Читать книгу Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby - Страница 5
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ОглавлениеIch befreie mich aus dem beengenden Anzug und ziehe mir stattdessen Jeans und ein kurzärmeliges Hemd an, entferne kleine Steinchen und Erde von der Hautabschürfung an meinem Arm, betupfe die Wunde mit lauwarmem Wasser und lasse sie an der Luft trocknen. Es gibt Überlebende, sagen sie im Fernsehen, aber nicht in dem Teil des Hotels, in dem Kassandra gearbeitet hat. Alle Fernsehkanäle zeigen die gleichen, vom Helikopter aufgenommen Bilder des siebzig Meter hohen intakten Gebäudes, das verschont geblieben ist, da anscheinend mehrere Sprengladungen nicht wie geplant gezündet haben, und zoomen die Stelle heran, wo das flachere Nebengebäude mit Konferenzräumen, Büros und Rundfunkstudios gestanden hatte. Es hat sich in einen Berg aus verbogenem Stahl und rauchenden Mauerbrocken verwandelt.
Ein Sprecher erzählt mit schriller Stimme die Geschichte vom Terror in Dänemark, der seinen Anfang nahm, als eine Tageszeitung Karikaturen des Propheten der Muslime veröffentlicht hatte. Dadurch hatte sich Dänemark in der muslimischen Welt unbeliebt gemacht und war für militante Muslims zum Ziel des Terrors geworden. Seitdem haben die dänischen Geheimdienste eine der Öffentlichkeit nicht bekannte Zahl von Terrorangriffen abgewehrt, aber heute war es schief gegangen. Ein Universitätsprofessor stellt fest, dass das Hotel Danmark vermutlich deshalb zum Ziel gewählt wurde, weil die Sicherheitsmaßnahmen begrenzt gewesen waren, und die Terroristen viele Menschen auf einmal treffen konnten. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es sich um eine Selbstmordaktion handelt, sondern dass die Sprengung mit Hilfe eines Handys ferngesteuert wurde. Ich schalte um auf CNN, wo man ebenfalls live vom Ort des Geschehens berichtet.
„Dänemark – Hans Christian Andersens idyllisches Märchenland in Skandinavien – wurde heute morgen kurz vor neun Uhr Ortszeit von dem schlimmsten Terroranschlag gegen ein westliches Land seit Nine Eleven getroffen. Ein für alle Mal hat menschliche Brutalität den rosafarbenen Firnis und die romantische Unschuld von diesem kleinen Königreich abgeschlagen, das wie die anderen skandinavischen Länder bisher im großen und ganzen von den Grausamkeiten verschont geblieben war, die den Alltag der übrigen Welt schon lange prägen.“
Ich drehe den Ton leiser, als das Telefon läutet. Es ist Donald, mein direkter Vorgesetzter im Außenministerium, der fragt, wo ich bleibe. Es sei Krisensitzung in der Antiterroreinheit.
„Das Land befindet sich in der ernstesten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg, und du machst frei. Ich erwarte, dich in einer halben Stunde zu sehen.“ Der Hörer wird aufgelegt.
Ich habe ihm kürzlich erzählt, dass Kassandra nach einer Reihe von Jahren als Produktionsleiterin schließlich ihre eigene Rundfunksendung bekommen hat, und dass diese von den Studios im Hotel Danmark aus gesendet wird, aber er kann natürlich nicht wissen, ob sie im Moment der Sprengung an ihrem Arbeitsplatz war. Donald ist kein Typ für Small Talk. Er hat es durch das Nadelöhr geschafft und kann sich ‚Vortragender Legationsrat Erster Klasse’ nennen; er kann seinen Botschafterposten bereits riechen, und nichts soll dazwischenkommen.
Aber ich gehe nicht zur Arbeit, ich fahre mit den Zwillingen zum Rigshospital, dem Zentralkrankenhaus. Dort hat man im Erdgeschoss ein Krisenzentrum eingerichtet, mit kleinen, durch Vorhänge abgeschirmten Boxen, mit jeweils einem Schreibtisch und zwei Stühlen, und wir bekommen einen Krisenpsychologen zugeteilt. Ich sage nichts, jetzt geht es erst um die mentale Wiederherstellung der beiden Jungen, und ich lausche ihren tränenerstickten Fragen und Gefühlsentladungen und den wohlgemeinten Ratschlägen des Psychologen, und das Ganze verschmilzt zu brummenden, gellenden, flüsternden, zischenden, schreienden Stimmen, bis mir plötzlich klar ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, dass Kassandra tot ist, und dass sie die Konsequenzen nicht überschauen können. Ich kann es auch nicht. Aber jetzt bin ich an der Reihe.
„Sie werden früher oder später in einen Zustand geraten, in dem Sie Zorn verspüren, wenn Sie an die Verstorbene denken. Das ist ganz natürlich, und es ist wichtig, dass Sie Ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Jegliche Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die weinen, schreien, schimpfen und über die Dinge sprechen, am besten durch die Krise kommen“, sagt der bärtige Mann, und ich versuche, seinen Blick hinter den verschmierten Brillengläsern aufzufangen. Ich bin dankbar, dass es Menschen wie ihn gibt, die Energie investieren, um anderen zu helfen. Er hätte ja auch Immobilienhai werden können, Börsenspekulant oder ein böswilliger Banker, den Blick starr auf nichts anderes als den jährlichen Bonus gerichtet, ein roher und rücksichtsloser Kapitalist. Der Blick des Psychologen flackert, die Situation zeigt Wirkung bei ihm, auch er hat Gefühle, selbst wenn er gelernt hat, sie zu kontrollieren, aber so viele Leben, die zu gleicher Zeit über dem Dunkel des Abgrunds hängen, bilden eine gewaltige Kraft, die selbst die solidesten Fundamente zum Bersten bringen können. Ich nicke schnell, will ihm sagen, dass mein Organismus von einer erdrückenden Zwangsjacke der Sinnlosigkeit umschlossen wird, aber die Worte verdorren in meinem Mund. Dann will ich ihm sagen, dass ich am meisten an Albert und Robert denke, die mitten im Abitur stehen und morgen ihre schriftliche Dänisch-Prüfung haben. Ich weiß nicht, ob sie das schaffen, oder ob ich veranlassen kann, dass ihre Prüfungen verschoben werden. Ihr Vater, Martin Fisch, muss wohl auch einbezogen werden. Ja, das ist der von der Dänemark-Partei, sie sehen ihn selten, und für die Jungen bin ich wohl mehr ihr Vater als er, aber trotzdem. Der Psychologe sieht mich fragend an. Martin Fisch wird viel zu tun bekommen. Egal wer hinter der Terroraktion steckt, sie wird noch stärkeren Hass gegen das Unbekannte hervorrufen, seine Sache wird explosionsartig Zuspruch erfahren, und Dänemark wird fremdenfeindlicher werden. Für Martin Fisch eine traumhafte Situation. Jetzt beuge ich mich über den Tisch.
„Muss ich ihre Leiche identifizieren?“
„Nach meinen Informationen befand sie sich unmittelbar über einer der Sprengladungen“, sagt der Psychologe so leise, dass ich mich anstrengen muss, ihn zu verstehen.
„Bedeutet das, dass es nichts zu identifizieren gibt?“
Er nickt schwach, nimmt die Brille ab und reibt sich die Augen.
Vor dem Fernsehbildschirm an der Wand im Foyer ist eine Menschenmenge zusammengeströmt. Die Hände der Jungen halten meine Unterarme fest umklammert. Einem Krankenträger gelingt es, den Ton lauter zu stellen, und wir bleiben stehen und hören dem Sprecher zu. Er berichtet, dass eine bislang unbekannte Terrorgruppe namens ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ auf einem Video, das den Nachrichtenagenturen zugespielt wurde, die Verantwortung für die Bombensprengung in Kopenhagen übernommen hat. Auf dem Bildschirm taucht ein Mann auf, das Gesicht mit einem Halstuch maskiert, und trägt seine Botschaft in perfektem Englisch vor.
Wir sind die von der Menschheit ausgesandten Krieger. Wir sind eure Brüder und Schwestern, wir leben unter euch, wir sprechen eure Sprache und arbeiten zusammen mit euch. Wir sind Menschen wie ihr, die sich über Grenzen der Religion und Politik hinweg zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus zusammengefunden haben, der unsere gemeinsame Erde unbewohnbar macht und einen wirtschaftlichen Morast geschaffen hat, der Millionen von Menschen aus Haus und Heim vertreibt. Die Aktion in Kopenhagen ist nur die erste von weiteren, die der globalen Krankheit ein Ende bereiten sollen, deren Symptome Egoismus und Materialismus auf Kosten der Gemeinschaft sind. Die Aktion in Kopenhagen hat zwölf einflussreiche Wirtschaftsbosse ausgelöscht, die im Hotel Danmark versammelt waren, um Pläne für die zukünftige Ausbeutung der armen Bevölkerungen in der Welt zu schmieden. Wir bedauern zutiefst die unschuldigen Opfer und trösten uns damit, dass sie in einem notwendigen Krieg gefallen sind.
Wir schieben die Fahrräder, als wir den Peblinge-See entlang gehen, und setzen uns dann auf eine Bank unter einem blühenden Kastanienbaum. Ich sitze zwischen den beiden und suche nach Worten. Normalerweise ist es Kassandra, die das Richtige sagt, und ich bin es dann, der es bestätigt. Ich wende mich Albert zu. Er ist eine identische Ausgabe von Robert, aber trotzdem ist er der Kleine, zehn Minuten später geboren.
„Ich zittere“, sagt er.
„Ich auch“, sagt Robert.
„Ich ebenfalls“, murmele ich.
Aber es sind nicht nur wir, die im Innern zittern, die Erde vibriert, und ich halte die Jungen fest an den Schultern gepackt, die Fahrräder fallen um, und am Weg nimmt eine junge Frau ihr Baby aus dem Kinderwagen, setzt sich auf den Boden und beugt sich über das Kind, während die Zweige des Kastanienbaumes über ihr schaukeln, und die Blüten sich lösen und wie Schnee herabfallen, und hinter uns schreit eine ältere Frau auf, als ihr der Rollator aus den Händen gleitet und sie auf die Knie fällt. Bevor ich reagieren kann, ist das Erdbeben vorbei.
Wir beeilen uns, nach Hause zu kommen, und schalten den Fernseher ein. Das bislang stärkste Erdbeben, das jemals in der Geschichte Dänemarks registriert wurde, hatte sein Epizentrum im Zentrum von Kopenhagen, nahe dem Hotel Danmark. Der Fernsehsender spricht mit einem Geologen, dessen Ansicht nach es einen Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und der Terrorbombe geben kann.
„Eine so starke Explosion kann die seismischen Kräfte in der Erdkruste beeinflussen und Erdbeben auslösen. Das hat man 1971 in der Wüste von Nevada gesehen, als ein atomarer Test dazu führte, dass sich auf einer Strecke von 1300 Metern eine Verwerfungszone öffnete. Die Wahrscheinlichkeit wächst mit der Sprengkraft der Bombe und der Tiefe, in der sie platziert ist. So weit ich weiß, war mindestens eine der Ladungen in Kopenhagen im Abwassersystem unter dem Hotel angebracht. Glücklicherweise sind die seismischen Aktivitäten in Dänemark gering. Hätte die Explosion am San Andreas-Graben in Kalifornien stattgefunden oder entlang der Küste Chiles, wage ich nicht an die Folgen zu denken“, sagt der Forscher und rückt seine Krawatte zurecht.
Die Moderatorin im Studio blickt mit einem verwirrten Gesichtsausdruck in die Kamera.
„Ich würde gern hören, zu welchem Beitrag wir jetzt kommen?“ sagt sie, streckt ihren Arm aus dem Bild und bekommt ein Stück Papier in die Hand gedrückt. „Wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass sich innerhalb weniger Minuten Terroraktionen in Amsterdam, Berlin, Madrid, Brüssel, Stockholm und Rom ereignet haben. Überall hatten die Terroristen es auf Firmensitze, Hotels und andere Gebäude abgesehen, wo viele Wirtschaftsleute versammelt sind und wo als Folge mit hohen Verlusten an Menschenleben zu rechnen ist. Laut unbestätigten Quellen hat die Terrororganisation ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Nach einer kurzen Pause sind wir gleich wieder zurück mit weiteren Nachrichten.“
„Was passiert da mit der Welt?“ Alberts Stimme zittert. Die Zwillinge sitzen wie zu Salzsäulen erstarrt auf dem Boden und starren mit ihren dunkelbraunen Augen auf den Bildschirm. „Bricht sie auseinander?“
„Hat er das nicht vorausgesehen, der Grieche Alexandros, der bei uns gewohnt hat?“ murmelt Robert.
„Natürlich bricht die Welt nicht auseinander. Denk doch, wie groß und solide sie ist. Das kann nicht passieren.“ Ich denke an Alexandros, der genau das Gegenteil gesagt hatte. Er meinte, die Auslöschung des Lebens, wie wir es kennen, sei eine Voraussetzung dafür, dass die Welt als Aufenthaltsort für Menschen fortbestehen könnte. Er hatte gesagt, dass Raumschiffe auf dem Weg hierher unterwegs wären, und dass diese Schiffe die Auserwählten mitnehmen würden, kurz bevor die Erde durch Naturkatastrophen und Kriege untergehen würde. Dann würde reiner Tisch gemacht, und die Auserwählten könnten von neuem beginnen und eine neue Welt aufbauen, mit anderen Werten als jenen, die heutzutage gelten. Er hatte so viel gesagt.
Ich betrachte die Zwillinge, die sich durch das Zimmer bewegen, jeder zieht seine Matratze hinter sich her, sie fragen, ob sie bei mir im Zimmer schlafen dürfen, und bevor ich antworten kann, haben sie die Matratzen neben mein Bett gelegt. Irgendwann schlafen sie ein. Und dann irgendwann später wachen wir auf und entdecken, dass wir nichts zu essen im Hause haben. Also nehmen wir das Auto und fahren zu einem Restaurant in Hellerup, essen dort Rührei mit Schinken und fahren danach über den Strandvej nach Bellevue. Wir parken dort, wo wir in alten Zeiten immer gehalten haben, und schauen auf die Schaum sprühenden Wellen, sprechen über den Vergnügungspark Dyrehavsbakken, wo wir nicht mehr gewesen sind, seit sie Kinder waren, und dass sie immer einen Hot Dog und ein Sprudelwasser bekommen haben. Wir stellen uns vor, wir gingen zweimal rund um den See drinnen im Dyrehavsbakken, unseren See. Wir sind fast dran, eine dritte Runde zu unternehmen, aber es bedarf der Einstimmigkeit, und Albert ist dagegen. Vom Restaurant aus hat man Aussicht auf den See, da sind wir seit der Konfirmation der Zwillinge nicht mehr gewesen. Wir bestellen eine Platte Smørrebrød, und die Kellnerin kann sich noch genau an das Fest erinnern, unser Fest. „Ausgezeichneter Redner, und Ihre Frau trug das wunderbarste Kleid“, sagt sie, und als sie sich in die Küche zurückgezogen hat, treffen sich unsere Blicke über den Tisch hinweg, und keiner kann sich überwinden, ‚Prost’ zu sagen, und dann fangen wir an zu weinen; es ist erst das zweite Mal, dass die Jungen Tränen in meinen Augen sehen, und sie studieren eingehend mein Gesicht, vergessen alles und weinen selbst weiter, und ich bin erleichtert, als wir wieder im Auto sind.
„Ich verstehe nicht, dass Mama nicht hier ist“, sagt Robert und sieht mich an. „Sie hätte da auf dem Sitz neben dir sitzen müssen.“
Wäre ich es, der nicht hier war, und wären die Jungen mit Kassandra zusammen und würden das Gleiche zu ihr sagen – sie würde genau wissen, mit welchen lindernden Worten sie die beiden trösten müsste. Das, was ich weiß, ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, und dass ich meinen besten Freund verloren habe, und keiner von uns weiß, ob wir ohne sie weiterleben können.
Robert sieht mich immer noch an.
„Überlegst du, was Mama sagen würde, wenn sie in deiner Lage wäre? – Sie würde sagen, du bist in einer parallelen Dimension und wirst immer bei uns sein, ganz gleich, ob wir dich sehen oder nicht.“