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Unser Garten, der nicht geflüchtet ist

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Das Letzte, was ich bei meiner Flucht aus Syrien aus dem Busfenster heraus sah und woran ich auch hier in Deutschland noch alle zehn Tage denken muss, sind die Bäume neben unserem Haus.

Es waren einhundertneunundneunzig Olivenbäume, dazu fünf Granatapfelbäume und ein Feigenbaum, der auch heute noch der größte im ganzen Viertel ist. Ich nannte ihn den „Mann“, weil er, anders als die übrigen, „weiblichen“, Bäume, seine Früchte abwarf, bevor sie reif wurden. Wie jene blühte zwar auch er, und seine Feigen begannen auch zu reifen und ihre endgültige Farbe anzunehmen. Aber nach genau zwei Monaten fiel eine nach der anderen ab. Jeden Morgen fanden wir Hunderte auf dem Boden. Um den dicken, knorrigen Stamm herum lagen sie einen Zoll hoch.

Im Sommer breitete meine Mutter, um der Hitze im Haus zu entkommen, im Schatten dieses Baums eine alte, ausgefranste Matte aus. Kaum hatte sie sich darauf niedergelassen, kamen auch die Nachbarinnen eine nach der anderen an und setzten sich zu ihr. Manche hatten sich ein paar Küchen- oder Näharbeiten mitgebracht, die sie in dieser Gemeinschaft erledigen wollten. Fidda hackte Tomaten, meine Mutter klopfte mit einem langen, dünnen Stock die Wolle, Zahra stopfte ein Loch in der Kleidung ihres Mannes, und die Kinder spielten entweder zwischen den Olivenbäumen oder kletterten auf den Feigenbaum. Eines Samstags band meine Mutter eine Wäscheleine mit dem einen Ende an einen Ast des Feigenbaums, das andere befestigte sie an einem Pflock, den mein Bruder tief in den Boden gerammt hatte. Freitags und samstags hing diese Leine voller Kleidungsstücke, und diejenigen, die dort keinen Platz mehr fanden, breitete meine Mutter über die Zweige des Feigenbaums oder der fünf Granatapfelbäume daneben.

Einmal suchte ich dort am ersten Schultag der Woche ewig lange nach der Jacke meiner Schuluniform und konnte sie einfach nicht finden. Es war bereits sieben Uhr morgens, und durch die Sucherei verspätete ich mich immer weiter. Dreimal kletterte ich auf den Baum: Beim ersten Mal sah ich zwischen den Zweigen nach, beim zweiten inspizierte ich von oben, ob der Wind die Jacke vielleicht in die Nachbarbäume getragen hatte, und beim dritten wollte ich mich nur noch einmal vergewissern und jeden Zweifel ausschließen. Mein Freund Mahmud, der wie üblich an der Haustür auf mich gewartet hatte, ging schon einmal vor.

Als ich nach dem letzten Nachschauen eilig vom Baum hinuntersprang, blieb ich mit dem Fuß zwischen den Astansätzen am Stamm hängen und berührte dort etwas, das sich weder wie Blätter noch wie Erde anfühlte. Ich zog meinen Fuß wieder heraus, und da steckte meine Jacke zusammengeknüllt in einer Astgabel. Ich war mit der Schuhsohle genau auf das Bild von Hafiz Al-Assad gerutscht, das auf die linke Brustseite gedruckt war. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Mein Schuh hatte einen hässlichen Abdruck hinterlassen. Schnell nahm ich die Jacke mit ins Bad und wusch die beschmutzte Stelle gründlich mit Wasser und Seife aus. Mir zitterten die Hände. Was, wenn das Bild des Präsidenten so schmutzig blieb und alle Leute auf dem Schulweg es bemerkten, wenn der Direktor, der Lehrer und die übrigen Schüler es sahen?

Im ersten Durchgang bekam ich die Jacke nicht sauber, im zweiten aber konnte ich den Fleck zu drei Vierteln entfernen, und im letzten triumphierte ich endgültig über den Schmutz, und das Gesicht des Präsidenten strahlte wieder. Ich gelobte mir, niemandem davon zu erzählen, denn in Syrien haben die Bilder des Präsidenten picobello zu sein. Dafür zu sorgen ist auch für die Schulkinder wichtiger als der Unterricht.

Sein Konterfei ist, damals wie heute, an den Schulen allgegenwärtig: auf den Uniformen, Lehrbüchern, Heften und sogar auf den Stiften. Selbst über dem Schulhof sind lange Schnüre von Ast zu Ast gespannt, an denen sein Porträt befestigt ist. In jeder Klasse hängen über der Tafel drei Porträts, ein großes des Präsidenten in der Mitte und rechts und links zwei etwas kleinere von seinen Söhnen.

Dass es sich bei unserem Feigenbaum um ein männliches Exemplar handelte, das in seiner Sturheit jedes Jahr wieder sämtliche Früchte vor der Reife abwarf, ärgerte meinen Vater offenbar sehr. Dieses seiner Ansicht nach unnatürliche Fortpflanzungsverhalten war ihm derart zuwider, dass er dem Baum einmal sogar mit einer scharfen Axt einen großen Spalt in die Lende schlug und ihm ein Bündel abgeschnittener Zweige aufpfropfte, das er von einer Feige beim Haus meiner Onkel mütterlicherseits geholt hatte, die für ihre guten Früchte bekannt war. Ein ganzes Jahr warteten wir, ob der Baum jetzt wohl mit vielen Feigen schwanger gehen und sie nicht mehr abwerfen würde wie in den Jahren zuvor. Doch die Behandlung blieb wirkungslos.

Mein Vater beschloss, den Baum zu fällen. Am nächsten Tag jedoch nahm er davon wieder Abstand und versuchte es stattdessen mit einer neuen Methode, von der er bei einem neunzigjährigen Bauern namens Chalil gehört hatte. Der erklärte ihm nämlich, der Baum halte seine Früchte nicht bis zur Ernte fest, weil er an Eisenmangel leide ... Daraufhin fuhr mein Vater in die Werkstatt meines Bruders, der in der Nachbarstadt Mansura als Schmied arbeitete, und besorgte sich dort zwanzig Kilo Eisenabfälle und fünf Kilo dünne Eisenspäne.

Ich meinerseits karrte drei Fuhren Schafmist von dem großen Haufen heran, den meine Mutter drei Jahre lang aufgetürmt hatte, um ihn irgendwann einmal an einen Händler aus Hama zu verkaufen. Der zahlte nämlich einen besseren Preis für den Mist als der örtliche Händler. Der Mann hatte sich jedoch nie blicken lassen, dafür war der Krieg ausgebrochen, mein Vater hatte sämtliche Kühe und Schafe verkauft, und die Mistknödel blieben unter den Militärfahrzeugen Assads und des IS sowie später unter den amerikanischen Humvees kleben und wurden von ihnen in alle Richtungen verteilt. So wurde der Haufen in sieben elenden Kriegsjahren immer kleiner, und meine Mutter bereute es sehr, den Mist nicht an den örtlichen Händler verkauft zu haben. Dem Auftrag meines Vaters folgend griff ich zu Hacke und Spaten und legte die Wurzeln des Baums frei. Sie waren dick und hart und reichten tief in den Boden hinein.

Anschließend breitete ich, ebenfalls nach Anweisung meines Vaters, zuerst eine Schicht Eisen aus, dann eine Schicht Mist, dann wieder Erde, dann wieder Mist, dann Eisen, dann Erde, dann Eisen, dann Mist, dann wieder Erde. Danach rollten mir dreiundsechzig Schweißperlen vom Gesicht, zu denen jeder Hieb und Spatenstich seinen Beitrag geleistet hatte. Die Grube füllte sich, bis der Boden wieder so eben war wie zuvor. Mit der überschüssigen Erde legte ich eine große Baumscheibe um den Stamm an und wässerte sie.

In der Hoffnung, dass der Baum nun tragen würde und wir aus seinen Früchten Marmelade kochen, einen Teil an die Nachbarn und Verwandten verteilen, dem Bauern Chalil als Dank für seinen Rat etwas abgeben und den Rest verkaufen könnten, warteten wir ein weiteres Jahr. Der Baum blühte und setzte Früchte an. Und wie in den vergangenen Jahren fielen sie vor unseren Augen ab.

Da beschloss mein Vater, ihn abzusägen und von neuem emporwachsen zu lassen, vielleicht würde er dann sein Verhalten ändern und zur Frau werden, die wie die übrigen Bäume trug. Mit einer Zweimannsäge, die er sich von unserem Nachbarn Hussain geliehen hatte, sägten er und mein großer Bruder, der über kräftige Muskeln und einen festen Willen verfügt, drei Stunden lang an dem Baum herum, bis er bezwungen war und umsank.

Als meine Mutter mit einem großen Tablett auf dem Kopf, von dem es nach gekochten Auberginen und geschnittenen Gurken duftete, aus der Küche kam, sah mein schweißüberströmter Vater sie mit dem triumphierenden Blick eines Mannes an, der gerade einem Baum, den ich seit meiner Kindheit kannte, das Leben genommen hatte. Die Gelegenheiten, zu denen ich in seine Äste geklettert war, waren zahlreicher gewesen als die Seiten in meinen Schulbüchern, zahlreicher als die Bilder von Hafiz Al-Assad oder später von Baschar, die darin abgedruckt waren.

Zwei Jahre später jedoch war der Baum wieder so groß, als wäre er niemals abgesägt worden, trug die mir vertrauten Früchte und warf sie bald darauf wieder ab. Da wurde mein Vater so wütend, dass er beschloss, den Baum erneut abzusägen und zusätzlich noch einen Kanister Diesel darüber zu gießen und ihn niederzubrennen, damit er nie wieder hochwachsen könnte. Gesagt, getan.

Die Rauchsäule stieg bis in den Himmel und war noch am anderen Ende des Dorfes zu sehen wie eine Seele, die in den Himmel auffuhr. Zwei Jahre später allerdings war der Baum aus dem Stumpf wieder ausgetrieben, als wäre er nie abgesägt und verbrannt worden und als hätte er nie Diesel getrunken. Und wie früher wurde er wieder zum „Mann“, der seinen Früchten kein Leben gönnte.

Im Jahr 2004 erweiterten wir die Mauer des Gartens um dreißig Meter in Richtung Osten. Dort lag kahles, ödes Land, das niemandem wirklich gehörte. Wir setzten viele junge Olivenbäume, sodass wir schließlich einhundertneunundneunzig Olivenbäume, einen großen Feigenbaum und fünf Granatapfelbäume besaßen. Der Abstand zwischen den Bäumen war mit drei Metern so groß, dass wir alle zwei Jahre mit dem kleinen Trecker eines Verwandten zwischen ihnen hindurchfahren konnten, um den Boden zu pflügen.

Meine Mutter hielt meinem Vater ständig vor: „Du hättest vier Meter Abstand lassen sollen, dann könnten wir jetzt mit einem großen, starken Traktor pflügen, der auch das Unkraut ausreißen und den Boden tiefer umwerfen würde.“ Mein Vater hatte darauf immer dieselbe Antwort: Vier Meter Abstand zwischen den Bäumen hieße weniger Bäume und infolgedessen weniger Oliven.

Im Jahr 2012 half ich meiner Familie bei unserer letzten Olivenernte vor dem Ausbruch des Krieges und unserem Aufbruch ins Exil. Jedes Jahr hatten wir vier Tage für die Ernte reserviert. Nacheinander fanden sich Nachbarn und Freunde ein, einige kletterten auf Leitern oder an den Stämmen hoch und schüttelten die Oliven auf den Boden, andere sammelten sie in große Säcke, und eine dritte Gruppe setzte sich kurz zu uns, trank im Schatten der Bäume mit uns Tee, erzählte ein paar Geschichten und ging dann wieder ihrer Wege.

Meine Mutter wollte nicht, dass wir mit langen Stöcken von unten gegen die Zweige schlugen, um an die Oliven zu kommen. Sie fürchtete, die Bäume könnten aufhören zu tragen oder im kommenden Jahr weniger Früchte ansetzen. Als wir mit der Ernte fertig waren, standen die großen Säcke mit den Oliven ungeordnet unter den Bäumen verteilt. Mein Vater bat mich, sie zu zählen. Es waren fünfzig volle Säcke und ein halb gefüllter. Mein Vater rief seinen Bruder an, der einen Transporter besaß, und verabredete mit ihm, in zwei Tagen zu der Olivenpresse in Aleppo zu fahren.

Ich sollte ihn begleiten, um ihm zu helfen. Der Weg war gefährlich, es gab Meldungen, dass es zwei Tage zuvor Kämpfe gegeben hatte. Mein Onkel kannte jedoch eine Abkürzung durch die Dörfer, auf der man den Kampfgebieten und den Bombardements durch die Flugzeuge ausweichen konnte. Bis auf einen großen Sack Oliven, den wir als Vorrat für das dritte Kriegsjahr 2013 behielten, luden wir alles ins Auto.

Mein Vater ließ sich keine Furcht anmerken, er erzählte uns unterwegs, wie wir uns mithilfe bestimmter Notmaßnahmen vor den Milizen oder den Scharfschützen der Armee in Sicherheit bringen könnten. Es waren alles halb scherzhafte Fantastereien. „Die Dauer des Lebens liegt in Gottes Hand, was Gott bestimmt hat, wird geschehen“, warf mein Onkel von Zeit zu Zeit ein.

Uns hatte Gott bestimmt, nach vier Stunden die Olivenpresse zu erreichen. Es war fast leer dort. Einer der Arbeiter brachte uns eine Kanne Tee, und wir setzten uns, um zu warten, bis das Öl fertig war. Der Mann berichtete, dass die Presse seit mehr als einer Woche keine Kunden mehr hatte. „Alle haben Angst, zu uns zu kommen, weil wir hier wie auf dem Präsentierteller sitzen.“

Die Milizen waren überall, und ein Flugzeug warf planlos seine Bomben ab. Am Tag zuvor hatte es drei mit Säcken voller Oliven beladene Autos bombardiert, die aus Manbidsch kamen.

Als die Oliven fertig gepresst waren, setzte mein Onkel den Wagen bis an die Stelle zurück, wo die dreißig Kanister aufgeladen werden sollten. Die Ernte war in jenem Jahr sehr gut ausgefallen. Mein Vater verkaufte sämtliche Kanister, bis auf fünf, die er für uns und die Familie meines Bruders behielt und einen, den er einem Geheimdienstoffizier als Bestechungsgeschenk gab. Der sollte ihm ein Führungszeugnis besorgen, das er bald benötigen würde, wenn er seine Reise ins Exil nach Beirut antrat.

2013, genau am Neujahrsmorgen, frühstückte ich zum letzten Mal mit meiner Mutter unter der Weinlaube, die den Haupteingang unseres Hauses beschattete. Meine Mutter hatte gerade frisches Brot aus dem Dorfofen geholt, die Luft war mild, und es wehte ein sanfter Wind. Wie der Himmel aussah, weiß ich nicht mehr. Die Erinnerung an diese Weinblätter und ihre gelbe Farbe bietet mir jedoch bis heute Zuflucht, hier im Exil denke ich immer wieder an sie zurück.

Meine Mutter kam mit einem großen Tablett mit Milch, Oliven, Thymian, Käse und drei Fladen heißem Brot, dazu eine Kanne Tee und zwei französische Teegläser, die sie zehn Tage zuvor einem fliegenden Händler aus Ägypten abgekauft hatte. Ich nahm damals nur Brot und Tee. Man muss einmal Brot gegessen haben, das frisch aus dem Ofen kommt, um zu wissen, wie das schmeckt. Diesen Weizengeschmack wollte ich mit ins Exil nehmen, ihn neben dem Bild der Weinblätter im Gedächtnis bewahren.

Auch die Bilder der Baumwoll- und Maisfelder trage ich in mir, das Aussehen der Spitzhacken der Bauern ebenso wie das Schwarz ihrer Gummistiefel und den Geruch nach Feigen und Erde in ihren Kleidern, wenn sie vom Bewässern der Felder heimkommen. Außerdem sind die verschiedenen Weißtöne der Schafwolle mit mir ins Exil gegangen, die Farbe der Gräser im Sommer und die der Feigen im Winter. Dazu die Zahl der Schafe, die ich vor zehn Jahren in den Sommerferien gehütet habe, nebst all ihren verschiedenen hellen oder schwarzen oder schwarz-weiß gefleckten Gesichtern. Und die Erinnerung an die Zeit der Baumwollernte, daran, wie ich zusammen mit meinem Onkel den Ertrag der einzelnen Arbeiterinnen abwog. Eine gute, schnelle Pflückerin brachte es am Tag – von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends – auf einhundert Kilo und fünf Dollar Verdienst.

Am Ende des Tages waren ihre Hände pechschwarz vom Umdrehen und Festhalten der Blätter, Stiele und Kapseln der Baumwollsträucher. Abends kletterten alle Frauen auf einen Lastwagen, der sie nach Hause brachte. Sie mussten stehen, damit so viele von ihnen wie möglich auf der Ladefläche Platz fanden. Die ganze Plackerei hatte erst dann ein Ende, wenn der Aufseher zum Abschluss der Erntezeit mit einem Heft und einem Sack voller Geld seine Runde bei den Häusern der Pflückerinnen machte. Er rechnete alle Arbeitstage zusammen und bezahlte jede nach ihrer Mühe.

Raqqa an Rhein

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