke überzuziehen. Es war Zeit für den Aufbruch. Er sah noch einmal in den Spiegel. Scheitel, Jacke, Schlips. Alles saß korrekt. Ein letzter Rundumblick, dann schloss er die Wohnungstür.

Ben Lorenz‘ Seidenhemd schimmerte in allen Farben, als er die Winterjacke auszog und an dem Garderobenhaken aufhängte. Die Schirmmütze, die seine Halbglatze bedeckte, hängte er darüber. Er trug seine halblangen Haare diesmal offen, nicht zu einem Zöpfchen gebunden wie sonst. Wie zu erwarten, war er heute Morgen der erste. Koslowskis Bürotür war noch zu, wie auch die anderen. Er ließ seine Tür offen stehen, damit er sehen konnte, wenn jemand vorbeilief, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Rechner hoch. Er besaß zu Hause keinen Computer und benutzte den Dienstrechner ab und zu für private Recherchen. Frederieke Bloom hatte ihm gezeigt, wie es ging. Als seine Frau vor ein paar Jahren starb, starb mit ihr auch seine Reiselust. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen alleine zu verreisen. Jetzt, ein paar Jahre später hatte er sich langsam an das Alleinsein gewöhnt und freundete sich mit dem Gedanken an eine Kurzreise an. Vor kurzem lief eine Reportage über London im Fernsehen und Ben Lorenz dachte: warum nicht. Bevor die Briten sich endgültig aus Europa verabschieden, sollte man sich London vielleicht doch mal angesehen haben. Er trauerte immer noch wehmütig der verpassten Gelegenheit hinterher, Istanbul, das frühere Konstantinopel, nicht besucht zu haben. Seine Frau war nicht für Städtereisen zu haben gewesen. Sie mochte die Natur, die Berge. Und jetzt wollte er da nicht hin. Die dortige Politik hatte seine Lust erstmal gedämpft.

Er gab in die Suchmaske ein: London, was man gesehen haben muss und schon zeigte der Monitor zig Seiten mit Londontipps an. Er klickte sie an und notierte sich die meistgenannten Tipps. Tower Bridge, Buckingham Palace, Notting Hill, Camden Market, Piccadilly Circus, Tate Gallery. Er war sich noch nicht sicher, ob es ein verlängertes Wochenende werden sollte oder eine ganze Woche.

Er studierte gerade die Liste mit den Hotels, als Marcus Kempa mit dem kleinen runden Ibrahim Bulut im Schlepptau vorbeilief. Sie hatten ihn nicht bemerkt. Kempa war gerade wieder bei seiner Lieblingsbeschäftigung: mit zu hohem Blutdruck sich lautstark über Gott und die Welt zu echauffieren. Dazu brauchte es nicht viel. Dabei ruderte er heftig mit den Armen. Man könnte es Kempas Frühsport nennen, fand Lorenz. Bulut, mit seiner orientalischen Gelassenheit schwieg. Es gab nicht viel, was ihn aus der Ruhe brachte.

Lorenz musste über das ungleiche Paar lächeln und rief laut: »Guten Morgen, ihr Banausen.«

Eine Sekunde später steckte Kempa seinen Kopf in Tür und grinste: »Moin, was treibt dich denn so früh her.«

»Urlaubsplanung.«

Bulut war hinzugetreten und fragte: »Jetzt, für Weihnachten?«

»Nee, fürs Frühjahr. Jetzt würde ich sowieso keinen Urlaub bekommen.«

»Wieso nicht? Ist doch ruhig«, erwiderte Kempa.

»Wird aber nicht so bleiben, da verwette ich mein letztes Hemd drauf.«

»Clever!« Kempa lachte. »Bei deinen Hemden kannst du sicher sein, dass keiner die Wette annimmt.«

»Wo er recht hat, hat er Recht«, sagte Bulut kichernd, wobei nicht klar war, welchem Fakt seine Zustimmung galt.

Koslowski, in Parkajacke und mit einem Kaffeebecher in der Hand, eilte an ihnen vorbei und rief ohne stehen zu bleiben: »Um acht Uhr im Besprechungsraum.«

Die drei sahen sich an. Dann meinte Kempa: »Die Wette hättest du wohl gewonnen.«

»Mann Ben. Mit dem Hemd schimmerst du wie eine Scheißhausfliege.« Koslowski schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. Lorenz ließ es mit stoischer Ruhe abprallen, wie immer.

Die Mitglieder der 2. Mordkommission saßen an dem großen Tisch, der mittig im Raum stand. Nur Koslowski stand vorn an der Pinnwand. Er schien zu warten. Genau wie das Tageslicht, welches eigentlich durch die hohen Fenster den Raum erhellen sollte, sich aber, wie üblich um diese Jahreszeit, Zeit ließ. Es war acht Uhr.

Einen Moment später öffnete sich die Tür. Die drahtige Gestalt Van Bergens betrat den Besprechungsraum. Van Bergen schloss die Tür und blieb ohne einen Gruß mit undurchdringlicher Miene neben dem Türrahmen stehen. Die Kollegen registrierten es unaufgeregt, aber mit einer gewissen Neugier.

»Morgen Kollegen.« Koslowski blickte in die Runde. »Gestern Abend wurde Bernd Mayer…« Er zeigte auf das Foto, das die Leiche auf dem Sofa zeigte. »… erschossen. Der Schuss kam aus ca 80 Meter Entfernung durch das Fenster. Adresse: Wilhelmsruher Damm 114. Der Täter schoss von dem gegenüberliegenden Dach. Wilhelmsruher Damm 120.«

»Ein Scharfschütze also«, stellte Kempa sachlich fest. »Riecht nach Auftragsmord.«

»Keine voreiligen Schlüsse«, wies ihn Meyerbrinck unwirsch zurecht. Koslowski sah Meyerbrinck überrascht an. Tom scheint nicht die beste Laune zu haben, dachte Koslowski.

»Ist ja gut. War doch nur eine Anregung. Man wird das wohl noch sagen dürfen.« Kempa lehnte sich eingeschnappt zurück. Bulut lachte.

»Weiter im Text. Nach ersten Befragungen ist kein Schuss gehört worden. Was für einen Schalldämpfer spricht.« Koslowski wies auf die nächsten beiden Fotos. »Es sind zwei Schüsse abgegeben worden. Ein Projektil steckte außen neben dem Fenster, das andere Projektil steckte in der Wohnzimmerwand, nachdem es Bernd Mayer den halben Schädel weggerissen hatte.«

Grabowski räusperte sich.

»Der Schütze hat also vom gegenüberliegenden Dach geschossen. Normalerweise sind doch die Zugänge, die Türen verschlossen. Wir müssen heraus finden, wie er sich Zutritt verschafft hat. War die Tür aufgebrochen?«

»Nein.« Koslowski blätterte kurz in seinen Notizen. »Das Schloss war wohl defekt.«

»Was sagt die Spurensicherung?«

Die Frage kam von Di Stefano.

»Noch nichts Genaues«, ergriff Van Bergen das Wort. »Aber bis um 9:30 Uhr sollte der Bericht sowohl der Gerichtsmedizin als auch von der Spurensicherung auf meinem Tisch liegen.«

Koslowski ließ Van Bergen ausreden. Dann sagte er: »Am Tatort war auch jemand von der Staatsanwaltschaft. Er stellte sich als Herr Schulz vor.«

Van Bergen warf Koslowski einen genervten Blick zu.

Di Stefano fragte ungläubig: »Wie kam denn die Staatsanwaltschaft so schnell an den Tatort? Ist doch sonst nicht deren Art.«

Koslowski warf Van Bergen einen herausfordernden Blick zu. Der schaute nur finster.

»Pah«, machte Koslowski und wandte sich wieder seinem Team zu. »Staatsanwaltschaft! Wer’s glaubt, wird selig. Der war nie und nimmer von dort. Bleibt also nur Geheimdienst. Von welchem genau ist eigentlich egal. Es scheint jedenfalls in dem Fall eine gewisse politische Brisanz zu stecken.«

»Ach deswegen kommen die Berichte so schnell. Wir müssen immer zwei Tage betteln«, bemerkte Frederieke Bloom die nervös auf einem Kugelschreiber herumkaute.

»Und in welche Richtung geht diese Brisanz?«, fragte Lorenz in säuerlichem Tonfall. Ihm schien die ganze Sache nicht zu schmecken. Wie auch den anderen.

»Berechtigte Frage«, antwortete Koslowski und sah dabei Van Bergen wieder herausfordernd an.

Van Bergens steinerne Miene wirkte undurchdringlich, man sah ihm nicht an, ob ihm die Geschichte unangenehm war. Seine grauen Augen blickten in die Runde und er sagte: »Es scheint so, dass der Tote zu einer militanten Gruppe gehörte, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht. Es besteht jedenfalls ein großes Interesse daran, dass der Mord zügig ohne großes Tamtam aufgeklärt wird. Das beinhaltet auch Stillschweigen der Presse gegenüber. Also wer sich sonst noch ein wenig Zubrot durch das Stecken von Informationen an die Presse verdient, sollte es diesmal tunlichst unterlassen. Das meine ich ernst.«

Ben Lorenz murmelte etwas vor sich hin. Frederieke Bloom sah verwirrt zu ihren Kollegen. Sie verstand nicht, wie Van Bergen überhaupt auf solch ein Idee kommen konnte. Es war für sie vollkommen abwegig, und wie sie sah, für die anderen Kollegen auch.

Koslowski warf Van Bergen einen verärgerten Blick zu.

»Von meinem Team steckt niemand irgendetwas der Presse. Hat es nie und wird es nie geben.«

Die Kollegen nickten zustimmend.

»Ach ja und wie war das mit Tschillner«, erwiderte Van Bergen trocken.

»Der ist Geschichte, wie du weißt. Und er hatte nichts der Presse gesteckt, nur gewissen anderen Leuten. Außerdem gehörte er auch nicht wirklich zu unserem Team. Er war ein Fremdkörper. Wenn ich mich nicht irre, kam die Anweisung damals von dir, ihn bei uns im Team zu dulden, als Frederieke im Mutterschaftsurlaub war.«

Jetzt war Van Bergen verärgert, doch nur kurz.

»Okay, hab ich verstanden.« Seine Stimme klang plötzlich müde. »Aber ihr hoffentlich auch.« Er drehte sich um und öffnete die Tür. »Um zehn bei mir im Büro«, sagte Van Bergen zu Koslowski und nickte noch kurz zum Abschied in die Runde. Dann verließ er den Raum. Die Tür blieb offen stehen. Van Bergens Schritte hallten noch kurz im Flur wider. Koslowski ging zur Tür und schloss sie.

»Was war denn mit dem los?« Kempa sah fragend in die Runde.

»Vielleicht braucht er einfach mal ne Frau«, mutmaßte Bulut kichernd.

»Jetzt reichts.« Koslowski schlug mit der Hand heftig auf den Tisch. Erschrocken zuckte Bulut zusammen. »Kümmern wir uns um unseren Job.«

Koslowski saß in seinem Büro. Er hatte die Aufgabenverteilung für das Team wie immer seinem Stellvertreter Tom Meyerbrinck überlassen und studierte jetzt noch einmal das dürftige Material, was sie bisher hatten, als Meyerbrinck mit zwei Bechern Kaffee das Büro betrat.

»Vielleicht braucht Van Bergen wirklich eine Frau«, bemerkte Meyerbrinck. Er stellte einen der Becher vor Koslowski auf den Schreibtisch.

Koslowski sah von der Akte auf.

»Woher willst du wissen, ob er nicht jemanden hat?«, erwiderte Koslowski kurz angebunden. »Nicht jeder schleppt sein Privatleben mit auf die Arbeit wie Grabowski, oder du.«

Meyerbrinck warf ihm einen vergnatzten Blick zu. Koslowski griff nach dem Kaffee und trank von dem heißen Gebräu, während Meyerbrinck sich auf seinen Stuhl platzierte und seinen Rechner hochfuhr.

Koslowski musterte Meyerbrinck.

»Deine Laune scheint nicht gerade die beste zu sein, wenn ich daran denke, wie du Kempa zurechtgewiesen hast. Was ist los mit dir?«

Meyerbrinck zögerte, pustete in seinen Kaffee und nahm schlürfend einen kurzen Schluck. Er stellte den Becher vor sich ab.

Leise sagte er: »Charlotte. Sie ist genervt, weil das Weihnachtsfest ins Wasser fällt. Unsere beiden Ältesten haben sich angekündigt, mit den Enkelkindern. Und ich werde mit einem Mord beschäftigt sein.«

»Warum hast du auch schon Enkelkinder? Bist erst vierzig, da ist man normalerweise noch nicht Opa«, versuchte Koslowski zu scherzen. Meyerbrinck sah ihn nur finster an.

»Sag ihr, sie soll sich nicht verrückt machen. Wir kriegen das schon geregelt.«

»Ach ja?« Meyerbrinck verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.

»Ja«, erwiderte Koslowski ernst, keinen Widerspruch duldend. »Und jetzt weiter. Sind die Jungs unterwegs?«

»Ja, wie von dir gewünscht. Sie klappern die 120 ab. Das Hochhaus, von dem der Schütze geschossen hat. Befragen die Mieter ob sie was gesehen oder gehört haben.«

»Und Frederieke?«

»Sammelt Informationen über das Opfer«, antwortete Meyerbrinck abwesend. Er hatte nur mit halben Ohr hingehört.

»Kannst du zu der Ehefrau von Mayer fahren? Sie dürfte inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen sein.«

»Mach ich.«

»Gut, hier ist ihre Telefonnummer. Eine Handynummer. Sie wohnt erstmal noch bei ihren Eltern.«

Koslowski reichte Meyerbrinck einen kleinen Zettel.

»Und du?«, fragte Meyerbrinck.

»Ich vertrödel mir hier die Zeit.«

Meyerbrinck sah Koslowski verunsichert an.

»Das war ein Scherz«, fühlte sich Koslowski bemüßigt zu sagen. »Ich arbeite noch zwei, drei Sachen auf. Und um zehn muss ich zum Chef, wie du weißt.«

Koslowski fing wieder an, in der Akte zu lesen.

»Alles klar«, sagte Meyerbrinck und trank seinen Kaffee aus. Er warf den leeren Becher in den Papierkorb und zog sich seine Jacke an.

»Bis nachher«, sagte er und stapfte durch die offene Tür.

Der König ist tot, lang lebe der König

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