Читать книгу Der König ist tot, lang lebe der König - J. U. Gowski - Страница 20
9.
ОглавлениеTom Meyerbrinck fuhr in Richtung Berlin Tegel. Er hatte Frau Mayer angerufen. Sie hatten sich für 9:30 Uhr in einem Café im Märkischen Zentrum verabredet. Das Navi hatte ihm eine Fahrzeit von 30 Minuten berechnet. Ihm war klar, dass das nicht klappen würde und er sollte recht behalten. Baustellen und Berufsverkehr ließen nur stockenden Verkehrsfluss zu. In solchen Momenten war Meyerbrinck froh, allein im Auto zu sitzen und nicht Koslowski dabei zuhaben, dessen Gesicht dann meist noch mürrischer wurde, als es ohnehin schon war.
Irgendwann wurde der Eichborndamm zum Wilhelmsruher Damm. Die beschaulichen alten Mietshäuser wichen den Hochhäusern des Märkischen Viertels. Bis Ende der 1950er Jahre befanden sich hier die »grünen« Slums, wie die Gegend auch genannt wurde wegen der Wohnlauben und der Notunterkünfte auf ungeordneten, oft unerschlossenen Grundstücken mit völlig unzulänglichen hygienischen Verhältnissen. Die Lehrstunde hatte Meyerbrinck gestern Abend von Koslowski erhalten, als er ihn nach Hause fuhr. Es erstaunte Meyerbrinck nicht mehr, dass Koslowski auch über diese Ecke von Berlin Bescheid wusste. Koslowski liebte seine Stadt. Allerdings, wenn man ihn nach einer bestimmten Straße fragen würde, und sei sie auch nur 200 Meter von seinem Wohnhaus entfernt, Koslowski würde nur ratlos mit der Schulter zucken. Bei dem Gedanken musste Meyerbrinck lächeln.
Meyerbrinck fuhr am S-Bahnhof Wittenau vorbei. An der Bushaltestelle drängelten sich die Menschen, die ins Märkische Zentrum wollten. Die jüngeren vermutlich zu Kaufland, Woolworth oder Saturn. Die alten zu den dort angesiedelten Arztpraxen, Apotheken und Optikern. Kinderwagen und Rollatoren im Wettstreit um die wenigen dafür vorgesehenen Plätze im Bus. Meyerbrinck verstand nie, warum sich alte Menschen freiwillig in den Berufsverkehr stürzten. Sie hatten doch alle Zeit der Welt. Er bog in den Senftenberger Ring ein und parkte wenig später seinen Wagen auf dem Parkplatz neben der Schwimmhalle. Es war inzwischen 9:30 Uhr. Vermutlich wartete Frau Mayer schon im Café Blixen. Es befindet sich im vorderen Bereich des Einkaufscenters, hatte sie gesagt.
Er lief über den Brunnenplatz in das Center. Es waren schon viele Menschen unterwegs. Es schien, als würde sich hier die ganze Nachbarschaft auf ein Schwätzchen treffen. Meyerbrinck sah sich um. Weiter vorn entdeckte er eine Stele mit dem Lageplan vom Center. Nach einem kurzen Studium wusste er, in welche Richtung er laufen musste. Das Cafe Blixen nahm die Mitte der Haupthalle ein. Von dort gab es Zugänge zu KFC, Woolworth, Fielmann, einem Reisebüro und einem Bäcker mit Stehtischen. Meyerbrinck sah sich kurz um. Er hatte eigentlich an was anderes gedacht, als die Witwe das Café vorschlug. So etwas in Richtung klein, nett, plauschig. Es war das ganze Gegenteil, eine Bahnhofswartehalle. Er brauchte nicht lange um seine Verabredung zu entdecken, erkannte sie vom Foto wieder. Sie saß allein am äußersten Platz, fast am Ausgang. Blonde Haare, schmales Gesicht, die Nase gerötet. Er trat zu ihrem Tisch.
»Guten Tag, mein Name ist Tom Meyerbrinck.«
Sie blickte zu ihm auf und studierte stumm den Dienstausweis, den Meyerbrinck ihr vor die Nase hielt.
»Anna Mayer«, sagte sie einen Augenblick später.
Meyerbrinck setzte sich. Eine aufmerksame Kellnerin kam gleich auf ihren Tisch zugesteuert.
»Was darf ich ihnen bringen?«
»Eine Tasse Kaffee bitte, schwarz ohne Zucker.«, sagte Meyerbrinck und wandte sich dann an Frau Mayer: »Was möchten sie?«
Sie zögerte.
»Ich lade sie ein.«
Meyerbrinck setzte sein charmantestes Lächeln auf.
»Tee, haben sie Tee, schwarzen Tee?«,fragte sie die Kellnerin zaghaft.
»Ja sicher. Earl Grey oder Darjeeling«
»Darjeeling bitte«, antwortete sie.
»Kommt sofort.«
Die Kellnerin drehte sich um und lief zum viereckigen Tresen, um die Bestellung an den Barkeeper weiter zugeben.
»Von wo stammen sie?«, fragte Meyerbrinck plötzlich. »Aus Russland?«
Ihm war die leicht harte Aussprache aufgefallen.
»Kasachstan. Meine Familie fand es eine gute Idee.«
»Was?«
»Ihn zu heiraten. Er hat gutes Geld verdient. Meine Familie und mich unterstützt.«
»Wie haben sie sich kennengelernt?«
»Über das Internet. Es gibt da einschlägige Portale.«
»So eine Art Marktplatz?«
Sie wurde rot und nickte stumm.
»Er fing an, Geld zu schicken, kleine Summen, die uns aber sehr geholfen haben. Es gab keine Arbeit bei uns im Dorf. Die Kolchose hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dicht gemacht.«
»Und dann sind sie nach Deutschland gekommen.«
»Ja, erst ich. Allein. Meine Familie ist später nachgekommen. Er hatte Beziehungen.«
»Und wie lebt sie jetzt, die Familie?«
»Meine Schwester hat einen Job als Küchenfrau in einem Kindergarten. Mein jüngerer Bruder hat keinen Ausbildungsplatz bekommen und lebt wie meine Eltern vom Sozialamt und dem Geld, was ich ihnen gebe.«
»Haben sie einen Job?«
»Nein, ich bin…«
Sie sah Meyerbrinck verunsichert an »…war Hausfrau. Er wollte nicht, dass ich arbeiten gehe.«
»Aber wie konnten sie ihrer Familie Geld geben, wenn sie nicht gearbeitet haben?«
Sir rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.
»Ich habe immer etwas vom Wirtschaftsgeld abgezweigt«, kam ihre Antwort leise.
»Wie viel war das ungefähr?«
»Fünfzig Euro.«
»Wie das?«, entfuhr es Meyerbrinck und sah sie erstaunt an.
»Mit dem was ich seit Kindesbeinen gelernt habe: Disziplin und mit dem wenigen, was man hat, das Beste machen.« Es schwang Stolz in ihrer Stimme.
Sie lächelte ihn an. Auf einmal wirkte sie nicht mehr wie ein verhuschtes Häschen auf Meyerbrinck.
»Er gab mir immer genau Hundertfünfzig Euro die Woche zum Einkaufen. Für sein tägliches warmes Essen, was ich ihm bereitete, für die normalen Lebensmittel wie Brot und Aufschnitt und sein tägliches Bier. Ich suchte die preisgesenkten fast abgelaufenen Lebensmittel bei Kaufland oder Netto heraus und entfernte Preise von den Verpackungen. Ich nutzte die Werbeangebote aus den wöchentlichen Flyern. Donnerstags und samstags findet draußen auf dem Brunnenplatz immer ein kleiner Markt statt. Da kauf ich auch manchmal ein. Da ist dann ein Inder mit Textilien und die Chinesen mit Pfennigartikeln. Man bekommt aber auch frische Eier und Käse, Obst, Gemüse und Spreewälder Gurken aus dem Fass. Ab und zu ist auch ein Fischwagen da und einen Brot- und Kuchenstand gibt es auch. Alles was ich mehr einsparte, über die fünfzig Euro, legte ich beiseite. Für den Notfall, als Reserve, falls ich mal nichts Preiswertes finden konnte. Er verlangte zum Glück nie einen Kassenzettel.«
Die Kellnerin trat an ihren Tisch und platzierte die Getränke. Tom Meyerbrinck zückte sein Portemonnaie und reichte der Kellnerin das Geld. »Stimmt so.«
»Danke«, sagte die Kellnerin erfreut und steckte das Geld ein. Als sie wieder alleine waren, sah Meyerbrinck Anna Mayer forschend an.
»Haben sie ihren Mann geliebt? Er war ja bedeutend älter als sie.«
Sie lehnte sich zurück, sah ihn nicht an, fixierte ihre Teetasse.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Meyerbrinck antwortete nicht.
Sie fuhr fort: »Er hat uns aus dem Elend, Hunger und Kälte geholt. Hier haben wir zu essen, ein warmes Heim. Was ist schlecht daran?«
Meyerbrinck schwieg. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. Er blitzte nur kurz auf, dann sagte sie leise: »Sie können das nicht verstehen.«
Meyerbrinck nickte und sagte besänftigend: »Sie haben Recht. Ich kann mir kein Urteil erlauben.«
Sie schwieg.
Meyerbrinck wartete einen Moment, dann fragte er: »Was ist gestern Abend passiert?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie nach einer Weile leise. »Ich war in der Küche und plötzlich hörte ich etwas klirren und einen kleinen Schlag gegen die Wand. Ich bin in das Zimmer gelaufen und dann sah ich das ganze Blut an der Wand.« Sie schluchzte auf.
Aus ihrer Handtasche kramte sie eine Packung Taschentücher hervor, zupfte eins mit spitzen Fingern heraus und schnäuzte sich.
Meyerbrinck sah sie mitfühlend an.
»In den Tagen davor, ist ihnen da irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? War ihr Mann beunruhigt, irgendwie anders als sonst?«
Sie legte den Kopf schief und überlegte.
»Eigentlich nicht. Vielleicht war er gestern etwas gereizter als sonst.«
»Hatte er Feinde?«
»Er war sicherlich nicht der einfachste und liebenswerteste Mensch, aber Feinde, die seinen Tod wünschen? Nein!«, antwortete sie bestimmt.
»Was machte er eigentlich beruflich?«
»Gar nichts. Er war Pensionär.«
»Okay. Was machte er in der Freizeit?«
»Nachmittags ging er meist in seine Stammkneipe, den Western Saloon neben dem Fontanehaus. Er hatte eigentlich keine Freunde, nur lose Bekannte. Abends saß er im Wohnzimmer und sah fern.«
»Sonst nichts weiter?«
»Doch«, fiel ihr nach einer kurzen Überlegung ein. »Es gibt da so eine Gruppe, in der er Mitglied war. Irgendetwas Ehrenamtliches. Sie trafen sich einmal im Monat.«
Meyerbrinck sah sie neugierig an.
»Hat die auch einen Namen?«
»Ja, sie nennen sich Freunde des Märkischen Viertels.«
Meyerbrinck zog einen kleinen Notizblock aus seiner Manteltasche und notierte sich den Namen. Er fragte sich, ob das die militante Gruppierung war, von der Van Bergen gesprochen hatte. Anna Mayer entfernte inzwischen den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn vorsichtig auf dem bereitgestellten Tellerchen ab.
»Haben sie Namen, oder kennen sie die anderen Mitglieder.«
»Namen hab ich leider nicht. Sie waren zu siebent und zwei oder dreimal bei uns. Ich musste dann immer belegte Brötchen machen und das Bier aus dem Kühlschrank bringen.«
»Die Männer würden sie aber wiedererkennen?«
»Sicher. Sie wohnen fast alle hier im Viertel. Der eine ist nicht mehr so gut zu Fuß. Ein Widerling mit Glubschaugen und dicken Lippen. Fährt so ein Elektromobil. Bei dem letzten Treffen bei uns hab ich den allerdings nicht gesehen. Vielleicht war er krank.«
Sie griff zur Teetasse und trank einen Schluck. Meyerbrinck tat es ihr nach.
»Wann können sie wieder in ihre Wohnung zurück?«, wechselte Meyerbrinck das Thema.
»In zwei Tagen, hat die Reinigungsfirma gesagt. Dann sieht alles so aus wie vorher. Als ob das so ginge.«
Sie schluchzte leise. Wobei sich Meyerbrinck nicht im Klaren war, was der Grund war. Selbstmitleid, der tote Ehemann, die verunreinigte Wohnung, die Situation insgesamt oder die Frage, wie es nun für sie und die Familie weitergehen sollte. Meyerbrinck sah sie mitfühlend an und schwieg.
»Was für ein Leben! In ein fremdes Land geholt, um dann zwischen Zweiraumwohnung und Einkaufszentrum zu pendeln. Sie war mehr Bedienstete als Ehefrau.«
Meyerbrinck saß mit Koslowski wieder im Büro. Auf Koslowskis Schreibtisch lagen die Mappen mit den Berichten, die ihm Van Bergen gegeben hatte. Er war gerade dabei gewesen sie zu studieren, als Meyerbrinck ins Büro geplatzt war.
»Und trotzdem scheinbar besser als das, was sie vorher hatte«, sagte Koslowski ohne dabei den Kopf zu heben.
»Bist du sicher, dass sie das auch so sieht?«, erwiderte Meyerbrinck. Koslowski sah ihn an.
»Wie sooft ist es die Wahl zwischen Hunger und dem Preis der Freiheit. Ich kann dir sagen, wie sich die meisten Menschen entscheiden würden. Aber trotzdem ein interessanter Einwand. Meinst du, sie kommt als Auftraggeberin für den Mord in Frage?«
»Du denkst, weil sie Russin ist, hat sie zwangsläufig Kontakte zur russischen Mafia? Was wäre das Motiv? Die Witwenrente?«, fragte Meyerbrinck bissig.
»Das hab ich nicht gemeint. Wie wirkte sie auf dich?«
»Erstmal mitgenommen. Und auf den ersten Blick schüchtern, fast devot. Aber ich denke, sie kann auch anders.«
Meyerbrinck dachte an den wütenden Blick von ihr.
»Gut. Wir brauchen mehr Informationen über sie, über ihre Ehe. Hat sie einen Liebhaber. Gibt es eine Lebensversicherung usw.? Frederieke soll sich diese Internetplattform anschauen, über die es die ersten Kontakte gegeben hat. Kümmerst du dich darum?«
Meyerbrinck sah ihn scheel an. War das eine Bitte?
»Kuck nicht so. Ich kümmere mich um die sogenannten Freunde des Märkischen Viertels. Hab einen Termin mit dem Herrn Schulz. Van Bergen scheint Druck gemacht zu haben. Schulz hat mich um ein Treffen gebeten. Aber wenn er was von uns will, muss er ein paar Infos ausspucken.«
»Der wird uns nur ein paar Krümel hinwerfen. Nichts weiter«, unterbrach ihn Meyerbrinck.
Koslowski verdrehte die Augen.
»Weiß ich doch, Tom. Interessant wird sein, was für gequirlte Kacke er uns erzählen will und noch viel wichtiger: Was er nicht erzählt!«