Читать книгу Der Kopf von Ijsselmonde - Jacob Vis - Страница 7
4
ОглавлениеRonnies Kopf stand in der Pathologie auf dem Seziertisch des Rechtsmediziners. Der Schädel war auf der Rückseite mit groben Stichen zusammengenäht worden. Unten am Hals hing ein kleiner Faden. Der Assistent schnitt ihn ab. Van Arkel blickte den Pathologen an. Doktor Jansen war groß und mager und hatte eine auffallend spitze Nase. Seine Finger waren braun verfärbt vom Nikotin.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte van Arkel.
Jansen zeigte auf die Bisswunde in Ronnies Wange. »Sie dachten, das wäre ein Fuchs gewesen, nicht wahr?«
»Stimmt.«
Jansen warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Der Biss stammt von einem Menschen.«
Van Arkel schaute sich entgeistert die Wunde an. »Aber wie kann jemand ein Stück aus einer Wange herausbeißen?«
»Wenn man seine Zähne gut pflegt«, meinte der Assistent.
»Ich meine natürlich: Warum würde jemand so etwas tun?«, sagte van Arkel.
»Diese Frage müssen Sie klären«, sagte Jansen. »Aber wir haben etwas gefunden, was Ihnen vielleicht weiterhilft.« Er blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Im Gehirn befinden sich Spuren von Muskarin und Ibotensäure. Die Konzentrationen, die wir festgestellt haben, weisen auf den regelmäßigen Konsum von Amanita muscaria hin.«
»Narrenschwamm«, sagte der Assistent.
Jansen schaute ihn böse an und ergänzte: »Der gewöhnliche Fliegenpilz.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er Fliegenpilze gegessen hat? Die sind doch giftig!«
»Nicht wenn man sie in Maßen konsumiert. Amanita wird seit Jahrhunderten als Droge gebraucht.«
»Und was hat die Tatsache, dass er Fliegenpilze gegessen hat, mit der Wunde zu tun?«
»Ein Effekt soll darin bestehen, dass man vorübergehend außergewöhnliche Kräfte entwickelt. Obwohl Wissenschaftler dies bezweifeln. Man hat es nie nachgeprüft, aber wenn man das da sieht, könnte es vielleicht tatsächlich stimmen.«
»Stark genug, um jemandem ein Stück aus der Wange herauszubeißen?«, fragte van Arkel.
»Oder einen Menschen mit einem Schlag zu enthaupten«, sagte der Assistent. »Eine so glatte Schnittwunde sieht man nicht alle Tage. Meistens sind sie an den Rändern ausgefranst. Soll ich ihn noch ein bisschen herrichten, bevor wir ihn freigeben?«
Jansen nickte. »Tu das. Kommen Sie kurz mit mir, Inspecteur. Ich habe ein wenig Literatur über den Gebrauch von Amanita als Droge. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen.«
Eine Stunde später liefen Mirjam und van Arkel durch die Nieuwstraat. Die meisten Häuser waren niedrig, hatten schmale Türen und kleine quadratische Fenster. Die Antillianer hatten ihre Fenster mit fröhlich bunten Blumenkästen geschmückt, eine erfrischende Abwechslung zu den holländischen Häuschen. Ronnies Familie wohnte in Nummer sechzehn. In die Haustür war eine Katzenklappe eingebaut. Mirjam klingelte und eine hübsche junge Frau öffnete die Tür.
»Polizei«, sagte van Arkel. »Dürfen wir hereinkommen?«
Die junge Frau ließ sie ein. Oben spielte jemand Gitarre. Auf der Treppe saß eine graue Katze, die durch die Klappe nach draußen schlüpfte. Theresa van Splunter erschien in der Tür. Van Arkel reichte ihr die Hand und stellte Mirjam vor. Theresa deutete auf die junge Frau.
»Meine Tochter Carmen.«
Am Fenster saß eine alte Frau in einem Korbsessel. Carmen flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die alte Frau stand auf. Carmen brachte sie an die Treppe und rief etwas hinauf, woraufhin das Gitarrenspiel verstummte.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Theresa. Mirjam und van Arkel setzten sich nebeneinander auf das schmale Sofa. Van Arkel fragte sich, wie vier Personen in einem so kleinen Haus wohnen konnten. Theresa erwartete gelassen seine Fragen. Die Kinder ähnelten einander: dieselben regelmäßigen Züge und dieselben braunen mandelförmigen Augen. Carmen erinnerte van Arkel an seine Frau, obwohl Rita blond und vom nordischen Typus war. Königinnen. Sie brauchten nur mit den Fingern zu schnippen. Kein Wunder, dass Haydar der Versuchung erlegen war.
»Wir möchten gern mehr über Ronnie wissen«, sagte er. »Was er so machte, wer seine Freunde waren, ob er Feinde hatte. Alles, was uns einen Eindruck von ihm verschaffen kann.«
»Er war oft weg.«
»Wo?«
»In Amsterdam.«
»Wo war er letztes Wochenende?«
»Wieder in Amsterdam.«
»Und in Zandvoort«, fügte Carmen hinzu. »Wenn er in Amsterdam war, fuhr er auch immer zur Rennstrecke. Nur zum Zuschauen. Er hat auch manchmal in den Boxen ausgeholfen.«
»Hatte er Geld?«, fragte Mirjam.
»Nein«, antwortete Theresa. »Und wenn er Geld hatte, gab er es aus.«
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte van Arkel. »Aber wie leben Sie hier eigentlich so als Familie?«
»Wahnsinnig gemütlich«, sagte Theresa trocken.
Van Arkel lächelte. »Ich meine, wie geht es Ihnen finanziell?«
»Meine Mutter und ich, wir beziehen beide eine Witwenrente. Carmen arbeitet für eine Zeitarbeitsfirma und Ronnie erhielt Sozialhilfe.«
»Dann haben Sie zusammen ein gutes Auskommen.«
»Carmen hat mittlerweile eine eigene Wohnung. Wir kommen zurecht.«
Sie redet, als sei gar nichts geschehen, dachte van Arkel. Heute Nacht hatte sie Trauer gezeigt, auf eine beeindruckende Weise. Jetzt schien es, als habe sie ihren Kummer überwunden. Carmen wirkte ebenso beherrscht. Als sprächen sie über eine Person, zu der sie nicht mehr als oberflächlichen Kontakt gehabt hatten.
»Wer könnte es getan haben?«
»Keine Ahnung«, sagte Theresa.
»Sie auch nicht?«
»Nein«, antwortete Carmen.
»Aber Sie haben darüber nachgedacht?«
»Ich habe über nichts anderes nachgedacht«, sagte Theresa tonlos.
»Hat Ihr Sohn Drogen genommen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wir haben Hinweise darauf, dass er Drogen in ungewöhnlicher Form konsumierte.«
Theresa blickte ihn schweigend an.
»Fliegenpilze«, erklärte van Arkel.
»Lächerlich!«, erwiderte Theresa. Carmen sagte nichts und schaute van Arkel mit grimmiger Miene an. Gut, dass er die Fragen stellt, dachte Mirjam.
»Da ist noch etwas. Die Bisswunde in seiner Wange stammt von einem Menschen.«
»Nein!« Theresa riss entsetzt die Augen auf. Carmen griff nach ihrer Hand. »Bitte gehen Sie jetzt«, sagte Theresa.
»Tun Sie, worum Mutter Sie bittet«, sagte Carmen. »Vielleicht können Sie später wiederkommen.« Theresa starrte ins Leere. Carmen wies mit einer Geste zur Tür.
»Ihnen ist doch klar, dass wir alle dasselbe wollen?«, fragte van Arkel.
»Ja«, sagte Carmen. »Ich bringe Sie zur Tür.«
»Das war nicht gerade berühmt«, bemerkte Mirjam, als sie kurz darauf wieder die Straße entlanggingen.
»Stimmt«, gab van Arkel zu.
Auf einem kleinen Platz spielten ein paar dunkelhäutige Jungen Fußball. Einer von ihnen hielt mit der Routine eines Elfjährigen, der weiß, dass er die Aufmerksamkeit des Publikums fesselt, den Ball hoch in der Luft. Die anderen schauten bewundernd zu, als er ihn danach vom Kopf auf das Knie und von da auf den Innenfußknöchel jonglierte.
Romario ließ den Ball fallen. Van Arkel nahm ihn mit dem Fuß auf, balancierte ihn einige Sekunden auf dem Fußgelenk und trat ihn mit voller Wucht hoch in die Luft. Die Jungen schauten dem Ball nach, wie er für einen Moment über den Häusern schwebte. Van Arkel fing ihn mit dem anderen Fuß auf und kickte ihn hinüber zu dem wartenden Grüppchen. Der junge Ballkünstler lachte und rief: »Okay, Mann!«
»Ich dachte, du würdest Judo trainieren«, sagte Mirjam.
»Stimmt auch. Vom Fußballspielen verstehe ich nichts, ich kann nur den Ball geradeaus hochschießen.«
»So spielt mein Vater Klavier«, sagte Mirjam. »Er kann nur die ersten Takte der Dritten von Beethoven, aber die spielt er perfekt. Wenn er ein Klavier entdeckt, klimpert er seine Melodie, und alle denken, er wäre ein richtiger Künstler.«
Van Arkel lachte. »Was treibt er sonst noch so?«
»Er übt jetzt die Fünfte.«
»Hat er die Vierte übersprungen?«
»Die ist zu schwierig. Die kann man nur spielen, wenn man den perfekten Anschlag hat.«
»Was für ein Mann.«
Sie gingen hintereinander her durch eine nur meterbreite Gasse. Sie mündete in der Einkaufsstraße, die durch den alten Teil der Stadt verlief. Van Arkel zeigte auf das Durchfahrt verboten-Schild am Eingang der Gasse und bemerkte: »Das müssen wir mal abmontieren.«
»Ja, Chef.«
Das Glockenspiel bimmelte eine Melodie. »Halb eins«, sagte er. »Kommst du mit zum Essen?«
»Nein«, sagte Mirjam. »Ich habe keinen Hunger. Ich gehe ein Stück spazieren.«
Van Arkel schaute sie an. »Geht es dir gut?«
Mirjam lachte. »Prima. Fasten schärft den Geist. Guten Appetit.«
Van Arkel bog in die Voorstraat ein. Mit Wohlgefallen betrachtete er sein Haus, die Hälfte einer Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert. In der anderen Hälfte wohnte ein pensionierter Kapitän. Von der Vorderseite aus blickte man über die Ijssel, die Rückseite lag an der Voorstraat: eine nüchterne weiße Fassade mit hohen Fenstern. Einige Steinstufen führten hinauf zu einer grünen Tür. Neben der Treppe befanden sich die Fenster von Ritas Atelier im Souterrain.
Rita arbeitete an dem Tonmodell eines Jungenkopfes. Van Arkel blieb an der offenen Tür stehen und schaute seine Frau an. Sie hob den Blick und lächelte.
»Hallo, Ben.«
»Hallo, Rita.«
Rita blies sich eine Locke aus dem Gesicht. »Steck mir mal meine Haare fest«, bat sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Van Arkel befestigte die lose Strähne mit einer Klammer. Er liebte es, ihr beim Arbeiten zuzusehen, ein Privileg, das sie nur ihm und ihrem Sohn Ben zugestand.
»Wo ist Ben?«, fragte er.
»Oben.«
Sie widmete sich ihrer Arbeit wieder in jener konzentrierten Haltung, die eine Fortsetzung des Gesprächs nutzlos machte. Van Arkel ging nach oben und begrüßte seinen Sohn. Ben war ein ruhiges Kind. Zu ruhig, fand van Arkel manchmal, wenn er an seine eigene Jugend dachte.
»Was hast du heute Morgen so gemacht?«, fragte er.
»Nichts«, murmelte Ben.
»Bisschen wenig«, meinte van Arkel. Er kam sich wie ein Idiot vor. Er beneidete Rita darum, wie mühelos sie mit dem Jungen umging. Als das Kind geboren wurde, hatte er allerlei romantische Vorstellungen gehegt. Er würde mit ihm angeln gehen, sie würden zusammen zelten und Sport treiben. Daraus war wenig geworden, aber Vater und Sohn waren Freunde. Vor einem Jahr war die Vertrautheit plötzlich gewichen, und van Arkel beschlich zunehmend das Gefühl, für seinen Sohn ein Fremder zu sein. Rita meinte, er solle sich keine Sorgen machen, doch van Arkel erinnerte sich an seine eigene Kindheit und sah ein, dass er die Welt seines Sohnes ebenso wenig verstehen würde, wie sein Vater die seine verstanden hatte.
Vor dem Haus wurde gehupt. Ben sprang auf. Van Arkel schaute ihm nach, wie er durch den Vorgarten rannte. Bevor er einstieg, schaute er hoch und winkte. Van Arkel winkte zurück.
Rita trug das Tonmodell von Bens Kopf auf einem Brett herein und stellte es auf die Fensterbank. »Hast du schon Kaffee aufgesetzt?«, fragte sie.
»Nein.«
»Hast du was, Ben?«
»Ach ... heute Morgen ist etwas Dummes passiert. Und ich habe das Gefühl, dass Ben vor mir wegläuft.«
»Er kommt in die Pubertät«, erwiderte Rita. »Setz dich. Ich koche uns Kaffee.«
Van Arkel setzte sich in die Fensternische und blickte über den Fluss. Seine Mutter hatte ihm ein flaches Kissen genäht. Es war fast durchgesessen, aber sie hatte es trotz ihrer schwachen Augen mühsam bestickt, und er hatte sich vorgenommen, es zu benutzen, bis die Füllung zu Staub zerfallen war.
»Was ist geschehen?«, fragte Rita.
»Ich habe erzählt, was der Pathologe über die Bisswunde in Ronnies Wange gesagt hat, eigentlich um eine Reaktion zu provozieren, und daraufhin haben sie uns rausgeworfen.«
»Also haben sie darauf reagiert.«
»Ja. Ein blödes Gefühl.«
»Was war mit dieser Bisswunde? Du sagtest, sie sei von einem Fuchs gewesen.«
»Jansen behauptet, es war ein Mensch.«
Rita sah ihn schockiert an. »Kein Wunder, dass sie dich rausgeschmissen haben!«
»Ihr tut ja, als ob ich ein Monster wäre. Wenn es bei diesem Biss in die Wange geblieben wäre, würde er jetzt noch leben. Niemand regt sich darüber auf, dass sein Kopf abgetrennt wurde!«
Rita ging zu dem Modell des Jungenkopfes und biss ein Stück aus der linken Wange. Sie nahm den Ton aus dem Mund und klebte ihn auf das Brett. Van Arkel schaute entsetzt zu. Jetzt konnte er sich den Hergang vorstellen.
»So geht das«, murmelte er.
»So geht das, Ben«, wiederholte Rita. »Schenk mir eine Tasse Kaffee ein, ich habe einen ekligen Geschmack im Mund.«
Commissaris Klein schickte Adjutant Oudshoorn und Opperwachtmeester Dijkstra zu Andreas Onkel, um auf die Anzeige der Nachbarin hin zu ermitteln. Sie waren seine ältesten Fahnder und eine derart heikle Sache erforderte ein diskretes Vorgehen.
Adjutant Oudshoorn war Mitglied derselben Kirchengemeinde wie Andreas Onkel. Er konfrontierte seinen Gemeindebruder ohne Umschweife mit der Anschuldigung seiner Nachbarin. Andreas Onkel stritt das ab. Eine lächerliche Geschichte, sagte er, die auf Animositäten dieser Frau beruhe, welche auf sein Haus neidisch sei und, wer weiß, noch auf andere Dinge, die er nicht nennen wolle, um sich nicht mit der Klägerin auf eine Stufe zu stellen. Das Gespräch, das nach und nach ins Stocken geriet, erhielt eine neue unbehagliche Note, als Andrea hereinkam und schweigend die drei Männer anstarrte, mit dem Gesicht eines Kindes und den Augen einer Erwachsenen. Sie drehte sich um und lief die Treppe hinauf. Ihr Onkel und der Adjutant schauten sich an. Die Ermittler standen auf, baten Andreas Onkel, sie mit dem Mädchen allein zu lassen, und gingen nacheinander hinauf.
Da war nichts, sagten sie später. Vielleicht hatte das Mädchen schlecht geträumt. Sie konnte sich, wie das mit Albträumen so ging, überhaupt nicht an die bewusste Nacht erinnern.
Klein hörte sich ihren Bericht an. Als sie weg waren, las er das Protokoll und dachte an seine eigenen Ermittlungen vor einem Jahr. Damals hatte er einen Verdacht, weil die Erklärungen von Andrea und ihrem Onkel nicht mit der Entdeckung des Internisten übereinstimmten und vielleicht etwas zu nachdrücklich waren, um glaubwürdig zu klingen. Doch die Untersuchung der beiden erfahrenen Polizeibeamten ließen keinen Raum für Zweifel. Obwohl Klein die ganze Nacht über die klaren Aussagen seiner ältesten Mitarbeiter einerseits und sein ungutes Gefühl andererseits nachdachte, beschloss er, die Akte Andrea Kuik zu schließen.