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Brot und Geburt

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Die Häuser auf dem Land in der Gegend um Raqqa sind in der Regel sehr großzügig geschnitten. Alle Zimmer gehen von einem Innenhof ab, der im Sommer als Terrasse genutzt wird. Jedes Haus ist von mindestens einem halben Hektar Land umgeben, auf dem sich Olivenhaine, Weinstöcke oder auch Gemüsefelder befinden. Auch unsere Familie erntete im Sommer hier Tomaten, Auberginen, Zucchini, Paprika und Okraschoten, im Winter Rettich.

Normalerweise verfügt jedes Haus über vier oder fünf Räume, alle ebenerdig und mindestens fünfundzwanzig Quadratmeter groß. Der arabischen Tradition entsprechend besteht die Einrichtung oftmals nur aus einem großen buntgewebten Teppich und einer Vielzahl von Sitzkissen, die rundum an den Wänden ausgelegt werden. Am Abend kommen oft Verwandte, Freunde und Nachbarn zu Besuch, manchmal mehrere Gruppen auf einmal. Sie erscheinen spontan, einfach dann, wenn es ihnen in den Sinn kommt. Dann stehen sie vor der Tür, rufen laut „Besitzer des Hauses!“ und finden sogleich Einlass. Die Gastfreundschaft gebietet es, dass allen Besuchern gleich Tee und Kaffee angeboten wird. Im Sommer sitzt man dann gemeinsam draußen auf der Terrasse, vor allem nachts, wenn oft noch über dreißig Grad herrschen. Im Winter kommt man im großen Gästeraum zusammen und versammelt sich um die improvisierte Ölheizung. Entgegen dem weit verbreiteten westlichen Klischee sitzen Frauen und Männer hierbei immer zusammen, unterhalten sich und genießen das Beisammensein.

Meine Mutter weiß nicht, wann genau ich geboren wurde. Natürlich ist das Datum in den Familiendokumenten verzeichnet, aber sie kann weder schreiben noch lesen. Wenn sie sich also mit anderen über meine Geburt unterhält, nennt sie keine Jahreszahl, sondern verbindet das immer mit anderen Ereignissen aus jenem Jahr. Zu einer Freundin sagt sie dann so etwas wie: „Jabbar kam im gleichen Jahr auf die Welt, als dein Vater starb.“

Ich habe ihr bei meiner Geburt keine Schmerzen bereitet, so erzählt sie mir immer, noch sonst das Familienleben durcheinandergebracht. Sich selbst kann man natürlich nicht dabei beobachten, wie man auf die Welt kommt, aber das Leben hat mir das einzigartige Geschenk gemacht, die Geburt meiner kleinen Schwester miterleben zu dürfen. Das war 1998 und ich war gerade neun.

An jenem Tag bin ich am Nachmittag aus der Schule nach Hause zurückgekommen. Meine Mutter lag im großen Wohnzimmer, und ich hörte, wie sie vor Schmerzen stöhnte. Sie lag auf einer alten, dünnen Matratze, die deshalb so zerschlissen war, weil sie schon seit Jahren benutzt wurde oder vielleicht auch, weil mein Vater sich für gewöhnlich am Nachmittag mit seinem schweren Körper darauf legte. Meine Mutter schrie und schaute nach oben an die Decke. Aber ich verstand nicht, was es dort zu sehen gab, außer der rauen Betondecke des Zimmers, aus der hier und da immer noch einzelne Eisenstangen ragten. Denn beim Bau des Hauses hatte das Geld nicht gereicht, um auch die Decke ordentlich zu verputzen.

Eine Stunde später kam meine Tante. Vielleicht hatte ein Nachbarskind sie gerufen. Sie sah, dass die Wehen bereits eingesetzt hatten und lief direkt in die Küche, um heißes Wasser in einer großen Schüssel zu holen.

Dann nahm sie zwei weiße Tücher aus einer Nische, die ursprünglich als Fenster geplant, aber dann doch zugemauert worden war und nun von meiner Mutter als Regal genutzt wurde. Ich kannte diese beiden Tücher genau: sie waren einmal Teil der Dschallabija meines Vaters gewesen; so nennt man im Nahen Osten das traditionelle hemdartige Gewand. Ich weiß nicht mehr, warum mein Vater sie nicht mehr tragen wollte. Möglicherweise war sie ihm zu klein geworden. Jedenfalls hatte er darin immer eine gute Figur gemacht. Die Schreie meiner Mutter wurden immer lauter. Tränen liefen mir die Wangen herunter wie Regentropfen an einer Fensterscheibe. Doch meine Tante beruhigte mich. „Deiner Mutter wird es gleich besser gehen und sehr bald bekommst du ein neues Schwesterchen oder Brüderchen“. Dann hörte ich einen Ruf von draußen. Es war unsere Nachbarin Dalal, die beste Freundin meiner Mutter.

Meine Mutter lag auf der Matratze, die beiden Frauen saßen neben ihr, die eine am Kopfende, die andere am Fußende. Was da passiert, habe ich als Kind nicht verstanden. Meine Mutter schrie vor Schmerz, während diese Frauen emsig durch den Raum eilten, ihre Aufgaben und Plätze wechselnd.

In der Zwischenzeit hatte ich mich auf einen der vielen bunten Teppiche im Raum gekauert und beobachtete aufmerksam, was geschah. Die Zeit verging und die Schreie meiner Mutter hielten an. Meine Tante und die Nachbarin waren besorgt, man sah das ihren Gesichtern an. Plötzlich hörte ich die Schreie eines Kindes. Die Nachbarin sagte: „Es ist ein Mädchen und es geht ihr gut“. Meine Mutter war ruhig geworden. Ich konnte mich aber dem kleinen, schönen Wesen noch nicht nähern. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich hatte Angst vor ihm. Aus einer mitgebrachten Tasche nahm meine Tante eine weiße Decke und wickelte meine Schwester darin ein. Sie lächelte.

Hatte ich damals bei meiner Geburt auch so ausgesehen? Hatten sich die Frauen ebenfalls über mich gebeugt, um den kleinen und weichen Körper in Augenschein zu nehmen? Und war die Decke, die meine Mutter nun zudeckte, die gleiche gewesen? Brachten alle Frauen ihre Kinder auf diese Weise zu Hause zur Welt? Warum hatte die Nachbarin meines Onkels zweimal ein Baby aus dem Krankenhaus mitgebracht?

Die Nachricht der Geburt meiner Schwester verbreitete sich in Windeseile und immer neue Nachbarinnen trafen ein, um das Neugeborene zu sehen und meine Mutter zu beglückwünschen. Alle zehn Minuten musste ich aufstehen und die Tür aufmachen. Das Zimmer war schließlich voller Frauen, und meine Mutter lag noch immer auf ihrer alten, zerschlissenen Matratze neben der Wand unter dem zugemauerten Fenster.

Weil damals der Preis für Metall so hoch war, hatte mein Vater schließlich seine Pläne aufgegeben, überall ordentliche Fensterrahmen einzubauen. Wozu braucht man auch so viele Fenster, hatte er sich wohl gedacht. Wichtiger war, dass es vor dem geschlossenen Fenster eine Fensterbank gab, auf der meine Mutter die Kleidung meiner Schwester und die Geschenke der Nachbarinnen ablegen konnte. Aber wo waren all die Geschenke geblieben, die all diese Frauen zu meiner Geburt mitgebracht haben? Hatte sie am Ende nichts davon behalten, sondern alles zum gleichen Anlass weiterverschenkt? „Wir haben nicht so viel Geld, um jeder Frau ein Geschenk zu machen, wenn sie ein Kind gebärt“, hatte mir meine Mutter einmal gesagt.

Ungefähr zwei Stunden nach der Geburt meiner Schwester hörte ich von draußen eine tiefe Stimme. Es war Vater.

Ich lief zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Trotzdem gab es ein lautes Geräusch. Doch niemand hörte es und sicher auch meine neugeborene Schwester nicht, denn die Stimmen der Frauen drinnen übertönten alles andere.

Mein Vater stand noch im Hof, unterhielt sich mit einem Passanten. In seinen Händen hielt er drei blaue Tüten. Mein ganzes Interesse galt plötzlich dem Inhalt dieser Tüten, in denen ich etwas Leckeres vermutete. Man konnte nämlich schon an der Form erkennen, dass in einer davon Bananen sein mussten. Ich versuchte vergeblich, sie aus seinen großen Fingern zu lösen. „Jabbar, lass jetzt die Tüten“, sagte mein Vater, als er seine Unterhaltung endlich beendet hatte. „Wie geht es deiner Mutter?“.

Ich berichtete ihm die Neuigkeiten und erzählte auch von den Frauen, die gekommen waren: Dalal, Kabna, Fatha, Zahra und all die anderen. Er lächelte und gab mir eine Banane aus der Tüte. Ich sollte sie jedoch draußen essen, um mich nicht mit den Nachbarskindern zu streiten, die sich natürlich alle im Haus bei ihren Müttern tummelten. Doch ich lief stattdessen in die Küche und legte die Banane in einen Topf, um sie später zu essen.

Mein Vater betrat das Wohnzimmer, ich folgte ihm. Die Frauen begannen mit den üblichen Glückwünschen, und wir dankten jeder einzelnen. Mein Vater setzte sich genau dorthin, wo ich vorher gesessen hatte und bat mich, ihm ein Glas Tee zu bringen. Ich reichte es ihm und lief dann schnell zurück in die Küche, um nach meiner Banane zu schauen. Als ich zurückkam, hatte mein Vater sein Glas bereits geleert. Er trinkt sehr gerne Tee. Allerdings bat er mich nicht, sein Glas wieder aufzufüllen, wie er sonst getan hätte, wohl weil er gerade so in sein Gespräch mit Zahra vertieft war. Sie unterhielten sich vermutlich über Dinge wie Weizenanbau, schlechte Ernten oder auch darüber, wie schwer es sei, die Kredite zu tilgen.

Auch die Nachbarin hatte ihren Tee fast ausgetrunken, so schien es mir. Da Zahra das Glas in ihrer großen, dunklen Hand hielt, konnte ich das nicht genau erkennen. Doch als sie sich an der rechten Schulter kratzte, musste sie es auf den Boden stellen. Es war tatsächlich schon leer. Ich holte also rasch die Teekanne, die in der Mitte des Raumes auf einem alten, schon etwas rostigen Tablett stand. Mein Vater sagte: „Gieß bitte vorsichtig ein, damit du nichts verschüttest und womöglich Zahras Hände verbrühst!“ Ich goss den Tee in hohem Bogen ein und da der Tee bereits gesüßt war, schäumte er. Viele Leute mögen ihren Tee so, gilt doch ein schöner Schaum auch als Zeichen der besonderen Wertschätzung der Gäste. Auf die gleiche Weise füllte ich danach auch Vaters Glas wieder auf.

Alle Gäste saßen auf dem Boden, denn in diesem Raum gab es weder Tisch noch Stühle, sondern nur einen großen Teppich sowie viele breite und schmale Kissen. Meine Mutter legte im Winter noch ein paar Matratzen auf den Teppich, um sich vor der Kälte zu schützen, die vom Boden her heraufkroch. Sie hatte sie von einem fahrenden Händler aus Aleppo erworben. Einen ganzen Monat hatte sie als Erntehelferin gearbeitet, um das Geld dafür zusammenzusparen.

Die Nachbarinnen machten sich schließlich eine nach der anderen wieder auf den Weg nach Hause. Und jede einzelne von ihnen wurde von meinem Vater persönlich verabschiedet. Manchmal begleitete er sie sogar bis zum Gartentor, um das Gespräch noch zu beenden. Als dann endlich alle fort waren, setzte er sich zu meiner Mutter, ganz nahe an ihren Kopf. „Wie geht es dir? Geht es dir besser? Ich habe Bananen mitgebracht. Iss davon, sie geben dir neue Kraft“. Als ich das hörte, erinnerte ich mich wieder an meine Banane. Ich rannte in die Küche und aß sie schnell auf, in der Hoffnung, ich bekäme noch eine neue.

Als ich zurück ins Zimmer kam, waren alle Besucher fort. Nur meine Mutter und mein Vater saßen noch auf ihren Plätzen. Mein Vater näherte sich meiner kleinen Schwester und berührte ihre feinen Gesichtszüge mit seinen großen Fingern. Sie schlief ganz ruhig weiter. Vater schälte eine der Bananen und reichte sie meiner Mutter. Ich legte mich neben sie. Sie biss ein kleines Stück von der Frucht ab. „Hast du auch eine Banane bekommen?“, fragte sie mich. „Ja, ich habe ihm schon eine gegeben“, antwortete mein Vater und machte sich sodann auf den Weg, um das Wudu durchzuführen, die rituelle Waschung. Denn er hatte an dem Tag bisher weder das Zuhr- noch das Asr-Gebet gesprochen, also das zweite und dritte der fünf obligatorischen Gebete im Islam.

Als er weg war, brach meine Mutter ein großes Stück von ihrer Banane ab und gab es mir. „Bring mir bitte ein Glas Wasser aus dem Thermobehälter“, bat sie mich dann. „Aber das Wasser ist nicht mehr kalt“, erwiderte ich. „Dann lauf rüber zu Dalal und hol neues Eis.“

Damals besaßen wir nämlich noch keinen Kühlschrank. Meine Mutter benutzte stattdessen kleine Metallbehälter, in denen sie bei der Nachbarin, die schon einen Kühlschrank hatte, Wasser gefrieren ließ. Im Nu war ich von dort zurück, füllte rasch einige Eiswürfel in unseren blauen Thermobehälter und schon nach fünf Minuten konnte ich meiner Mutter ein Glas kühles Wasser reichen. Sie trank es in einem Zug. „Wir werden das Mädchen Iman nennen“, sagte sie dann. „Was denkst du, ist das ein guter Name?“ Ich nickte eifrig.

In diesem Moment kam mein Vater zurück und ich rief rasch: „Wir werden das Baby Iman nennen!“.

„Wer hat denn diesen Namen ausgesucht?“

„Mama“.

„Ein schöner Name!“

Er bat mich, ihm seinen Gebetsteppich zu bringen. Ich zeigte mit meinem Finger darauf, denn er lag bereits neben ihm, unter dem großen Bild von Hafiz Al-Assad, dem Vater des heutigen Diktators. Ich weiß nicht, wie dieses Bild zu uns gekommen war, denn mein Vater war gar kein Mitglied der Baath-Partei. Ich habe es jedenfalls nie gemocht. Es war wie ein Fremdkörper in unserem Haus. Vielleicht hatte der Vorsitzende des örtlichen Parteibüros solche Porträts an die Haushalte verteilt? Höchstwahrscheinlich war es damals wie heute sicherer, so ein Bild an der Wand hängen zu haben. Das Bild stellte Hafiz in den 1980er Jahren dar, vermutlich etwa zur Zeit des Massakers von Hama im Jahr 1982.

Als Reaktion auf einen Aufstand der Muslimbrüder hatten damals die Regierungstruppen die etwa 350.000 Einwohner zählende mittelsyrische Stadt unter Beschuss genommen. Der Angriff begann am 2. Februar 1982. In den folgenden drei Wochen starben – die Schätzungen variieren – 20.000 bis 30.000 Menschen. Zehntausende weitere wurden verhaftet oder gelten bis heute als vermisst. Große Teile der Stadt, insbesondere der historischen Altstadt, lagen in Schutt und Asche. Bis heute sind die Ereignisse von damals – in Syrien werden sie nur als Ahdath Hama, „die Ereignisse von Hama“ umschrieben – ein Tabuthema.

In meiner Kindheit war das Porträt von Hafiz Al-Assad allgegenwärtig: in den Schulen, auf Straßenplakaten, sogar auf den Schulbüchern und -heften der Kinder. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 2000 ist es nun das Bild seines Sohnes Baschar, das überall zu sehen ist. Ich erinnere mich noch an ein dickes, blaues Heft, das von allen nur „Das Heft, das 100 Seiten hat“ genannt wurde. Vorne auf dem Umschlag war, kreisrund umrahmt, oben rechts ein Foto von Hafiz Al-Assad zu sehen. Genau das gleiche Bild erschien auch auf allen Zeugnissen. Damals wusste ich nicht, was dieser Name bedeutete, aber was ich wusste war, dass sein Name in der Schule bei jeder Feierlichkeit und jedem Morgenappell erklang.

Alle Schüler mussten sich zwei oder drei Mal am Tag in Reihen auf dem großen Schulhof aufstellen, nach Klassen geordnet, davor standen dann die Klassenlehrer und der Schulleiter. Außerdem gab es wie in jeder Schule Syriens einen jener Lehrer in Uniform, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Schüler einmal in der Woche in militärischen Dingen zu unterweisen. Dazu gehörte insbesondere der Waffengebrauch. In dem dazugehörigen Schulbuch stand zum Beispiel sehr viel über Kalaschnikows. Das russisch-sowjetische Maschinengewehr war auch in Syrien sehr bekannt und die Hauptwaffe der Armee. In unserem Buch gab es detaillierte Zeichnungen dazu, mit genauen Erläuterungen zu allen Einzelteilen, auch von anderen Gewehren und Pistolen. Wir mussten das ganze Zeug auswendig lernen.

Beim täglichen Morgenappel wiederholten wir alle Befehle im Chor und mussten dazu auch die dazu passenden Bewegungen machen. Manche Schüler waren dabei jedoch nicht so laut, wie es sich Militärlehrer und Schulleiter wünschten. Also mussten sie die Befehle so lange rufen, bis auch noch der letzte Mensch am anderen Ende des Dorfes ihre Stimmen vernommen hatte.

In Syrien mussten alle Schüler bis etwa 2005 Militäruniformtragen, bis zum Abitur. Erst auf Druck der UN wurde das abgeschafft. Später auf der Universität gab es dann zwar keinen Uniformzwang mehr, doch musste jeder Student zweimal während seines Studiums für drei Wochen in ein richtiges Militärlager. Wer an diesen Trainings nicht teilnahm, bekam seinen Abschluss nicht. Frauen waren allerdings von dieser Pflicht ausgenommen.

Einmal – ich war gerade in der 6. Klasse – kam ich zur spät zur Schule, weil meine Mutter am Tag davor meine Uniform gewaschen hatte, die deshalb noch halb nass auf der Leine hing. Ohne sie in der Schule zu erscheinen, wäre undenkbar gewesen. Ich lief also damit in die Küche, um sie so rasch es nur ging auf dem Küchenherd zu trocknen. Als ich endlich damit fertig war, hörte ich bereits von weitem den Morgenappell, obwohl mein Elternhaus einen Kilometer von der Schule entfernt liegt. Hastig zog ich mich an und rannte los.

Meine Schule wurde von einer großen Mauer umgeben. Aber durch ein Loch in der Mauer konnte ich den ganzen Schulhof überblicken. Denn ich wollte natürlich sichergehen, dass der Schulleiter nicht gerade eine Inspektionsrunde dort drehte, sondern hoffentlich noch in seinem Zimmer saß und Tee trank, wie er es für gewöhnlich während des Unterrichts tat. Ich nahm also all meinen Mut zusammen und ging weiter bis zum meterhohen schwarzen Haupttor. Es war natürlich bereits zu, aber glücklicherweise nicht abgeschlossen. Durch die Eisenstäbe sah ich nochmals ängstlich auf den Hof. Weiterhin kein Direktor in Sicht. Ich schlich also über den Hof, bis ich die Tür zu seinem Büro sehen konnte. Verschlossen. Also schnell weiter zu meinem Klassenzimmer. Ich klopfte, trat vorsichtig ein und erstarrte: dort stand der Schulleiter und sprach zur Schulklasse.

Ali war klein, untersetzt und kahl. Er kam nur gelegentlich zu uns, vor allem dann, wenn es Schwierigkeiten gab oder wieder einmal neue Regeln oder Vorschriften erlassen worden waren. Worum es allerdings an diesem Tag ging, weiß ich nicht mehr. Aber es gab ein Problem und Ali war sauer. Seine Stimme klang heiser. Wie üblich hatte er seinen Stock in der Hand, einen Besenstiel. Im Klassenraum war kein Ton zu hören, alle Schüler saßen ‚gesund‘. Diese Haltung beherrscht auch heute noch jedes syrische Schulkind. Es bedeutet, kerzengerade zu sitzen, die Arme vor dem Bauch verschränkt.

In jedem Klassenraum standen etwa fünfzehn Schulbänke, wie sie auch früher in Deutschland üblich waren. Daran saßen jeweils zwei bis drei Schüler. In einer Ecke des Klassenzimmers, vor der ersten Bankreihe, hatte sich der Lehrer aufgestellt, und vor ihm standen drei Jungs mit roten Gesichtern. Ich vermute, sie waren geschlagen worden. Einer von ihnen hatte zusätzlich einen kahl rasierten Streifen am Kopf, eine übliche Strafe für Schüler, die etwas Unerlaubtes getan hatten oder deren Haare länger als offiziell erlaubt waren.

Kaum hatte mich der Schulleiter erblickt, deutete er stumm auf die drei an der Wand stehenden Schüler. Er war an diesem Tag nur gekommen, um unsere Frisuren zu kontrollieren. Gott sei Dank hatte mich meine Mutter erst zwei Tage zuvor zum Frisör geschickt, sonst wäre es mir wie meinen Mitschülern ergangen. Ich folgte der Handbewegung des Schulleiters. Wir brauchten ihn nur aus der Ferne zu sehen, um Angst zu bekommen.

Ali fuhr in seiner Rede fort und zitierte dabei jeden Schüler einzeln zu sich nach vorne. Dabei bewegte er seinen Stock auf und ab und wir alle wussten dann schon, was uns blühte. Jeder von uns, so kündigte er an, werde nun sechs Schläge auf die Handfläche erhalten. Der erste Junge trat vor und streckte dem Schulleiter eine Hand entgegen. Als der Stock niedersauste, zog das Kind sie natürlich im Reflex zurück. Ali packte sie und drohte: „Jeder, der seine Hand wegzieht, kriegt drei Schläge extra verpasst“.

Schließlich war ich an der Reihe. „Warum bist du zu spät gekommen?“ Ich erzählte ihm die Geschichte von meiner nassen Schuluniform. „Das ist keine Entschuldigung“, sagte er nur knapp und bevor er noch seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich links und rechts eine sitzen. Ich setzte mich mit hochrotem Gesicht wieder auf meinen Platz. Mit festem Griff umfasste ich die kalten Eisenstangen des Schulpultes, um mit den Händen den Schmerz meiner glühenden Wangen wenigstens etwas zu lindern. So machten wir es jedes Mal, wenn wir bestraft wurden.

Wie ich bereits erwähnte, arbeiten die meisten Dorfbewohner in der Landwirtschaft. Allerdings ziehen es die jungen Leute in den letzten Jahren vor, einen Universitätsabschluss zu machen, statt in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten. Jedes Dorf hat mehrere sogenannte Schawische, Vorarbeiter, die im Auftrag der Grundbesitzer jeweils zusammen mit bis zu dreißig Frauen auf die Felder gehen und das Einbringen der Ernte beaufsichtigen sollen. Ein Tagesablauf sieht dann in etwa so aus, dass die Frauen von morgens früh gegen fünf Uhr bis mittags auf den Feldern arbeiten. Im Sommer wird es dann zu heiß, um weiter zu arbeiten. Deshalb ruht die Arbeit für drei Stunden. In dieser Zeit fahren die Frauen nach Hause, um sich auszuruhen und zu stärken. Am Nachmittag fährt das Ernteteam erneut raus, bis die Arbeit gegen sieben Uhr endgültig endet.

Einer meiner Onkel ist seit vielen Jahren ein solcher Schawisch. Noch immer habe ich das allmorgendliche Hupen seines weißen Honda-Transporters im Ohr. Er kam noch in der Dämmerung, um die Frauen im Dorf einzusammeln. Sie stiegen auf die offene Ladefläche, hockten sich hin oder blieben stehen. Täglich sah ich, wie sie mit meinem Onkel zur Arbeit fuhren und wieder zurückkehrten.

Oft hat mein Onkel mir von den Schwierigkeiten seiner Arbeit berichtet. Viele Frauen brachten ihre Probleme von zu Hause mit, und er musste dafür sorgen, dass sie während der gemeinsamen Arbeitszeit trotzdem miteinander auskamen. Trotzdem war mein Onkel immer fröhlich und deshalb auch bei allen beliebt. Viele Frauen wollten in seinem Team arbeiten, obwohl der Lohn nicht sehr hoch war und sie um jeden Bissen Brot kämpfen mussten. Sie waren dennoch zufrieden und sagten sich, es sei besser, im eigenen Land zu arbeiten, statt als Gastarbeiterinnen in den Libanon zu gehen.

Einige dieser Frauen waren Studentinnen, die in der Sommersaison zusammen mit ihren Müttern und Schwestern arbeiteten, um so ihr Studium zu finanzieren. Die Mütter jedoch haben zusätzlich viele andere Aufgaben. Dazu gehört auch, jeden Morgen in aller Frühe frisches Brot aus den Bäckereien zu holen. Diese öffnen bereits um vier Uhr und schließen um acht. Während dieser Stunden dienen sie zugleich als Treffpunkt und Nachrichtenbörse.

Wie gut duftete das Brot, das unsere Mutter uns von dort mitbrachte! Meistens bin ich nur deshalb früh aufgestanden, um es noch ofenwarm essen zu können. Begleitet nur von einem Glas schwarzen Tee, heiß und süß, war es der pure Genuss. Ich vermisse dieses morgendliche Ritual, diese Atmosphäre der Ruhe und Frische. Ich vermisse die Stimmen und das helle Lachen der Frauen auf ihren morgendlichen Wegen. Und den Joghurt, den unsere Mutter regelmäßig frisch ansetzte. Am meisten jedoch fehlen mir aber unsere Gespräche, wenn wir zusammen auf der Terrasse saßen und sie mir, in eine warme Decke gehüllt, beim Frühstück Gesellschaft leistete. Auch später noch, als ich bereits studierte und während der Semesterferien aus Aleppo nach Hause kam, habe ich diese Momente unter der Weinlaube sehr genossen. Manchmal stießen ein Nachbar oder eine Nachbarin dazu. Dann plauderten wir zu dritt über die Lebensmittelpreise, gemeinsame Bekannte und die Lage im Land, kurz über Allah und die Welt.

Raqqa an Rhein

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