Читать книгу Der Kopf von Ijsselmonde - Jacob Vis - Страница 5

2

Оглавление

Sechs Halogenlampen beleuchteten die Grube, in der Westerhof den Kopf gefunden hatte. Sie war rundum mit rotweißem Flatterband abgesperrt. Bunschoten hockte neben der Absperrung und erteilte einem Polizisten Anweisungen, der eine Lampe in das Loch richtete. Westerhof stand bei Jan van Dijk, dem Förster des Haafterveen. Van Arkel, Vermeer und Jules Berveas, der Staatsanwalt, sprachen mit einem Hundeführer, der einen Mecheler Schäferhund an der Leine hielt.

»Meinen Sie, dass es etwas nützt?«, fragte Berveas.

Der Hundeführer verzog skeptisch das Gesicht. »Für eine erfolgreiche Suchaktion braucht man Regen. Und Helligkeit. Eigentlich ist es schon zu dunkel. Aber wir werden es versuchen. Wenn Ihr Mann hier in der Nähe liegt, findet er ihn. Garantiert.«

»Gut«, sagte van Arkel. »Worauf warten Sie?«

»Dass Sie weggehen«, sagte der Beamte. »Sie stehen auf seiner Spur.«

Vermeer feixte. Van Arkel trat beiseite. Der Hund rannte los, an ihm vorbei. Er trabte einmal im Kreis um die Fundstelle herum und verschwand in der Dunkelheit.

»Es ist sinnlos«, bemerkte Vermeer. »Er sieht ja gar nichts.«

»Der Hund braucht nur seinen Geruchssinn«, erwiderte van Arkel.

»Aber sein Herrchen muss ihm hinterherrennen. Was hoffst du eigentlich zu finden?«

»Den Rest.«

»Schon klar. Aber dann? Jetzt um diese Zeit zerstört man eher Spuren, als dass man eine kopflose Leiche findet.«

»Warten wir erst einmal ab«, sagte Berveas. Er trug eine Wachsjacke und einen grünen Hut, durch den sein pausbäckiges Gesicht noch rundlicher wirkte.

Aus dem Wald ertönte ein Ruf. »Licht!«

Zwei Beamte richteten die Scheinwerfer auf die Stelle, an der der Hund grub. Die Erhebung erinnerte ein wenig an einen Grabhügel, vor allem im unwirklichen Schein der Lampen. Westerhof und van Dijk betrachteten mit skeptischen Blicken den eifrig wühlenden Hund.

»Was ist das für ein Hügel?«, fragte Berveas.

»Ein alter Fuchsbau«, antwortete van Dijk.

»Ohne Fuchs?«

»Den hat Meneer van Beuningen vor ein paar Wochen erschossen.«

»Könnten keine Jungen drin sein?«

»Nein, Meneer. Und was jetzt noch beim Muttertier hockt, geht ein, bevor der Winter kommt.«

Berveas beobachtete gespannt den Hund, der ein tiefes Loch in den Bau gegraben hatte. »Ich glaube, dass er etwas gefunden hat.«

Der Hund knurrte, als sein Herrchen ihn zurückzog. Zwei Beamte holten Schaufeln aus dem Auto und fingen ungeschickt an zu graben. Westerhof und van Dijk nahmen ihnen schweigend die Schaufeln aus den Händen. Westerhof schabte die Erde an der Seite der Grube weg und enthüllte den Ärmel von etwas, was wie ein karierter Mantel aussah. Aus dem Ärmel schauten zwei dünne Knochen hervor. Was dahinter lag, stank entsetzlich. Die beiden Männer gruben vorsichtig um die Leiche herum. Diese Leiche hatte einen Kopf: den halb verwesten Schädel einer Dänischen Dogge.

»Jesus!«, sagte van Arkel.

»Das ist nicht Jesus«, erwiderte van Dijk allen Ernstes. »Das ist Polly.«

»Wer zum Teufel ist Polly?«

»Die Dogge von Meneer van Beuningen. Hatte immer eine karierte Decke um. Vor zwei Wochen ist sie gestorben. Meneer hat sie selbst begraben, der Jagdaufseher war dabei. Ich wusste nicht, dass er sie in den alten Bau gelegt hat.«

»Schaufelt bitte dieses Loch zu«, sagte Berveas. »Inspecteur, ich glaube, wir sollten die Suche abbrechen.«

Vermeer versammelte die Kollegen um sich und sagte: »Für heute Abend hören wir auf. Ich brauche zwei Freiwillige, die über Nacht hier bleiben. Freizeitausgleich laut Nachttarif.«

»Können wir uns den Zuschlag nicht auszahlen lassen?«, fragte ein Kollege.

»Geht auch. Hundertfünfundzwanzig Prozent.«

»Davon bleibt mir nicht mal die Hälfte übrig«, beklagte sich der Beamte. »Ich bleibe gegen Freizeitausgleich.«

»Okay, Schilder bleibt hier. Wer sonst noch?«

»Ich«, sagte Mirjam.

Van Arkel und Vermeer schauten sich an.

»Wir brauchen dich bei der Besprechung«, sagte Vermeer.

»Ihr könnt mir ja morgen berichten«, sagte Mirjam. »Ich bleibe heute Nacht hier.« Sie lachte beim Anblick ihrer skeptischen Gesichter. »Roelof Schilder passt schon auf mich auf. Und ansonsten haben wir ja noch den Geist von van Beuningens Dogge.«

»Hast du deine Dienstwaffe dabei?«, fragte van Arkel.

»Natürlich.«

»Warm genug angezogen?«

»Mein Gott, ja. Ich weiß wirklich, was ich tue.«

»Sie ist ein großes Mädchen, Ben«, sagte Vermeer.

»Ronnie war ein großer Junge«, entgegnete van Arkel. »Polly war ein großer Hund. Gut, Brigadier van Roon bleibt auch hier. Ihr meldet euch um drei Uhr.«

»Machen wir«, sagte Mirjam. »Ist im Bus noch Kaffee?«

»Ich sorge dafür, dass ihr heute Abend noch etwas Warmes bekommt«, versprach van Arkel. Aus der Gruppe der Beamten ertönte unterdrücktes Gelächter. »Dafür sorgen die schon selbst«, sagte einer.

»Ja«, fügte ein anderer hinzu. »Für so einen Nachtdienst würde ich mir glatt Urlaub nehmen.«

»Morgen Nacht darfst du«, sagte Vermeer.

»Kleiner Scherz«, erwiderte der Kollege versöhnlich.

»Ist registriert«, sagte Vermeer. »Van Roon und Schilder heute Nacht. Morgen Nacht Koenders. Noch jemand, der morgen Nacht Urlaub will?« Niemand sagte etwas. »Pech, Koenders. Morgen stehst du alleine hier.«

»Ich sagte doch, dass es ein Scherz war«, wehrte sich Koenders.

»Brigadier van Roon mag keine Scherze im Angesicht des Todes«, sagte van Arkel. »Ich auch nicht. Gute Wache.«

Mirjam saß auf der vorderen Sitzbank des Busses und zündete sich eine Zigarette an. Schilder setzte sich neben sie. Mirjam hielt ihm das Päckchen hin. Schilder schüttelte den Kopf. »Danke. Ich habe aufgehört.«

»Vernünftig. Stört es dich, wenn ich rauche?«

»Nein.« Schilder schaute sie von der Seite an. »Warum wolltest du heute Nacht Dienst tun? Glaubst du, der Mörder kommt zurück?«

»Nein.«

»Warum denn dann?«

Mirjam antwortete nicht sofort. »Weil ich wissen will, wie es nachts im Wald ist«, sagte sie schließlich.

»Mein Opa hat die Bäume hier gepflanzt«, sagte Schilder.

»Dein Großvater?«, fragte Mirjam interessiert. »Erzähl.«

»Es war kurz nach dem Krieg«, sagte Schilder. »Er war arbeitslos und damals galt man als Versager, wenn man keine Arbeit hatte.«

»Heute auch.«

»Wenn ich ihm glauben soll, ist das heute ein Paradies verglichen mit damals. Man drückte ihm zusammen mit ein paar Hundert anderen eine Schaufel in die Hand. Erst Gräben ausheben, dann Bäume pflanzen: sechzig pro Stunde. Hinter den Pflanzern lief ein Aufseher her, der an den Bäumchen zog, und wenn sie sich bewegten, mussten sie die ganze Reihe nochmal machen.«

»Das waren noch Chefs.«

»Fand mein Opa auch. Eines Tages haben sie den Aufseher bis zum Hals ins Moor eingegraben und ihn den ganzen Tag stecken lassen.«

»Wie ist das ausgegangen?«

»Er ist abgehauen und nie wiedergekommen. Der Kerl, den sie danach kriegten, war noch schlimmer. Versteckte sich hinter einem Baum und guckte, ob die Leute auch arbeiteten.«

»Harte Zeiten«, sagte Mirjam. Sie drückte ihre Zigarette aus und verließ den Wagen. Sie kannte die Geschichte des Haafterveens, des Stadtwalds von Ijsselmonde. Der älteste Teil stammte aus den Zwanzigerjahren. Kurz nach dem Krieg war ein großes Waldstück hinzugekommen. Sämtliche arbeitslosen Männer in Ijsselmonde mussten im Winter 47 zum Arbeitseinsatz ins Haafterveen. Die vielen Monate, in denen sie unter erbärmlichen Bedingungen Bäume pflanzten, lösten bei den Zwangsarbeitern einen tiefen Hass gegen alles aus, was mit Innenpolitik zu tun hatte. 1948 stimmte halb Ijsselmonde für die Kommunisten, sodass sich zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte die vierundzwanzig Glaubensgemeinschaften zu einem Bund zusammenschlossen, um die verlorenen Schafe wieder in den Schoß der Kirche zurückzuholen. Später legte sich der Hass, doch die Aversion gegen das Haafterveen blieb. Förster Jan van Dijk stand wenig Geld zur Unterhaltung des Waldes zur Verfügung, doch die angenehme Kehrseite war, dass er sein Reich nur mit einigen wenigen Wanderern und Fahrradfahrern teilte und niemand sich in seine Angelegenheiten einmischte.

»Wie hieß der zweite Aufseher?«, fragte Mirjam.

»Kuik.«

»Lebt er noch?«

»Ja, er ist in einem Pflegeheim.«

In der Nähe schrie eine Eule. Mirjam schaute dem Schatten nach, der geräuschlos vorbeiflog. »Was war das?«

»Eine Eule«, antwortete Schilder erstaunt. »Du weiß doch, wie eine Eule aussieht?«

»Nicht nachts«, erwiderte Mirjam.

Schilder lächelte. »Nachts sieht alles anders aus«, gab er zu. Er betrachtete die reglosen Gestalten der Bäume. »Wie Riesen. Man kann sich vorstellen, dass die Leute sich früher im Wald gefürchtet haben. Vor allem nachts.«

»Ich bin froh, dass wir zu zweit sind«, sagte Mirjam.

»Ich auch«, sagte Schilder. »Glaubst du, er wurde hier ermordet?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Auch deshalb wollte ich die Nacht hier verbringen.«

»Versuchst du, dich in den Mörder hineinzuversetzen?«

»Bei Mord fragt man sich immer nach dem Motiv und manchmal funktioniert das besser am Tatort. Der Kopf dieses Jungen wurde vor zwei Nächten hier in diesem Loch vergraben. Dort, nur ein paar Meter von uns entfernt. Was ist da geschehen?«

»Bei Antillianern weiß man nie.«

»Was hat sein Tod damit zu tun, dass er Antillianer war?«

»Alles«, antwortete Schilder heftig. »Sie dealen, ihre Frauen prostituieren sich, ihre Kinder klauen, und wenn sich jemand beschwert, kriegt er ein paar aufs Maul.«

»Ijsselmonder Differenzierungen«, meinte Mirjam sarkastisch. »Das hätte ich nicht von dir gedacht, Roelof.«

»Es ist doch so«, sagte Schilder. »Meine Eltern leben in der Nieuwstraat, und jedes Mal wenn ich sie besuche, bin ich froh, dass ich nicht mehr dort wohne.«

»Wohnen deine Eltern auch nicht mehr gern dort?«

»Sie haben ihr Häuschen vor zehn Jahren gekauft. Was sollen sie machen? Wegen dieser Schwarzen in der Straße werden sie es nie wieder los. Meine Mutter will auch gar nicht mehr weg. Sie hat ihr ganzes Leben dort verbracht.«

»Ein Grund mehr, umzuziehen«, entgegnete Mirjam. »So schlimm kann es doch nicht sein. Der Streit zwischen den Antillianern und der Nachbarschaft wurde doch beigelegt?«

»Vergiss es! Der schlimmste Krach ist vorbei, aber ansonsten läuft alles weiter wie gewohnt.«

»Die Nachbarn wollen sie also loswerden.«

»Ja.«

»Und Ronnie van Splunter? Was war das für ein Typ?«

»Weiß ich nicht«, antwortete Schilder widerstrebend. »Ich kannte ihn nicht. Wir kennen im Grunde keinen von denen so richtig. Die bleiben lieber unter sich.«

»Wir werden sie auf seinen Tod reagieren, was meinst du?«

»Mit einem verdammten Aufstand«, antwortete Schilder grimmig.

»Wie, glaubst du, fühlen sich seine Eltern?«

»Das hat hiermit doch einen Dreck zu tun, Brigadier! Natürlich ist es schlimm für die Eltern! Stell dir mal vor, dein Sohn würde so gefunden. Aber trotzdem heißt das nicht, dass ...«

»Ja?«

Schilder zögerte. »Dass es nicht einen verdammt guten Grund dafür gegeben haben muss, dem Kerl den Kopf abzuhacken.«

»Streit wegen eines missglückten Deals? Oder Streit, weil die Musik zu laut war?«

Schilder schaute sie perplex an. »Du glaubst doch wohl nicht, dass einer von den Nachbarn es getan hat!«

»Wenn ich dich so höre, gibt es Motive genug.«

»Lächerlich! Du wirst doch nicht etwa mit diesem Unsinn zum Inspecteur rennen?«

»Weiß ich noch nicht.«

Schilder sah ihre Zähne im Mondlicht glänzen. Lachte sie ihn jetzt etwa aus?

»Die Leute hier tun so etwas nicht. Streitigkeiten unter Nachbarn, ja. Hin und wieder eine Kneipenschlägerei. Aber Mord?« Schilder schüttelte den Kopf. »Niemals!«

»In Ijsselmonde hat es noch nie einen Mord gegeben?«

»Doch, schon. Aber keinen von diesen komplizierten.«

»Keine abgetrennten Köpfe und so?«

»Nein. Weißt du, woran das liegt? Wir sind zu dumm dazu.«

Mirjam lachte. »Das nenne ich ein wissenschaftliches Argument.«

Am Ende des Weges tauchte ein Auto auf. Mirjam und Schilder liefen zum Waldrand und zogen ihre Pistolen. Das Auto hielt neben dem Bus an. Van Arkel stieg aus, eine Thermoskanne und drei Plastikbecher in den Händen.

»Sie hätten uns vorher Bescheid sagen können«, meinte Schilder.

»Hätte ich«, antwortete van Arkel. »Hab ich aber nicht. Tut mir Leid. Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

»Eine Eule«, sagte Mirjam. »Und ein Vorgesetzter, der Kaffee vorbeibringt.«

Van Arkel lachte. »Zum Nachtdienst gehört Kaffee. Halt mal. Die Zuckertütchen sind in meiner Jackentasche.«

Mirjam wärmte ihre Hände an dem Becher. »Warst du bei der Familie?«

»Ja. Ein Drama«, sagte van Arkel. Er hatte mit allem gerechnet im Hause van Splunter: Hass, Wut und lautstarke Kundgebungen der Trauer, doch die beherrschte, würdevolle Reaktion von Ronnies Mutter hatte ihn überrascht. Als habe sie den Tod erwartet.

»Es ist auch ein Drama«, sagte Mirjam. »Für uns ist es ein Fall, aber für die Eltern ... Stell dir vor, du müsstest den Kopf deines Sohnes identifizieren!«

Die Eule schwebte über den Waldrand hinweg. Mirjam griff van Arkel am Arm.

»Da ist sie wieder!«

Van Arkel richtete den Blick auf den lautlosen Schatten. »Ich wusste gar nicht, dass die Viecher so leise fliegen können.«

Mirjam schaute der Eule nach, die im Wipfel einer Rottanne verschwand. Sie füllte die Becher nach und fragte: »Habt ihr schon beschlossen, wie es weitergeht?«

»Du, Haydar und ich führen die Ermittlungen durch. Vermeer hält im Büro die Stellung. Der Staatsanwalt lässt uns freie Hand.«

»Willst du keine Sonderkommission einrichten?«

»Vorläufig nicht. Wir werden von einem Experten vom Zentralen Geheimdienst der Kriminalpolizei, dem CRI, unterstützt.«

»Sind keine Ordnungspolizisten dabei?«, fragte Schilder.

»Doch, natürlich. Morgen früh um sechs werdet ihr abgelöst.«

Schilder spielte mit seinem leeren Becher. »Kann ich nicht mitmachen, Inspecteur?«

»Warum möchtest du das?«

Schilder steckte den Becher in die Tasche seiner Uniformjacke. »Scheint mir interessant«, erklärte er ungeschickt.

»Ein Mordfall bedeutet knallharte Arbeit, wenn nötig sieben Tage die Woche. Bist du dazu bereit?«

»Ja.«

Van Arkel schaute ihn forschend an. »Ich bespreche das morgen mit Vermeer. Wenn er dich im normalen Dienst entbehren kann, bist du dabei. Vorausgesetzt, die anderen Teammitglieder sind damit einverstanden.«

Schilder schaute Mirjam an. »Brigadier?«

»Wie könnte ich jemanden ablehnen, mit dem ich Nachtdienst schiebe?«, antwortete Mirjam. »Weißt du, was das Gute daran ist, wenn du demnächst auch Brigadier bist?«

»Ja?« Schilder sah ihre Augen im Mondlicht funkeln und fragte sich, ob sie einen Freund hatte. Dumm, dass er das nicht wusste.

»Dann brauchst du nicht mehr zu fragen, ob du mitmachen kannst«, sagte sie. »Dann wirst du einfach eingeteilt.«

Schilder sah, wie sie ihren Vorgesetzten anschaute, und auf einmal begriff er. Mirjam war in van Arkel verliebt.

»Deine Eltern wohnen doch in der Nieuwstraat«, sagte van Arkel. »Kennst du die Gegend?«

»Früher schon«, antwortete Schilder. »Jetzt schaue ich nur noch ein paarmal die Woche vorbei.«

»Haben deine Eltern Kontakt zu ihren antillischen Nachbarn?«

»Kaum.«

»Andere Nachbarn?«

»Auch nicht.«

»Die Antillianer leben also wirklich ganz für sich.«

»Inzwischen schon«, sagte Schilder. »Früher herrschte Kriegszustand.«

»Wegen des Krachs?«

»Ja ...« Schilder zögerte.

»Weshalb sonst noch?«

»Ihre Arroganz. Sie benehmen sich, als wären sie das auserwählte Volk.«

»Auserwählte Völker nehmen ein schlimmes Ende«, sagte Mirjam.

Van Arkel schaute sie an. Der Tod des Jungen ging ihr nahe. Sie hielt eine Art Totenwache ab. Prima. Abstand war gut, Betroffenheit besser. Es erweckte den Toten nicht wieder zum Leben, führte einen aber manchmal zu dem Mörder.

Andrea hatte einen Schädelbasisbruch und einen Schock, als sie eine Stunde nach ihrem Selbstmordversuch in die Poliklinik eingeliefert wurde, jedoch kein Gehirntrauma, wie der Dienst habende Internist befürchtet hatte, als er sie wie ein Häufchen Elend auf der Krankenbahre liegen sah.

»Was ist passiert?«, fragte er den Mann, der hinter der Bahre herging.

»Sie ist die Treppe runtergefallen.«

»Einfach so?«

»Sie musste aufs Klo und ist im Dunkeln gestolpert.«

»Sind Sie der Vater?«

»Ihr Vormund.«

»Hat sie keine Eltern?«

»Nein«, sagte der Mann. »Ihre Eltern sind tot.«

»Sind Sie ihr einziger Erziehungsberechtigter?«

Der Mann nickte. »Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben.«

»Hat sie Angst im Dunkeln?«, fragte der Internist.

»Davon habe ich nie etwas gemerkt.«

»Bis jetzt«, sagte der Internist und schaute dem Mann geradeheraus ins Gesicht.

»Stimmt.«

»Bleiben Sie hier?«

»Nein. Ihr jüngerer Bruder wartet zu Hause.«

Der Internist untersuchte Andrea noch sorgfältiger als seine übrigen Patienten. Kinder fallen nicht einfach so von der Treppe, gewiss nicht mitten in der Nacht. Er entdeckte Sperma in ihrem After. Am nächsten Morgen sprach er mit ihrem Hausarzt, der keinen Verdacht auf Missbrauch hegte, jedoch zugab, dass der Onkel ein merkwürdiger Sonderling war: im Grunde nicht der ideale Vormund für zwei Waisenkinder. Das fand auch das Jugendamt, aber Bertus Kuik war der einzige direkte Verwandte, der sich bereit erklärt hatte, die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern aufzunehmen.

Der Internist besprach die Sache mit Commissaris Klein, der gerade erst seinen Dienst in Ijsselmonde angetreten hatte. Klein beschloss, die Ermittlungen persönlich durchzuführen. Er redete mit dem Onkel und dem Mädchen, doch Kuik leugnete alles und Andrea schwieg, als habe sie plötzlich die Sprache verloren.

Der Internist behielt sie zwei Wochen länger im Krankenhaus als unbedingt nötig. Sie sprach wieder, lachte sogar und überraschte ihn mit ihrer Intelligenz und ihrem Durchsetzungsvermögen. Er ließ sie Kraftübungen durchführen. Andrea trainierte wie besessen.

Schließlich kehrte sie nach Hause zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, solange der Täter nicht gestand und das Opfer schwieg. Aber so leicht würde es nicht noch einmal geschehen, dachte der Internist, als Andrea ihn zum Abschied umarmte. Sie war muskulös wie eine Athletin und in ihren Augen lag ein Blick, wie er ihn noch nie bei einem Kind gesehen hatte: Hass und unverhohlene Rachsucht.

Der Kopf von Ijsselmonde

Подняться наверх